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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Ehe und väterliche Gewalt.
tung bezeichnen könnte, so braucht man nur auf die sogenannten
Dreiviertelheirathen zu verweisen, die im nubischen Afrika unter
den Hassaniyeh-Arabern vorkommen, bei denen nämlich die Ehe-
frau jeden vierten Tag frei über sich verfügen kann 1). Die Ge-
schichte ertheilt uns übrigens die Lehre, dass alle hochgestiegenen
Völker die eheliche und überhaupt die geschlechtliche Reinheit
streng gehütet haben, sowie dass jeder Lockerung der Sitten die
Zerrüttung der Gesellschaft auf der Ferse folgte.

Polygam oder polyandrisch werden bekanntlich die Ehen ge-
nannt, je nachdem der Mann seinen Hausstand mit mehreren
Frauen theilt oder die Frau mehreren Männern gleichzeitig an-
gehört. Vielweiberei ist über ganz Afrika verbreitet, sie war
ebenfalls fast allen asiatischen Völkern verstattet, in Amerika da-
gegen auffallend selten anzutreffen. Nun haben bisher alle Volks-
zählungen uns belehrt, dass die Ziffern beider Geschlechter im
Gleichgewicht stehen, und der Ueberschuss des einen über das
andere meist nur ein geringer ist. Der grösste der beglaubigten
Zahlenunterschiede trifft auf die europäischen Juden 2), bei denen
die männlichen Geburten stark überwiegen. Wenn nach den Be-
hauptungen von Reisenden unter den Ladinos oder Mischlingen
von Europäern mit den Ureinwohnern des spanischen Amerika die
Zahl der Mädchen die der Knaben um die Hälfte, nach Stephens
in Yucatan sie um das Doppelte übertreffen, in Cochabamba sogar
das Fünffache betragen soll 3), so begründen sich solche Angaben
nicht auf stattgefundene Zählungen, sind also für die Wissenschaft
wenig brauchbar. Ein durchaus glaubwürdiger Beobachter, näm-
lich Campbell konnte dagegen bezeugen, dass in den siamesischen
Harem Knaben und Mädchen in gleicher Anzahl geboren werden 4).

1) Ausland 1870. S. 1058.
2) Nach Waitz I, 127 und Darwin, Abstammung des Menschen I, 267:
Geburten in jüdischen Familien
[Tabelle]
3) Waitz, Anthropologie. Bd. 1. S. 127.
4) Darwin, Abstammung des Menschen. Bd. 1. S. 268.

Ehe und väterliche Gewalt.
tung bezeichnen könnte, so braucht man nur auf die sogenannten
Dreiviertelheirathen zu verweisen, die im nubischen Afrika unter
den Hassaniyeh-Arabern vorkommen, bei denen nämlich die Ehe-
frau jeden vierten Tag frei über sich verfügen kann 1). Die Ge-
schichte ertheilt uns übrigens die Lehre, dass alle hochgestiegenen
Völker die eheliche und überhaupt die geschlechtliche Reinheit
streng gehütet haben, sowie dass jeder Lockerung der Sitten die
Zerrüttung der Gesellschaft auf der Ferse folgte.

Polygam oder polyandrisch werden bekanntlich die Ehen ge-
nannt, je nachdem der Mann seinen Hausstand mit mehreren
Frauen theilt oder die Frau mehreren Männern gleichzeitig an-
gehört. Vielweiberei ist über ganz Afrika verbreitet, sie war
ebenfalls fast allen asiatischen Völkern verstattet, in Amerika da-
gegen auffallend selten anzutreffen. Nun haben bisher alle Volks-
zählungen uns belehrt, dass die Ziffern beider Geschlechter im
Gleichgewicht stehen, und der Ueberschuss des einen über das
andere meist nur ein geringer ist. Der grösste der beglaubigten
Zahlenunterschiede trifft auf die europäischen Juden 2), bei denen
die männlichen Geburten stark überwiegen. Wenn nach den Be-
hauptungen von Reisenden unter den Ladinos oder Mischlingen
von Europäern mit den Ureinwohnern des spanischen Amerika die
Zahl der Mädchen die der Knaben um die Hälfte, nach Stephens
in Yucatan sie um das Doppelte übertreffen, in Cochabamba sogar
das Fünffache betragen soll 3), so begründen sich solche Angaben
nicht auf stattgefundene Zählungen, sind also für die Wissenschaft
wenig brauchbar. Ein durchaus glaubwürdiger Beobachter, näm-
lich Campbell konnte dagegen bezeugen, dass in den siamesischen
Harem Knaben und Mädchen in gleicher Anzahl geboren werden 4).

1) Ausland 1870. S. 1058.
2) Nach Waitz I, 127 und Darwin, Abstammung des Menschen I, 267:
Geburten in jüdischen Familien
[Tabelle]
3) Waitz, Anthropologie. Bd. 1. S. 127.
4) Darwin, Abstammung des Menschen. Bd. 1. S. 268.
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[230/0248] Ehe und väterliche Gewalt. tung bezeichnen könnte, so braucht man nur auf die sogenannten Dreiviertelheirathen zu verweisen, die im nubischen Afrika unter den Hassaniyeh-Arabern vorkommen, bei denen nämlich die Ehe- frau jeden vierten Tag frei über sich verfügen kann 1). Die Ge- schichte ertheilt uns übrigens die Lehre, dass alle hochgestiegenen Völker die eheliche und überhaupt die geschlechtliche Reinheit streng gehütet haben, sowie dass jeder Lockerung der Sitten die Zerrüttung der Gesellschaft auf der Ferse folgte. Polygam oder polyandrisch werden bekanntlich die Ehen ge- nannt, je nachdem der Mann seinen Hausstand mit mehreren Frauen theilt oder die Frau mehreren Männern gleichzeitig an- gehört. Vielweiberei ist über ganz Afrika verbreitet, sie war ebenfalls fast allen asiatischen Völkern verstattet, in Amerika da- gegen auffallend selten anzutreffen. Nun haben bisher alle Volks- zählungen uns belehrt, dass die Ziffern beider Geschlechter im Gleichgewicht stehen, und der Ueberschuss des einen über das andere meist nur ein geringer ist. Der grösste der beglaubigten Zahlenunterschiede trifft auf die europäischen Juden 2), bei denen die männlichen Geburten stark überwiegen. Wenn nach den Be- hauptungen von Reisenden unter den Ladinos oder Mischlingen von Europäern mit den Ureinwohnern des spanischen Amerika die Zahl der Mädchen die der Knaben um die Hälfte, nach Stephens in Yucatan sie um das Doppelte übertreffen, in Cochabamba sogar das Fünffache betragen soll 3), so begründen sich solche Angaben nicht auf stattgefundene Zählungen, sind also für die Wissenschaft wenig brauchbar. Ein durchaus glaubwürdiger Beobachter, näm- lich Campbell konnte dagegen bezeugen, dass in den siamesischen Harem Knaben und Mädchen in gleicher Anzahl geboren werden 4). 1) Ausland 1870. S. 1058. 2) Nach Waitz I, 127 und Darwin, Abstammung des Menschen I, 267: Geburten in jüdischen Familien 3) Waitz, Anthropologie. Bd. 1. S. 127. 4) Darwin, Abstammung des Menschen. Bd. 1. S. 268.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/248>, abgerufen am 26.04.2024.