Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Bau der menschlichen Sprache.
vorgesetzt oder angehängt werden, ausüben. Endsylben bezeichnen
Einheit oder Mehrheit, sowie die drei Casus (Nominativ, Genitiv
und Accusativ).

Wir dürfen mit Recht bewundern und staunen, wie es im Bau
der semitischen Sprachen dem menschlichen Verstand gelungen ist,
den Lauten der Sprachwerkzeuge eine sinnbildliche Bedeutung ver-
liehen zu haben und dieses Werkzeug des Gedankenaustausches
auf das höchste zu vergeistigen. Die Entwicklungsgeschichte dieses
Vorganges bleibt uns vorläufig völlig dunkel, da nicht einmal Ver-
muthungen vorhanden sind über die früheren Stufen, welche die
Sprachbildung überstiegen hat.

Eine ebenbürtige oder, wie Viele wollen, eine höhere Stellung
nehmen die Sprachen ein, welche sich um das Sanskrit als Ge-
schwister schaaren, die Sprachen der Indogermanen oder der
arischen Völker. Ihr Vorrang vor der semitischen Gruppe lässt
sich zunächst darauf begründen, dass nicht wie bei diesen zwei,
sondern drei Geschlechter oder vielmehr geschlechtliche und ge-
schlechtslose Dinge unterschieden werden. Dieser Vorzug ist aber
im Laufe der Zeiten zum Theil wieder verloren gegangen. Das Neu-
englische unterscheidet mit wenigen Ausnahmen die Geschlechter nur
noch bei Menschen und Thieren, sowie die geschlechtlosen Dinge.
Auch für die deutsche Sprache sind, wie Steinthal bemerkt, die schönen
Zeiten vorüber, wo wir noch sagten, je zweene für ein Männer-
paar, je zwo für ein Frauenpaar, je zwei für ein Kinderpaar oder
für Mann und Frau zusammen. Das Armenische endlich kennt
keine grammatische Geschlechtsunterscheidung 1). Viel bedeutsamer
ist es aber noch, dass die arischen Sprachen allein ein Zeitwort
sein besitzen, welches selbst den semitischen Sprachen fehlt, die
den Gedanken der Güte Gottes nicht durch die Worte ausdrücken
können, Gott ist gütig, sondern sagen müssen, Gott der Gütige,
oder Gott, er der Gütige, in welchen Sprachen daher auch nicht
die Behauptung möglich war: ich denke, folglich bin ich.

Die Entwicklungsgeschichte innerhalb dieses Sprachenkreises
ist weit durchsichtiger, als bei dem semitischen. Alle Untersuchungen
haben dahin geführt, dass unsre Ahnen in einer grauen Vorzeit

1) Mordtmann, Allgem. Ztg. 1871. S. 6374.
9*

Der Bau der menschlichen Sprache.
vorgesetzt oder angehängt werden, ausüben. Endsylben bezeichnen
Einheit oder Mehrheit, sowie die drei Casus (Nominativ, Genitiv
und Accusativ).

Wir dürfen mit Recht bewundern und staunen, wie es im Bau
der semitischen Sprachen dem menschlichen Verstand gelungen ist,
den Lauten der Sprachwerkzeuge eine sinnbildliche Bedeutung ver-
liehen zu haben und dieses Werkzeug des Gedankenaustausches
auf das höchste zu vergeistigen. Die Entwicklungsgeschichte dieses
Vorganges bleibt uns vorläufig völlig dunkel, da nicht einmal Ver-
muthungen vorhanden sind über die früheren Stufen, welche die
Sprachbildung überstiegen hat.

Eine ebenbürtige oder, wie Viele wollen, eine höhere Stellung
nehmen die Sprachen ein, welche sich um das Sanskrit als Ge-
schwister schaaren, die Sprachen der Indogermanen oder der
arischen Völker. Ihr Vorrang vor der semitischen Gruppe lässt
sich zunächst darauf begründen, dass nicht wie bei diesen zwei,
sondern drei Geschlechter oder vielmehr geschlechtliche und ge-
schlechtslose Dinge unterschieden werden. Dieser Vorzug ist aber
im Laufe der Zeiten zum Theil wieder verloren gegangen. Das Neu-
englische unterscheidet mit wenigen Ausnahmen die Geschlechter nur
noch bei Menschen und Thieren, sowie die geschlechtlosen Dinge.
Auch für die deutsche Sprache sind, wie Steinthal bemerkt, die schönen
Zeiten vorüber, wo wir noch sagten, je zweene für ein Männer-
paar, je zwo für ein Frauenpaar, je zwei für ein Kinderpaar oder
für Mann und Frau zusammen. Das Armenische endlich kennt
keine grammatische Geschlechtsunterscheidung 1). Viel bedeutsamer
ist es aber noch, dass die arischen Sprachen allein ein Zeitwort
sein besitzen, welches selbst den semitischen Sprachen fehlt, die
den Gedanken der Güte Gottes nicht durch die Worte ausdrücken
können, Gott ist gütig, sondern sagen müssen, Gott der Gütige,
oder Gott, er der Gütige, in welchen Sprachen daher auch nicht
die Behauptung möglich war: ich denke, folglich bin ich.

Die Entwicklungsgeschichte innerhalb dieses Sprachenkreises
ist weit durchsichtiger, als bei dem semitischen. Alle Untersuchungen
haben dahin geführt, dass unsre Ahnen in einer grauen Vorzeit

1) Mordtmann, Allgem. Ztg. 1871. S. 6374.
9*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0149" n="131"/><fw place="top" type="header">Der Bau der menschlichen Sprache.</fw><lb/>
vorgesetzt oder angehängt werden, ausüben. Endsylben bezeichnen<lb/>
Einheit oder Mehrheit, sowie die drei Casus (Nominativ, Genitiv<lb/>
und Accusativ).</p><lb/>
          <p>Wir dürfen mit Recht bewundern und staunen, wie es im Bau<lb/>
der semitischen Sprachen dem menschlichen Verstand gelungen ist,<lb/>
den Lauten der Sprachwerkzeuge eine sinnbildliche Bedeutung ver-<lb/>
liehen zu haben und dieses Werkzeug des Gedankenaustausches<lb/>
auf das höchste zu vergeistigen. Die Entwicklungsgeschichte dieses<lb/>
Vorganges bleibt uns vorläufig völlig dunkel, da nicht einmal Ver-<lb/>
muthungen vorhanden sind über die früheren Stufen, welche die<lb/>
Sprachbildung überstiegen hat.</p><lb/>
          <p>Eine ebenbürtige oder, wie Viele wollen, eine höhere Stellung<lb/>
nehmen die Sprachen ein, welche sich um das Sanskrit als Ge-<lb/>
schwister schaaren, die Sprachen der Indogermanen oder der<lb/>
arischen Völker. Ihr Vorrang vor der semitischen Gruppe lässt<lb/>
sich zunächst darauf begründen, dass nicht wie bei diesen zwei,<lb/>
sondern drei Geschlechter oder vielmehr geschlechtliche und ge-<lb/>
schlechtslose Dinge unterschieden werden. Dieser Vorzug ist aber<lb/>
im Laufe der Zeiten zum Theil wieder verloren gegangen. Das Neu-<lb/>
englische unterscheidet mit wenigen Ausnahmen die Geschlechter nur<lb/>
noch bei Menschen und Thieren, sowie die geschlechtlosen Dinge.<lb/>
Auch für die deutsche Sprache sind, wie Steinthal bemerkt, die schönen<lb/>
Zeiten vorüber, wo wir noch sagten, je zweene für ein Männer-<lb/>
paar, je zwo für ein Frauenpaar, je zwei für ein Kinderpaar oder<lb/>
für Mann und Frau zusammen. Das Armenische endlich kennt<lb/>
keine grammatische Geschlechtsunterscheidung <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#g">Mordtmann</hi>, Allgem. Ztg. 1871. S. 6374.</note>. Viel bedeutsamer<lb/>
ist es aber noch, dass die arischen Sprachen allein ein Zeitwort<lb/><hi rendition="#i">sein</hi> besitzen, welches selbst den semitischen Sprachen fehlt, die<lb/>
den Gedanken der Güte Gottes nicht durch die Worte ausdrücken<lb/>
können, Gott ist gütig, sondern sagen müssen, Gott der Gütige,<lb/>
oder Gott, er der Gütige, in welchen Sprachen daher auch nicht<lb/>
die Behauptung möglich war: ich denke, folglich bin ich.</p><lb/>
          <p>Die Entwicklungsgeschichte innerhalb dieses Sprachenkreises<lb/>
ist weit durchsichtiger, als bei dem semitischen. Alle Untersuchungen<lb/>
haben dahin geführt, dass unsre Ahnen in einer grauen Vorzeit<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">9*</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[131/0149] Der Bau der menschlichen Sprache. vorgesetzt oder angehängt werden, ausüben. Endsylben bezeichnen Einheit oder Mehrheit, sowie die drei Casus (Nominativ, Genitiv und Accusativ). Wir dürfen mit Recht bewundern und staunen, wie es im Bau der semitischen Sprachen dem menschlichen Verstand gelungen ist, den Lauten der Sprachwerkzeuge eine sinnbildliche Bedeutung ver- liehen zu haben und dieses Werkzeug des Gedankenaustausches auf das höchste zu vergeistigen. Die Entwicklungsgeschichte dieses Vorganges bleibt uns vorläufig völlig dunkel, da nicht einmal Ver- muthungen vorhanden sind über die früheren Stufen, welche die Sprachbildung überstiegen hat. Eine ebenbürtige oder, wie Viele wollen, eine höhere Stellung nehmen die Sprachen ein, welche sich um das Sanskrit als Ge- schwister schaaren, die Sprachen der Indogermanen oder der arischen Völker. Ihr Vorrang vor der semitischen Gruppe lässt sich zunächst darauf begründen, dass nicht wie bei diesen zwei, sondern drei Geschlechter oder vielmehr geschlechtliche und ge- schlechtslose Dinge unterschieden werden. Dieser Vorzug ist aber im Laufe der Zeiten zum Theil wieder verloren gegangen. Das Neu- englische unterscheidet mit wenigen Ausnahmen die Geschlechter nur noch bei Menschen und Thieren, sowie die geschlechtlosen Dinge. Auch für die deutsche Sprache sind, wie Steinthal bemerkt, die schönen Zeiten vorüber, wo wir noch sagten, je zweene für ein Männer- paar, je zwo für ein Frauenpaar, je zwei für ein Kinderpaar oder für Mann und Frau zusammen. Das Armenische endlich kennt keine grammatische Geschlechtsunterscheidung 1). Viel bedeutsamer ist es aber noch, dass die arischen Sprachen allein ein Zeitwort sein besitzen, welches selbst den semitischen Sprachen fehlt, die den Gedanken der Güte Gottes nicht durch die Worte ausdrücken können, Gott ist gütig, sondern sagen müssen, Gott der Gütige, oder Gott, er der Gütige, in welchen Sprachen daher auch nicht die Behauptung möglich war: ich denke, folglich bin ich. Die Entwicklungsgeschichte innerhalb dieses Sprachenkreises ist weit durchsichtiger, als bei dem semitischen. Alle Untersuchungen haben dahin geführt, dass unsre Ahnen in einer grauen Vorzeit 1) Mordtmann, Allgem. Ztg. 1871. S. 6374. 9*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/149
Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/149>, abgerufen am 26.04.2024.