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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft.
der Ihrigen begangen hatte1). Martius bezeichnet diese Rechtssitte
als ein Gemeingut aller Eingebornen Brasiliens und gedenkt ihrer
auch bei den Macuschi und Arowaken Guayanas2). Unter den
Bewohnern der Fidschigruppe vererbte die Rache vom Vater auf
den Sohn und von diesem auf die nächsten Verwandten3). Die
günstigen Wirkungen dieser Schutzpflichten äussern sich auch, wenn
der strafende Arm nicht den Thäter selbst ereilt, sondern nur auf
einen fällt, der mit ihm in gleichem Racheverband steht.

Wunderlich mag es lauten, dass der Völkerkundige mit inniger
Freude der Ausbildung dieser Pflichtenlehre nachforscht, aber eine
Begebenheit, deren Schauplatz das nördliche Arabien ist, wird jedes
Befremden in Zustimmung verwandeln. Im Jahre 1863 wurde der
Italiener Guarmani vom Kaiser Napoleon III. nach dem Nedschd
geschickt um Edelrosse einzukaufen. Er zog am Beginn des März
1864 mit den Beni Ehtebe, einer Beduinenhorde umher, als diese
von ihrem Feinde dem Emir Abdallah Ibn Feisal ibn Sa 'ud ange-
griffen wurde. Der Kampf währte mehrere Tage, bis zuletzt den
Beni Ehtebe ein unerwarteter Helfer erschien, mit dem sie ihre
Gegner in die Flucht trieben. Zu den Hilfsvölkern des Emir ge-
hörten auch die Beni Kahtan, welche während der Gefechtstage
vom 9. bis 14. März beständig gegen die Beni Ehtebe geplänkelt,
aber zugleich in vorsichtiger Ferne sich gehalten hatten. Als die
Sieger den Walplatz musterten, fanden sie unter den Erschlagenen
nicht einen einzigen der Kinder Kahtan, welche übrigens die erste
schickliche Gelegenheit zur Flucht ergriffen hatten. Da das Gesetz der
Blutrache eine genaue Buchführung nicht blos über alle Tödtungen,
sondern auch über die Körperverletzungen erfordert, so war es
bedeutsam, dass andererseits keiner der Beni Ehtebe seine Ver-
wundung einem der Beni Kahtan zuschrieb4). Das Räthsel übrigens
war für die Beduinen leicht zu lösen. Die Kahtan-Horde hatte
mit den Ehtebe bisher in Frieden gelebt und nur gezwungen dem
Emir in den Kampf folgen müssen. Wie auf Verabredung war zwi-
schen diesen Stämmen nur zum Schein gefochten worden und wenn

1) Waitz, l. c. S. 744 ff.
2) Ethnographie. Bd. 1. S. 127. S. 650. S. 693.
3) H. Greffrath in Zeitschrift für Erdkunde. Berlin 1871. Bd. 6. S. 543.
4) Guarmani, Itineraire au Neged septentrional, im Bulletin de la Societe
de Geogr. Paris. Septbr. 1865. Veme Serie. tom. X. p. 283.

Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft.
der Ihrigen begangen hatte1). Martius bezeichnet diese Rechtssitte
als ein Gemeingut aller Eingebornen Brasiliens und gedenkt ihrer
auch bei den Macuschi und Arowaken Guayanas2). Unter den
Bewohnern der Fidschigruppe vererbte die Rache vom Vater auf
den Sohn und von diesem auf die nächsten Verwandten3). Die
günstigen Wirkungen dieser Schutzpflichten äussern sich auch, wenn
der strafende Arm nicht den Thäter selbst ereilt, sondern nur auf
einen fällt, der mit ihm in gleichem Racheverband steht.

Wunderlich mag es lauten, dass der Völkerkundige mit inniger
Freude der Ausbildung dieser Pflichtenlehre nachforscht, aber eine
Begebenheit, deren Schauplatz das nördliche Arabien ist, wird jedes
Befremden in Zustimmung verwandeln. Im Jahre 1863 wurde der
Italiener Guarmani vom Kaiser Napoleon III. nach dem Nedschd
geschickt um Edelrosse einzukaufen. Er zog am Beginn des März
1864 mit den Beni Ehtebe, einer Beduinenhorde umher, als diese
von ihrem Feinde dem Emir Abdallah Ibn Feisal ibn Sa ‘ud ange-
griffen wurde. Der Kampf währte mehrere Tage, bis zuletzt den
Beni Ehtebe ein unerwarteter Helfer erschien, mit dem sie ihre
Gegner in die Flucht trieben. Zu den Hilfsvölkern des Emir ge-
hörten auch die Beni Kahtan, welche während der Gefechtstage
vom 9. bis 14. März beständig gegen die Beni Ehtebe geplänkelt,
aber zugleich in vorsichtiger Ferne sich gehalten hatten. Als die
Sieger den Walplatz musterten, fanden sie unter den Erschlagenen
nicht einen einzigen der Kinder Kahtan, welche übrigens die erste
schickliche Gelegenheit zur Flucht ergriffen hatten. Da das Gesetz der
Blutrache eine genaue Buchführung nicht blos über alle Tödtungen,
sondern auch über die Körperverletzungen erfordert, so war es
bedeutsam, dass andererseits keiner der Beni Ehtebe seine Ver-
wundung einem der Beni Kahtan zuschrieb4). Das Räthsel übrigens
war für die Beduinen leicht zu lösen. Die Kahtan-Horde hatte
mit den Ehtebe bisher in Frieden gelebt und nur gezwungen dem
Emir in den Kampf folgen müssen. Wie auf Verabredung war zwi-
schen diesen Stämmen nur zum Schein gefochten worden und wenn

1) Waitz, l. c. S. 744 ff.
2) Ethnographie. Bd. 1. S. 127. S. 650. S. 693.
3) H. Greffrath in Zeitschrift für Erdkunde. Berlin 1871. Bd. 6. S. 543.
4) Guarmani, Itinéraire au Neged septentrional, im Bulletin de la Société
de Géogr. Paris. Septbr. 1865. Vème Série. tom. X. p. 283.
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[248/0266] Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft. der Ihrigen begangen hatte 1). Martius bezeichnet diese Rechtssitte als ein Gemeingut aller Eingebornen Brasiliens und gedenkt ihrer auch bei den Macuschi und Arowaken Guayanas 2). Unter den Bewohnern der Fidschigruppe vererbte die Rache vom Vater auf den Sohn und von diesem auf die nächsten Verwandten 3). Die günstigen Wirkungen dieser Schutzpflichten äussern sich auch, wenn der strafende Arm nicht den Thäter selbst ereilt, sondern nur auf einen fällt, der mit ihm in gleichem Racheverband steht. Wunderlich mag es lauten, dass der Völkerkundige mit inniger Freude der Ausbildung dieser Pflichtenlehre nachforscht, aber eine Begebenheit, deren Schauplatz das nördliche Arabien ist, wird jedes Befremden in Zustimmung verwandeln. Im Jahre 1863 wurde der Italiener Guarmani vom Kaiser Napoleon III. nach dem Nedschd geschickt um Edelrosse einzukaufen. Er zog am Beginn des März 1864 mit den Beni Ehtebe, einer Beduinenhorde umher, als diese von ihrem Feinde dem Emir Abdallah Ibn Feisal ibn Sa ‘ud ange- griffen wurde. Der Kampf währte mehrere Tage, bis zuletzt den Beni Ehtebe ein unerwarteter Helfer erschien, mit dem sie ihre Gegner in die Flucht trieben. Zu den Hilfsvölkern des Emir ge- hörten auch die Beni Kahtan, welche während der Gefechtstage vom 9. bis 14. März beständig gegen die Beni Ehtebe geplänkelt, aber zugleich in vorsichtiger Ferne sich gehalten hatten. Als die Sieger den Walplatz musterten, fanden sie unter den Erschlagenen nicht einen einzigen der Kinder Kahtan, welche übrigens die erste schickliche Gelegenheit zur Flucht ergriffen hatten. Da das Gesetz der Blutrache eine genaue Buchführung nicht blos über alle Tödtungen, sondern auch über die Körperverletzungen erfordert, so war es bedeutsam, dass andererseits keiner der Beni Ehtebe seine Ver- wundung einem der Beni Kahtan zuschrieb 4). Das Räthsel übrigens war für die Beduinen leicht zu lösen. Die Kahtan-Horde hatte mit den Ehtebe bisher in Frieden gelebt und nur gezwungen dem Emir in den Kampf folgen müssen. Wie auf Verabredung war zwi- schen diesen Stämmen nur zum Schein gefochten worden und wenn 1) Waitz, l. c. S. 744 ff. 2) Ethnographie. Bd. 1. S. 127. S. 650. S. 693. 3) H. Greffrath in Zeitschrift für Erdkunde. Berlin 1871. Bd. 6. S. 543. 4) Guarmani, Itinéraire au Neged septentrional, im Bulletin de la Société de Géogr. Paris. Septbr. 1865. Vème Série. tom. X. p. 283.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/266>, abgerufen am 27.04.2024.