Diese Verirrungen wollen wir als Schamanismus bezeichnen und ihren Ursprung zn ergründen versuchen 1).
10. Der Schamanismus.
Wenn wir fernerhin von Schamanismus sprechen, so muss man sich diesen Begriff stets so weit ausgedehnt denken, dass er alles Zauber- und Ritualwesen einschliesst. Der Name selbst ist aus einer Verderbung von Cramana entstanden, wie in Indien die buddhistischen Einsiedler und Büsser geheissen wurden. Schamanen nannte man indessen bisher nur die Wunderkünstler bei den nordasiatischen Stämmen. Ihre Verrichtungen bestehen hauptsächlich in Zauberkuren, denn bei allen rohen Völkern der Gegenwart oder der Vergangenheit werden Krankheiten und Todes- fälle nur einer Verhexung zugeschrieben 2), gegen welche der Schamane seine Geheimmittel aufbieten muss.
Herkömmlich ist es in Sibirien wie in beiden amerikanischen Festlanden, dass der herbeigerufene Meister an der schmerzenden Körperstelle des Kranken saugt und aus dem Munde bald einen Dorn, bald einen Käfer, bald einen Stein oder irgendeinen un- erwarteten Gegenstand hervorbringt, den er als den ertappten und besiegten Verursacher des Uebels der ängstlich harrenden Menge zeigt. Nicht anders verfahren die Schamanen unter den Dayaken Borneos 3), wie in Südamerika am Orinoco 4), und eine Priesterin unter den Fingokafirn -- denn es fehlt auch nicht an weiblichen Künstlern --, welche eine Anzahl Maiskörner trügerischerweise aus dem Leib des Patienten herausgesogen hatte, wurde von der Frau eines Evangelienverkündigers entlarvt. Sie hatte nämlich um sich Brechreiz zu erregen vor dem Possenspiel Tabakblätter verschluckt 5).
1) Der obige Abschnitt erschien abgekürzt und ohne Quellenangabe bereits früher in der Oesterreich. Zeitschrift für Kunst und Wissenschaft. 1872.
2) So von den Australiern (Latham, Varieties, p. 244), von den Kutschin- oder Loucheux-Indianern der Hudsonsbaygebiete (Ausland. 1863. S. 579), von den Hottentotten (Kolbe, Cap der guten Hoffnung S. 438) u. a. m.
3)Spenser St. John, Life in the Far East. London 1862. tom. I. p. 177. p. 201.
4) P. Jos. Gumilla, El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. II, 3; p. 311.
5)Tylor, Urgeschichte. S. 355.
Der Schamanismus.
Diese Verirrungen wollen wir als Schamanismus bezeichnen und ihren Ursprung zn ergründen versuchen 1).
10. Der Schamanismus.
Wenn wir fernerhin von Schamanismus sprechen, so muss man sich diesen Begriff stets so weit ausgedehnt denken, dass er alles Zauber- und Ritualwesen einschliesst. Der Name selbst ist aus einer Verderbung von Çramana entstanden, wie in Indien die buddhistischen Einsiedler und Büsser geheissen wurden. Schamanen nannte man indessen bisher nur die Wunderkünstler bei den nordasiatischen Stämmen. Ihre Verrichtungen bestehen hauptsächlich in Zauberkuren, denn bei allen rohen Völkern der Gegenwart oder der Vergangenheit werden Krankheiten und Todes- fälle nur einer Verhexung zugeschrieben 2), gegen welche der Schamane seine Geheimmittel aufbieten muss.
Herkömmlich ist es in Sibirien wie in beiden amerikanischen Festlanden, dass der herbeigerufene Meister an der schmerzenden Körperstelle des Kranken saugt und aus dem Munde bald einen Dorn, bald einen Käfer, bald einen Stein oder irgendeinen un- erwarteten Gegenstand hervorbringt, den er als den ertappten und besiegten Verursacher des Uebels der ängstlich harrenden Menge zeigt. Nicht anders verfahren die Schamanen unter den Dayaken Borneos 3), wie in Südamerika am Orinoco 4), und eine Priesterin unter den Fingokafirn — denn es fehlt auch nicht an weiblichen Künstlern —, welche eine Anzahl Maiskörner trügerischerweise aus dem Leib des Patienten herausgesogen hatte, wurde von der Frau eines Evangelienverkündigers entlarvt. Sie hatte nämlich um sich Brechreiz zu erregen vor dem Possenspiel Tabakblätter verschluckt 5).
1) Der obige Abschnitt erschien abgekürzt und ohne Quellenangabe bereits früher in der Oesterreich. Zeitschrift für Kunst und Wissenschaft. 1872.
2) So von den Australiern (Latham, Varieties, p. 244), von den Kutschin- oder Loucheux-Indianern der Hudsonsbaygebiete (Ausland. 1863. S. 579), von den Hottentotten (Kolbe, Cap der guten Hoffnung S. 438) u. a. m.
3)Spenser St. John, Life in the Far East. London 1862. tom. I. p. 177. p. 201.
4) P. Jos. Gumilla, El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. II, 3; p. 311.
5)Tylor, Urgeschichte. S. 355.
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Der Schamanismus.
Diese Verirrungen wollen wir als Schamanismus bezeichnen und
ihren Ursprung zn ergründen versuchen 1).
10. Der Schamanismus.
Wenn wir fernerhin von Schamanismus sprechen, so muss
man sich diesen Begriff stets so weit ausgedehnt denken, dass
er alles Zauber- und Ritualwesen einschliesst. Der Name selbst
ist aus einer Verderbung von Çramana entstanden, wie in
Indien die buddhistischen Einsiedler und Büsser geheissen wurden.
Schamanen nannte man indessen bisher nur die Wunderkünstler
bei den nordasiatischen Stämmen. Ihre Verrichtungen bestehen
hauptsächlich in Zauberkuren, denn bei allen rohen Völkern der
Gegenwart oder der Vergangenheit werden Krankheiten und Todes-
fälle nur einer Verhexung zugeschrieben 2), gegen welche der
Schamane seine Geheimmittel aufbieten muss.
Herkömmlich ist es in Sibirien wie in beiden amerikanischen
Festlanden, dass der herbeigerufene Meister an der schmerzenden
Körperstelle des Kranken saugt und aus dem Munde bald einen
Dorn, bald einen Käfer, bald einen Stein oder irgendeinen un-
erwarteten Gegenstand hervorbringt, den er als den ertappten und
besiegten Verursacher des Uebels der ängstlich harrenden Menge
zeigt. Nicht anders verfahren die Schamanen unter den Dayaken
Borneos 3), wie in Südamerika am Orinoco 4), und eine Priesterin
unter den Fingokafirn — denn es fehlt auch nicht an weiblichen
Künstlern —, welche eine Anzahl Maiskörner trügerischerweise aus
dem Leib des Patienten herausgesogen hatte, wurde von der Frau
eines Evangelienverkündigers entlarvt. Sie hatte nämlich um sich
Brechreiz zu erregen vor dem Possenspiel Tabakblätter verschluckt 5).
1) Der obige Abschnitt erschien abgekürzt und ohne Quellenangabe bereits
früher in der Oesterreich. Zeitschrift für Kunst und Wissenschaft. 1872.
2) So von den Australiern (Latham, Varieties, p. 244), von den Kutschin-
oder Loucheux-Indianern der Hudsonsbaygebiete (Ausland. 1863. S. 579),
von den Hottentotten (Kolbe, Cap der guten Hoffnung S. 438) u. a. m.
3) Spenser St. John, Life in the Far East. London 1862. tom. I.
p. 177. p. 201.
4) P. Jos. Gumilla, El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. II, 3; p. 311.
5) Tylor, Urgeschichte. S. 355.
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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/292>, abgerufen am 04.03.2025.
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