Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite
EINLEITUNG.

I.
DIE STELLUNG DES MENSCHEN IN DER SCHÖPFUNG.

Schon bei dem ersten Versuche die belebte Schöpfung zu
classificiren, vereinigte Linne, ohne einen Anstoss zu erregen inner-
halb der Säugethierclasse, die Menschen und die Affen zu einer
Ordnung, welche er als die Primaten bezeichnete. In unsern
Tagen hat sich jedoch ein wissenschaftlicher Streit entsponnen, ob
das Menschengeschlecht von den Affen durch den Rang einer Ord-
nung oder nur durch den einer Unterordnung getrennt werden
solle. Da es sich hier darum handelt, welchen Werth man den
Begriffen Ordnung oder Unterordnung innerhalb eines systema-
tischen Baues beizulegen gesonnen ist, so hat die Völkerkunde
keinen Beruf sich in diese Verhandlungen zu mischen. Richard
Owen glaubte sich überzeugt zu haben, dass bei dem Menschen
allein das kleine Gehirn vollständig vom grossen überragt werde
und uns dadurch ein entschieden höherer Rang selbst über die am
günstigsten gebauten Affenarten gesichert sei. Dass aber diese
Behauptung nur auf irrigen Beobachtungen beruhte, ist allgemein
anerkannt worden, selbst von solchen Naturforschern, die wie Gra-
tiolet, gegen die Lehre der historisch erfolgenden Artenumwand-
lungen sich erklärt haben.

Auch die Unterscheidung des Menschen und der Affen als Zwei-
händer und als Vierhänder ist durch neuere Untersuchungen be-
seitigt worden. Die Fusswurzelknochen des Gorilla gleichen in allen
wichtigen Beziehungen der Zahl, Anordnung und Form denen des
Menschen. Nur sind bei diesem Thiere die Mittelfussknochen und
Finger verhältnissmässig länger und schlanker, während die grosse

Peschel, Völkerkunde. 1
EINLEITUNG.

I.
DIE STELLUNG DES MENSCHEN IN DER SCHÖPFUNG.

Schon bei dem ersten Versuche die belebte Schöpfung zu
classificiren, vereinigte Linné, ohne einen Anstoss zu erregen inner-
halb der Säugethierclasse, die Menschen und die Affen zu einer
Ordnung, welche er als die Primaten bezeichnete. In unsern
Tagen hat sich jedoch ein wissenschaftlicher Streit entsponnen, ob
das Menschengeschlecht von den Affen durch den Rang einer Ord-
nung oder nur durch den einer Unterordnung getrennt werden
solle. Da es sich hier darum handelt, welchen Werth man den
Begriffen Ordnung oder Unterordnung innerhalb eines systema-
tischen Baues beizulegen gesonnen ist, so hat die Völkerkunde
keinen Beruf sich in diese Verhandlungen zu mischen. Richard
Owen glaubte sich überzeugt zu haben, dass bei dem Menschen
allein das kleine Gehirn vollständig vom grossen überragt werde
und uns dadurch ein entschieden höherer Rang selbst über die am
günstigsten gebauten Affenarten gesichert sei. Dass aber diese
Behauptung nur auf irrigen Beobachtungen beruhte, ist allgemein
anerkannt worden, selbst von solchen Naturforschern, die wie Gra-
tiolet, gegen die Lehre der historisch erfolgenden Artenumwand-
lungen sich erklärt haben.

Auch die Unterscheidung des Menschen und der Affen als Zwei-
händer und als Vierhänder ist durch neuere Untersuchungen be-
seitigt worden. Die Fusswurzelknochen des Gorilla gleichen in allen
wichtigen Beziehungen der Zahl, Anordnung und Form denen des
Menschen. Nur sind bei diesem Thiere die Mittelfussknochen und
Finger verhältnissmässig länger und schlanker, während die grosse

Peschel, Völkerkunde. 1
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0019" n="[1]"/>
      <div n="1">
        <head><hi rendition="#g">EINLEITUNG</hi>.</head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>I.<lb/>
DIE STELLUNG DES MENSCHEN IN DER SCHÖPFUNG.</head><lb/>
          <p>Schon bei dem ersten Versuche die belebte Schöpfung zu<lb/>
classificiren, vereinigte Linné, ohne einen Anstoss zu erregen inner-<lb/>
halb der Säugethierclasse, die Menschen und die Affen zu einer<lb/>
Ordnung, welche er als die Primaten bezeichnete. In unsern<lb/>
Tagen hat sich jedoch ein wissenschaftlicher Streit entsponnen, ob<lb/>
das Menschengeschlecht von den Affen durch den Rang einer Ord-<lb/>
nung oder nur durch den einer Unterordnung getrennt werden<lb/>
solle. Da es sich hier darum handelt, welchen Werth man den<lb/>
Begriffen Ordnung oder Unterordnung innerhalb eines systema-<lb/>
tischen Baues beizulegen gesonnen ist, so hat die Völkerkunde<lb/>
keinen Beruf sich in diese Verhandlungen zu mischen. Richard<lb/>
Owen glaubte sich überzeugt zu haben, dass bei dem Menschen<lb/>
allein das kleine Gehirn vollständig vom grossen überragt werde<lb/>
und uns dadurch ein entschieden höherer Rang selbst über die am<lb/>
günstigsten gebauten Affenarten gesichert sei. Dass aber diese<lb/>
Behauptung nur auf irrigen Beobachtungen beruhte, ist allgemein<lb/>
anerkannt worden, selbst von solchen Naturforschern, die wie Gra-<lb/>
tiolet, gegen die Lehre der historisch erfolgenden Artenumwand-<lb/>
lungen sich erklärt haben.</p><lb/>
          <p>Auch die Unterscheidung des Menschen und der Affen als Zwei-<lb/>
händer und als Vierhänder ist durch neuere Untersuchungen be-<lb/>
seitigt worden. Die Fusswurzelknochen des Gorilla gleichen in allen<lb/>
wichtigen Beziehungen der Zahl, Anordnung und Form denen des<lb/>
Menschen. Nur sind bei diesem Thiere die Mittelfussknochen und<lb/>
Finger verhältnissmässig länger und schlanker, während die grosse<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#i">Peschel</hi>, Völkerkunde. 1</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[1]/0019] EINLEITUNG. I. DIE STELLUNG DES MENSCHEN IN DER SCHÖPFUNG. Schon bei dem ersten Versuche die belebte Schöpfung zu classificiren, vereinigte Linné, ohne einen Anstoss zu erregen inner- halb der Säugethierclasse, die Menschen und die Affen zu einer Ordnung, welche er als die Primaten bezeichnete. In unsern Tagen hat sich jedoch ein wissenschaftlicher Streit entsponnen, ob das Menschengeschlecht von den Affen durch den Rang einer Ord- nung oder nur durch den einer Unterordnung getrennt werden solle. Da es sich hier darum handelt, welchen Werth man den Begriffen Ordnung oder Unterordnung innerhalb eines systema- tischen Baues beizulegen gesonnen ist, so hat die Völkerkunde keinen Beruf sich in diese Verhandlungen zu mischen. Richard Owen glaubte sich überzeugt zu haben, dass bei dem Menschen allein das kleine Gehirn vollständig vom grossen überragt werde und uns dadurch ein entschieden höherer Rang selbst über die am günstigsten gebauten Affenarten gesichert sei. Dass aber diese Behauptung nur auf irrigen Beobachtungen beruhte, ist allgemein anerkannt worden, selbst von solchen Naturforschern, die wie Gra- tiolet, gegen die Lehre der historisch erfolgenden Artenumwand- lungen sich erklärt haben. Auch die Unterscheidung des Menschen und der Affen als Zwei- händer und als Vierhänder ist durch neuere Untersuchungen be- seitigt worden. Die Fusswurzelknochen des Gorilla gleichen in allen wichtigen Beziehungen der Zahl, Anordnung und Form denen des Menschen. Nur sind bei diesem Thiere die Mittelfussknochen und Finger verhältnissmässig länger und schlanker, während die grosse Peschel, Völkerkunde. 1

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/19
Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/19>, abgerufen am 22.12.2024.