An dem senkrecht durchschnittenen Schädel erkennt auch das ungeübte Auge sogleich den Bereich der Gehirnkapsel und des Gesichtsschädels. Dieser letztere beansprucht im Vergleich zu ersterer beim Menschen einen viel kleineren Raum, denn er ist nicht halb so lang, nicht halb so hoch und immer schmäler als der andere. Bei den Affen, selbst bei den höchsten, überwiegt dagegen das Wachsthum des Gesichtsschädels und hauptsächlich beruht auf dem Hervordrängen der Kiefern zur Schnauzenform der thierische Ausdruck des Kopfes. Anklänge an diese Gesichts- bildung bei Menschenstämmen nennen wir Prognathismus. Peter Camper war der erste, welcher es versuchte, durch den sogenannten Gesichtswinkel den Betrag jener Wachsthumsverhältnisse zu ermit- teln 1). Er zog nämlich eine Linie vom äussern Gehörgang nach der Nasenscheidewand und liess sie durchschneiden durch eine Linie vom Schluss der Zähne nach dem am meisten hervortreten- den Theil der Stirn. In der Grösse des Winkels fand er den Maassstab für den edleren Gesichtsausdruck. Virchow hat schon richtig eingewendet, dass jener Winkel bei alten Leuten sowohl durch die Entwicklung der Stirnhöhlen wie durch das Zurücktreten der Zahnfortsätze geringer werden müsse 2). Noch viel misslicher aber war es, dass Camper die Nasenscheidewand und die Gehör- gänge erwählte, um durch sie eine sogenannte Horizontalebene des Schädels zu legen. Nach einer solchen Ebene ist von Craniologen so eifrig gesucht worden, wie von den Alchymisten nach den Grundbestandtheilen des Goldes. Man dachte sich diese Ebene parallel zum Horizont durch den Kopf gelegt, sobald dieser auf seinem Schwerpunkt bei der geringsten Nachhilfe von Muskeln schwebe. Der Verlauf der Jochbogen schien in diese Ebene zu fallen und der Schädel wurde dem entsprechend aufgestellt. Es ergab sich aber bald, dass diese Ebene bei Racenschädeln einen ganz verschiedenen Verlauf nahm, dass man nicht immer den Jochbogen folgen, sondern den Schädel bald vorn, bald hinten ein
1)Peter Camper, über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge. Berlin 1792. XV, 17, 21--22.
2) Schädelgrund. S. 119.
Der Gesichtsschädel.
3) Der Gesichtsschädel.
An dem senkrecht durchschnittenen Schädel erkennt auch das ungeübte Auge sogleich den Bereich der Gehirnkapsel und des Gesichtsschädels. Dieser letztere beansprucht im Vergleich zu ersterer beim Menschen einen viel kleineren Raum, denn er ist nicht halb so lang, nicht halb so hoch und immer schmäler als der andere. Bei den Affen, selbst bei den höchsten, überwiegt dagegen das Wachsthum des Gesichtsschädels und hauptsächlich beruht auf dem Hervordrängen der Kiefern zur Schnauzenform der thierische Ausdruck des Kopfes. Anklänge an diese Gesichts- bildung bei Menschenstämmen nennen wir Prognathismus. Peter Camper war der erste, welcher es versuchte, durch den sogenannten Gesichtswinkel den Betrag jener Wachsthumsverhältnisse zu ermit- teln 1). Er zog nämlich eine Linie vom äussern Gehörgang nach der Nasenscheidewand und liess sie durchschneiden durch eine Linie vom Schluss der Zähne nach dem am meisten hervortreten- den Theil der Stirn. In der Grösse des Winkels fand er den Maassstab für den edleren Gesichtsausdruck. Virchow hat schon richtig eingewendet, dass jener Winkel bei alten Leuten sowohl durch die Entwicklung der Stirnhöhlen wie durch das Zurücktreten der Zahnfortsätze geringer werden müsse 2). Noch viel misslicher aber war es, dass Camper die Nasenscheidewand und die Gehör- gänge erwählte, um durch sie eine sogenannte Horizontalebene des Schädels zu legen. Nach einer solchen Ebene ist von Craniologen so eifrig gesucht worden, wie von den Alchymisten nach den Grundbestandtheilen des Goldes. Man dachte sich diese Ebene parallel zum Horizont durch den Kopf gelegt, sobald dieser auf seinem Schwerpunkt bei der geringsten Nachhilfe von Muskeln schwebe. Der Verlauf der Jochbogen schien in diese Ebene zu fallen und der Schädel wurde dem entsprechend aufgestellt. Es ergab sich aber bald, dass diese Ebene bei Racenschädeln einen ganz verschiedenen Verlauf nahm, dass man nicht immer den Jochbogen folgen, sondern den Schädel bald vorn, bald hinten ein
1)Peter Camper, über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge. Berlin 1792. XV, 17, 21—22.
2) Schädelgrund. S. 119.
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[74/0092]
Der Gesichtsschädel.
3) Der Gesichtsschädel.
An dem senkrecht durchschnittenen Schädel erkennt auch das
ungeübte Auge sogleich den Bereich der Gehirnkapsel und des
Gesichtsschädels. Dieser letztere beansprucht im Vergleich zu
ersterer beim Menschen einen viel kleineren Raum, denn er ist
nicht halb so lang, nicht halb so hoch und immer schmäler als
der andere. Bei den Affen, selbst bei den höchsten, überwiegt
dagegen das Wachsthum des Gesichtsschädels und hauptsächlich
beruht auf dem Hervordrängen der Kiefern zur Schnauzenform
der thierische Ausdruck des Kopfes. Anklänge an diese Gesichts-
bildung bei Menschenstämmen nennen wir Prognathismus. Peter
Camper war der erste, welcher es versuchte, durch den sogenannten
Gesichtswinkel den Betrag jener Wachsthumsverhältnisse zu ermit-
teln 1). Er zog nämlich eine Linie vom äussern Gehörgang nach
der Nasenscheidewand und liess sie durchschneiden durch eine
Linie vom Schluss der Zähne nach dem am meisten hervortreten-
den Theil der Stirn. In der Grösse des Winkels fand er den
Maassstab für den edleren Gesichtsausdruck. Virchow hat schon
richtig eingewendet, dass jener Winkel bei alten Leuten sowohl
durch die Entwicklung der Stirnhöhlen wie durch das Zurücktreten
der Zahnfortsätze geringer werden müsse 2). Noch viel misslicher
aber war es, dass Camper die Nasenscheidewand und die Gehör-
gänge erwählte, um durch sie eine sogenannte Horizontalebene des
Schädels zu legen. Nach einer solchen Ebene ist von Craniologen
so eifrig gesucht worden, wie von den Alchymisten nach den
Grundbestandtheilen des Goldes. Man dachte sich diese Ebene
parallel zum Horizont durch den Kopf gelegt, sobald dieser auf
seinem Schwerpunkt bei der geringsten Nachhilfe von Muskeln
schwebe. Der Verlauf der Jochbogen schien in diese Ebene zu
fallen und der Schädel wurde dem entsprechend aufgestellt. Es
ergab sich aber bald, dass diese Ebene bei Racenschädeln einen
ganz verschiedenen Verlauf nahm, dass man nicht immer den
Jochbogen folgen, sondern den Schädel bald vorn, bald hinten ein
1) Peter Camper, über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge.
Berlin 1792. XV, 17, 21—22.
2) Schädelgrund. S. 119.
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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/92>, abgerufen am 19.11.2024.
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