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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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II.
DIE ARTENEINHEIT ODER ARTENMEHRHEIT DES MENSCHEN-
GESCHLECHTS.

Der Versuch alle sich am besten gleichenden Geschöpfe unter
einen Namen zu vereinigen, ist genau so alt wie die Stufe der
Sprachentwicklung, auf welcher diese Vereinigung durch ein Wort
vollzogen wurde. Bei niedrig gebliebenen Völkern finden wir Aus-
drücke für verschiedne Arten der Eiche, aber keinen für die Eichen-
gattung, ja nicht einmal einen für Baum. Die unterscheidenden
Merkmale wurden daher früher erfasst als die übereinstimmenden
Eigenschaften. Aus einem Bedürfniss der Verständigung über die
Aussenwelt sind Namen für Hund, Wolf und Fuchs entstanden und
damit war bereits eine Classification vollzogen. Wissenschaftlich
gerechtfertigt wurden solche Sprachbildungen aber erst von Linne.
Der Artenbegriff ist also vor noch nicht anderthalb Jahrhunderten
aufgestellt worden und zwar dachte Linne sich die Arten keines-
wegs schon als von Anfang her starr begrenzt, sondern er glaubte,
dass neue Species aus den Blendlingen ungleicher Vertreter der
Gattungen hervorgehen könnten. Goethe wiederum durfte noch
immer behaupten, dass die Natur blos Einzelgeschöpfe kenne, die
Arten daher nur in den Lehrbüchern vorhanden seien.

Als man für die typischen Verschiedenheiten des Menschen-
geschlechtes ebenfalls Schlagwörter ersinnen wollte, erhob sich so-
gleich der Streit, ob die Völker der Erde in verschiedne Arten
oder nur in verschiedne Spielarten zerfallen. So sind es oft die
höchsten und dunkelsten Aufgaben, die Unvorbereitete am stärksten
anziehen und dann zu verfrühten, also gänzlich werthlosen Ent-
scheidungen fortreissen. Nicht einmal mit Unbefangenheit traten
die älteren Anthropologen an die Lösung des schwierigen Räthsels,
denn die einen bemühten sich das Schlussergebniss in Überein-
stimmung zu setzen mit der hebräischen Sage von der Schöpfung

II.
DIE ARTENEINHEIT ODER ARTENMEHRHEIT DES MENSCHEN-
GESCHLECHTS.

Der Versuch alle sich am besten gleichenden Geschöpfe unter
einen Namen zu vereinigen, ist genau so alt wie die Stufe der
Sprachentwicklung, auf welcher diese Vereinigung durch ein Wort
vollzogen wurde. Bei niedrig gebliebenen Völkern finden wir Aus-
drücke für verschiedne Arten der Eiche, aber keinen für die Eichen-
gattung, ja nicht einmal einen für Baum. Die unterscheidenden
Merkmale wurden daher früher erfasst als die übereinstimmenden
Eigenschaften. Aus einem Bedürfniss der Verständigung über die
Aussenwelt sind Namen für Hund, Wolf und Fuchs entstanden und
damit war bereits eine Classification vollzogen. Wissenschaftlich
gerechtfertigt wurden solche Sprachbildungen aber erst von Linné.
Der Artenbegriff ist also vor noch nicht anderthalb Jahrhunderten
aufgestellt worden und zwar dachte Linné sich die Arten keines-
wegs schon als von Anfang her starr begrenzt, sondern er glaubte,
dass neue Species aus den Blendlingen ungleicher Vertreter der
Gattungen hervorgehen könnten. Goethe wiederum durfte noch
immer behaupten, dass die Natur blos Einzelgeschöpfe kenne, die
Arten daher nur in den Lehrbüchern vorhanden seien.

Als man für die typischen Verschiedenheiten des Menschen-
geschlechtes ebenfalls Schlagwörter ersinnen wollte, erhob sich so-
gleich der Streit, ob die Völker der Erde in verschiedne Arten
oder nur in verschiedne Spielarten zerfallen. So sind es oft die
höchsten und dunkelsten Aufgaben, die Unvorbereitete am stärksten
anziehen und dann zu verfrühten, also gänzlich werthlosen Ent-
scheidungen fortreissen. Nicht einmal mit Unbefangenheit traten
die älteren Anthropologen an die Lösung des schwierigen Räthsels,
denn die einen bemühten sich das Schlussergebniss in Überein-
stimmung zu setzen mit der hebräischen Sage von der Schöpfung

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[[7]/0025] II. DIE ARTENEINHEIT ODER ARTENMEHRHEIT DES MENSCHEN- GESCHLECHTS. Der Versuch alle sich am besten gleichenden Geschöpfe unter einen Namen zu vereinigen, ist genau so alt wie die Stufe der Sprachentwicklung, auf welcher diese Vereinigung durch ein Wort vollzogen wurde. Bei niedrig gebliebenen Völkern finden wir Aus- drücke für verschiedne Arten der Eiche, aber keinen für die Eichen- gattung, ja nicht einmal einen für Baum. Die unterscheidenden Merkmale wurden daher früher erfasst als die übereinstimmenden Eigenschaften. Aus einem Bedürfniss der Verständigung über die Aussenwelt sind Namen für Hund, Wolf und Fuchs entstanden und damit war bereits eine Classification vollzogen. Wissenschaftlich gerechtfertigt wurden solche Sprachbildungen aber erst von Linné. Der Artenbegriff ist also vor noch nicht anderthalb Jahrhunderten aufgestellt worden und zwar dachte Linné sich die Arten keines- wegs schon als von Anfang her starr begrenzt, sondern er glaubte, dass neue Species aus den Blendlingen ungleicher Vertreter der Gattungen hervorgehen könnten. Goethe wiederum durfte noch immer behaupten, dass die Natur blos Einzelgeschöpfe kenne, die Arten daher nur in den Lehrbüchern vorhanden seien. Als man für die typischen Verschiedenheiten des Menschen- geschlechtes ebenfalls Schlagwörter ersinnen wollte, erhob sich so- gleich der Streit, ob die Völker der Erde in verschiedne Arten oder nur in verschiedne Spielarten zerfallen. So sind es oft die höchsten und dunkelsten Aufgaben, die Unvorbereitete am stärksten anziehen und dann zu verfrühten, also gänzlich werthlosen Ent- scheidungen fortreissen. Nicht einmal mit Unbefangenheit traten die älteren Anthropologen an die Lösung des schwierigen Räthsels, denn die einen bemühten sich das Schlussergebniss in Überein- stimmung zu setzen mit der hebräischen Sage von der Schöpfung

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. [7]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/25>, abgerufen am 19.11.2024.