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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Der Bau der menschlichen Sprache.
einem Einblick in die Vorgänge der Wortbildung. Ihr Sprachbau
begnügt sich nämlich nur mit der Anlöthung (Agglutination) von
Lautgruppen. Etwas ähnliches kommt selbst in solchen Sprachen
noch vor, bei denen sonst Verschmelzungen üblich sind. Treten
zwei Lautgruppen zusammen, ohne sich zu verändern und ohne
ihren selbstständigen Sinn zu verlieren, so sind sie nur locker ge-
einigt (agglutinirt). Wenn wir solche Wörter wie muth-voll, geist-
reich, laut-arm
in ihre beiden Hälften zerschneiden, können das
Hauptwort wie der sinnbegrenzende Zusatz für sich allein fortbe-
stehen. Auf solche Bildungen beschränken sich die uralaltaischen
Sprachen, überhaupt alle solche, die sich mit der Anlöthung be-
gnügen. Wurden aber längere Zeit dieselben Wurzeln vorzugsweise
nur zur Sinnbegrenzung verwendet und verloren sie durch den
Gebrauch ihre Selbstständigkeit, so dass sie nur noch zur Aus-
hilfe dienten, entschwand später ihre ursprüngliche Bedeutung
dem Bewusstsein der Sprechenden, so wurde bereits eine höhere
Gliederung des Sprachbaues erreicht. Diesen Fall vertreten Bil-
dungen in unsrer Spreche, wie tugend-haft, trag-bar, un-deutlich,
Die Anhängsel -haft, -bar und die Vorsatzsilbe un- können in
unsrer Sprache nicht mehr selbstständig auftreten, sondern sie
haben ihre Freiheit eingebüsst, seit ihre ursprüngliche Form und
ihre ehemalige Bedeutung dem Sprachverständniss entrückt wurden.
Endlich ist noch ein dritter Fall denkbar, dass in Folge der An-
löthung die sinnbegrenzende Wurzel eine Lautabänderung in der
Hauptwurzel vollzog und beide Gruppen derartig verschmolzen,
dass nun keine von beiden selbstständig mehr bestehen kann, wie
etwa in solchen Bildungen als hölz-ern, lüst-ern, schwier-ig, bläu-lich.

Ein Keim zu Lautverwandlungen ist nun schon in den
uralaltaischen Sprachen vorhanden, wenn er auch nur durch
das Bestreben nach Wohlklang (Vocalharmonie) herbeigeführt wurde.
Die acht Vocale jener Sprachen zerfallen nämlich in schwere,
leichte, harte oder weiche und nach dem Sprachgebrauch darf in
der nachfolgenden Zusatzwurzel entweder nur derselbe oder irgend
ein bestimmter andrer Vocal folgen. So besteht im Jakutischen
die Nachsatzwurzel, welche die Mehrheit ausdrückt, aus der Laut-
gruppe l-r, welcher Vocal aber zwischen l und r hineinzutreten
habe, wird durch den Vocal der Hauptwurzel entschieden, so dass
akha-lar die Väter, okho-lor die Kinder, äsä-lär die Bären gebildet
werden muss. Dieses musikalische Bestreben könnte bewirken, dass

Der Bau der menschlichen Sprache.
einem Einblick in die Vorgänge der Wortbildung. Ihr Sprachbau
begnügt sich nämlich nur mit der Anlöthung (Agglutination) von
Lautgruppen. Etwas ähnliches kommt selbst in solchen Sprachen
noch vor, bei denen sonst Verschmelzungen üblich sind. Treten
zwei Lautgruppen zusammen, ohne sich zu verändern und ohne
ihren selbstständigen Sinn zu verlieren, so sind sie nur locker ge-
einigt (agglutinirt). Wenn wir solche Wörter wie muth-voll, geist-
reich, laut-arm
in ihre beiden Hälften zerschneiden, können das
Hauptwort wie der sinnbegrenzende Zusatz für sich allein fortbe-
stehen. Auf solche Bildungen beschränken sich die uralaltaischen
Sprachen, überhaupt alle solche, die sich mit der Anlöthung be-
gnügen. Wurden aber längere Zeit dieselben Wurzeln vorzugsweise
nur zur Sinnbegrenzung verwendet und verloren sie durch den
Gebrauch ihre Selbstständigkeit, so dass sie nur noch zur Aus-
hilfe dienten, entschwand später ihre ursprüngliche Bedeutung
dem Bewusstsein der Sprechenden, so wurde bereits eine höhere
Gliederung des Sprachbaues erreicht. Diesen Fall vertreten Bil-
dungen in unsrer Spreche, wie tugend-haft, trag-bar, un-deutlich,
Die Anhängsel -haft, -bar und die Vorsatzsilbe un- können in
unsrer Sprache nicht mehr selbstständig auftreten, sondern sie
haben ihre Freiheit eingebüsst, seit ihre ursprüngliche Form und
ihre ehemalige Bedeutung dem Sprachverständniss entrückt wurden.
Endlich ist noch ein dritter Fall denkbar, dass in Folge der An-
löthung die sinnbegrenzende Wurzel eine Lautabänderung in der
Hauptwurzel vollzog und beide Gruppen derartig verschmolzen,
dass nun keine von beiden selbstständig mehr bestehen kann, wie
etwa in solchen Bildungen als hölz-ern, lüst-ern, schwier-ig, bläu-lich.

Ein Keim zu Lautverwandlungen ist nun schon in den
uralaltaischen Sprachen vorhanden, wenn er auch nur durch
das Bestreben nach Wohlklang (Vocalharmonie) herbeigeführt wurde.
Die acht Vocale jener Sprachen zerfallen nämlich in schwere,
leichte, harte oder weiche und nach dem Sprachgebrauch darf in
der nachfolgenden Zusatzwurzel entweder nur derselbe oder irgend
ein bestimmter andrer Vocal folgen. So besteht im Jakutischen
die Nachsatzwurzel, welche die Mehrheit ausdrückt, aus der Laut-
gruppe l-r, welcher Vocal aber zwischen l und r hineinzutreten
habe, wird durch den Vocal der Hauptwurzel entschieden, so dass
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werden muss. Dieses musikalische Bestreben könnte bewirken, dass

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[124/0142] Der Bau der menschlichen Sprache. einem Einblick in die Vorgänge der Wortbildung. Ihr Sprachbau begnügt sich nämlich nur mit der Anlöthung (Agglutination) von Lautgruppen. Etwas ähnliches kommt selbst in solchen Sprachen noch vor, bei denen sonst Verschmelzungen üblich sind. Treten zwei Lautgruppen zusammen, ohne sich zu verändern und ohne ihren selbstständigen Sinn zu verlieren, so sind sie nur locker ge- einigt (agglutinirt). Wenn wir solche Wörter wie muth-voll, geist- reich, laut-arm in ihre beiden Hälften zerschneiden, können das Hauptwort wie der sinnbegrenzende Zusatz für sich allein fortbe- stehen. Auf solche Bildungen beschränken sich die uralaltaischen Sprachen, überhaupt alle solche, die sich mit der Anlöthung be- gnügen. Wurden aber längere Zeit dieselben Wurzeln vorzugsweise nur zur Sinnbegrenzung verwendet und verloren sie durch den Gebrauch ihre Selbstständigkeit, so dass sie nur noch zur Aus- hilfe dienten, entschwand später ihre ursprüngliche Bedeutung dem Bewusstsein der Sprechenden, so wurde bereits eine höhere Gliederung des Sprachbaues erreicht. Diesen Fall vertreten Bil- dungen in unsrer Spreche, wie tugend-haft, trag-bar, un-deutlich, Die Anhängsel -haft, -bar und die Vorsatzsilbe un- können in unsrer Sprache nicht mehr selbstständig auftreten, sondern sie haben ihre Freiheit eingebüsst, seit ihre ursprüngliche Form und ihre ehemalige Bedeutung dem Sprachverständniss entrückt wurden. Endlich ist noch ein dritter Fall denkbar, dass in Folge der An- löthung die sinnbegrenzende Wurzel eine Lautabänderung in der Hauptwurzel vollzog und beide Gruppen derartig verschmolzen, dass nun keine von beiden selbstständig mehr bestehen kann, wie etwa in solchen Bildungen als hölz-ern, lüst-ern, schwier-ig, bläu-lich. Ein Keim zu Lautverwandlungen ist nun schon in den uralaltaischen Sprachen vorhanden, wenn er auch nur durch das Bestreben nach Wohlklang (Vocalharmonie) herbeigeführt wurde. Die acht Vocale jener Sprachen zerfallen nämlich in schwere, leichte, harte oder weiche und nach dem Sprachgebrauch darf in der nachfolgenden Zusatzwurzel entweder nur derselbe oder irgend ein bestimmter andrer Vocal folgen. So besteht im Jakutischen die Nachsatzwurzel, welche die Mehrheit ausdrückt, aus der Laut- gruppe l-r, welcher Vocal aber zwischen l und r hineinzutreten habe, wird durch den Vocal der Hauptwurzel entschieden, so dass aχa-lar die Väter, oχo-lor die Kinder, äsä-lär die Bären gebildet werden muss. Dieses musikalische Bestreben könnte bewirken, dass

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/142>, abgerufen am 27.04.2024.