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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Ehe und väterliche Gewalt.
werber sich entziehen dürfen1). Kennan, der einem ähnlichen
Hochzeitsspiele bei den Korjäken beiwohnte, überzeugt uns, dass
die Braut immer im Stillen in ihre Besiegung einwilligen muss.
Auch in Europa wird noch vielfach als Hochzeitsfeier ein drama-
tischer Ueberfall ausgeführt, bei den Slovenen zogen sogar der
Bräutigam und seine Genossen bewaffnet gegen das Haus der
Braut, welches wie zu einer Belagerung verschlossen wurde2). In
Altbayern lebt die Sitte der Entführung noch in einem Hochzeits-
spiele fort, welches Brautlauf heisst und wofür im Altnordischen
Quanfang (Frauenfang) gesagt wurde3). Bei den Patagoniern, unter
denen Musters verweilte, wird den Eltern heimlich ein Kaufpreis
entrichtet, die Braut selbst aber plötzlich geraubt4).

Wo allzugrosse Blutnähe nicht gescheut und der Raub nicht
gefordert wurde, musste der Werber die Braut den Eltern abkaufen.
Das Weib geht hier in das Eigenthum des Mannes über und kann
von ihm auf einen Rechtsnachfolger übertragen werden. Bei den
Cariben Venezuelas5), wie im äquatorialem Westafrika erbt der
älteste Sohn alle Frauen seines abgeschiedenen Vaters, mit ein-
ziger Ausnahme der leiblichen Mutter6). Das Gleiche berichtet
G. Schweinfurth von Munsa, dem Könige des merkwürdigen Neger-
reiches Monbuttu am Uelle7). An der Goldküste gelangte sogar
derjenige unter den Prinzen auf den erledigten Thron, der sich
vor den andern Brüdern in den Besitz des väterlichen Harems
setzte8). Diess erläutert uns zugleich einige Vorgänge aus der alt-
testamentlichen Geschichte. Wenn Abshalom im Angesicht von
ganz Jerusalem sich der Frauen seines Vaters bemächtigte, so sollte
damit allem Volke kund werden, dass er David vom Thron ge-
stossen habe9). Im gleichen Geiste befiehlt Salomo den Adonija
hinzurichten, weil er Abisag, Davids letzte Favoritin als Gemahlin
sich erbeten und damit geheime Thronansprüche verrathen hatte10).

1) Waitz, Anthropologie. Bd. 1. S. 360.
2) Klun, Die Slovenen, im Ausland 1872. No. 23. S. 545.
3) Sepp, Die Schimmelkirchen. Beil. zur Allg. Ztg. 1873. S. 1154.
4) Ausland. 1872. No. 9. S. 196.
5) Gumilla, El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. P. I, cap. 14. p. 138.
6) Du Chaillu, Ashangoland. p. 427.
7) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1873. Bd. 5. S. 12.
8) Bosman, Guinese Goud-Tand-en Slavekust. Tom. II. p. 125.
9) 2. Regum, XVI, 21--22.
10) 3. Regum, II, 19--25.

Ehe und väterliche Gewalt.
werber sich entziehen dürfen1). Kennan, der einem ähnlichen
Hochzeitsspiele bei den Korjäken beiwohnte, überzeugt uns, dass
die Braut immer im Stillen in ihre Besiegung einwilligen muss.
Auch in Europa wird noch vielfach als Hochzeitsfeier ein drama-
tischer Ueberfall ausgeführt, bei den Slovenen zogen sogar der
Bräutigam und seine Genossen bewaffnet gegen das Haus der
Braut, welches wie zu einer Belagerung verschlossen wurde2). In
Altbayern lebt die Sitte der Entführung noch in einem Hochzeits-
spiele fort, welches Brautlauf heisst und wofür im Altnordischen
Quânfang (Frauenfang) gesagt wurde3). Bei den Patagoniern, unter
denen Musters verweilte, wird den Eltern heimlich ein Kaufpreis
entrichtet, die Braut selbst aber plötzlich geraubt4).

Wo allzugrosse Blutnähe nicht gescheut und der Raub nicht
gefordert wurde, musste der Werber die Braut den Eltern abkaufen.
Das Weib geht hier in das Eigenthum des Mannes über und kann
von ihm auf einen Rechtsnachfolger übertragen werden. Bei den
Cariben Venezuelas5), wie im äquatorialem Westafrika erbt der
älteste Sohn alle Frauen seines abgeschiedenen Vaters, mit ein-
ziger Ausnahme der leiblichen Mutter6). Das Gleiche berichtet
G. Schweinfurth von Munsa, dem Könige des merkwürdigen Neger-
reiches Monbuttu am Uëlle7). An der Goldküste gelangte sogar
derjenige unter den Prinzen auf den erledigten Thron, der sich
vor den andern Brüdern in den Besitz des väterlichen Harems
setzte8). Diess erläutert uns zugleich einige Vorgänge aus der alt-
testamentlichen Geschichte. Wenn Abshalom im Angesicht von
ganz Jerusalem sich der Frauen seines Vaters bemächtigte, so sollte
damit allem Volke kund werden, dass er David vom Thron ge-
stossen habe9). Im gleichen Geiste befiehlt Salomo den Adonija
hinzurichten, weil er Abisag, Davids letzte Favoritin als Gemahlin
sich erbeten und damit geheime Thronansprüche verrathen hatte10).

1) Waitz, Anthropologie. Bd. 1. S. 360.
2) Klun, Die Slovenen, im Ausland 1872. No. 23. S. 545.
3) Sepp, Die Schimmelkirchen. Beil. zur Allg. Ztg. 1873. S. 1154.
4) Ausland. 1872. No. 9. S. 196.
5) Gumilla, El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. P. I, cap. 14. p. 138.
6) Du Chaillu, Ashangoland. p. 427.
7) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1873. Bd. 5. S. 12.
8) Bosman, Guinese Goud-Tand-en Slavekust. Tom. II. p. 125.
9) 2. Regum, XVI, 21—22.
10) 3. Regum, II, 19—25.
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[236/0254] Ehe und väterliche Gewalt. werber sich entziehen dürfen 1). Kennan, der einem ähnlichen Hochzeitsspiele bei den Korjäken beiwohnte, überzeugt uns, dass die Braut immer im Stillen in ihre Besiegung einwilligen muss. Auch in Europa wird noch vielfach als Hochzeitsfeier ein drama- tischer Ueberfall ausgeführt, bei den Slovenen zogen sogar der Bräutigam und seine Genossen bewaffnet gegen das Haus der Braut, welches wie zu einer Belagerung verschlossen wurde 2). In Altbayern lebt die Sitte der Entführung noch in einem Hochzeits- spiele fort, welches Brautlauf heisst und wofür im Altnordischen Quânfang (Frauenfang) gesagt wurde 3). Bei den Patagoniern, unter denen Musters verweilte, wird den Eltern heimlich ein Kaufpreis entrichtet, die Braut selbst aber plötzlich geraubt 4). Wo allzugrosse Blutnähe nicht gescheut und der Raub nicht gefordert wurde, musste der Werber die Braut den Eltern abkaufen. Das Weib geht hier in das Eigenthum des Mannes über und kann von ihm auf einen Rechtsnachfolger übertragen werden. Bei den Cariben Venezuelas 5), wie im äquatorialem Westafrika erbt der älteste Sohn alle Frauen seines abgeschiedenen Vaters, mit ein- ziger Ausnahme der leiblichen Mutter 6). Das Gleiche berichtet G. Schweinfurth von Munsa, dem Könige des merkwürdigen Neger- reiches Monbuttu am Uëlle 7). An der Goldküste gelangte sogar derjenige unter den Prinzen auf den erledigten Thron, der sich vor den andern Brüdern in den Besitz des väterlichen Harems setzte 8). Diess erläutert uns zugleich einige Vorgänge aus der alt- testamentlichen Geschichte. Wenn Abshalom im Angesicht von ganz Jerusalem sich der Frauen seines Vaters bemächtigte, so sollte damit allem Volke kund werden, dass er David vom Thron ge- stossen habe 9). Im gleichen Geiste befiehlt Salomo den Adonija hinzurichten, weil er Abisag, Davids letzte Favoritin als Gemahlin sich erbeten und damit geheime Thronansprüche verrathen hatte 10). 1) Waitz, Anthropologie. Bd. 1. S. 360. 2) Klun, Die Slovenen, im Ausland 1872. No. 23. S. 545. 3) Sepp, Die Schimmelkirchen. Beil. zur Allg. Ztg. 1873. S. 1154. 4) Ausland. 1872. No. 9. S. 196. 5) Gumilla, El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. P. I, cap. 14. p. 138. 6) Du Chaillu, Ashangoland. p. 427. 7) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1873. Bd. 5. S. 12. 8) Bosman, Guinese Goud-Tand-en Slavekust. Tom. II. p. 125. 9) 2. Regum, XVI, 21—22. 10) 3. Regum, II, 19—25.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/254>, abgerufen am 26.04.2024.