Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite
DIE SPRACHMERKMALE.
1. Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.

Versteht man unter Sprache das Mittel, anderen Geschöpfen
Erregungen oder Absichten mitzutheilen, so besitzen sogar die
wirbellosen Thiere solche Fähigkeiten. Insecten, die in sogenannten
Staaten beisammen leben, wie die Ameisen, sehen wir wie auf
Verabredung planvolle Kriegsunternehmungen und Ueberfälle aus-
führen. Wenn ein Scarabäus den Düngerball, der das Ei ein-
schliesst, beim Rollen in eine Bodenvertiefung gerathen lässt und
die Anstrengungen des Käfers nicht ausreichen, ihn wieder auf
eine glatte Bahn zu bringen, so fliegt er fort, um nach einiger
Zeit mit etlichen Helfern wieder zu kehren, die nun gemeinsam die
Kugel an den Wänden des Abhangs hinaufwälzen. Ohne Zweifel
müssen also diese Geschöpfe Mittel besitzen, sich über eine Ver-
einigung zu einer solchen Leistung zu verständigen. Bei unsern
Singvögeln können wir nach kurzer Beobachtungszeit schon die
verschiedenen Töne unterscheiden, welche sie ausstossen, wenn sie
die Jungen vor einer Gefahr warnen, zum Futter herbeirufen oder
sich gegenseitig zur Paarung locken wollen. Diese Thiere verfügen
also für eine kleine Anzahl von Lebensbedürfnissen über eine
gleiche Anzahl von Signalen, welche ihre erforderliche Wirkung
nicht versagen und diese Signale sind, wie wir vorläufig nicht
anders vermuthen können, von ihnen wie die Instinkte erworben
und vererbt worden. Die Bedürfnisse der Mittheilung sind be
keinem Thiere mannigfacher und dringender als beim Hunde. Wir
verstehen vollständig sein Bellen, ob es Freude, Missbehagen, War-
nung vor Gefahr, einen bestimmten Wunsch oder eine Kriegs-
erklärung bedeuten soll. Der Hund beschränkt sich nicht blos auf

DIE SPRACHMERKMALE.
1. Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.

Versteht man unter Sprache das Mittel, anderen Geschöpfen
Erregungen oder Absichten mitzutheilen, so besitzen sogar die
wirbellosen Thiere solche Fähigkeiten. Insecten, die in sogenannten
Staaten beisammen leben, wie die Ameisen, sehen wir wie auf
Verabredung planvolle Kriegsunternehmungen und Ueberfälle aus-
führen. Wenn ein Scarabäus den Düngerball, der das Ei ein-
schliesst, beim Rollen in eine Bodenvertiefung gerathen lässt und
die Anstrengungen des Käfers nicht ausreichen, ihn wieder auf
eine glatte Bahn zu bringen, so fliegt er fort, um nach einiger
Zeit mit etlichen Helfern wieder zu kehren, die nun gemeinsam die
Kugel an den Wänden des Abhangs hinaufwälzen. Ohne Zweifel
müssen also diese Geschöpfe Mittel besitzen, sich über eine Ver-
einigung zu einer solchen Leistung zu verständigen. Bei unsern
Singvögeln können wir nach kurzer Beobachtungszeit schon die
verschiedenen Töne unterscheiden, welche sie ausstossen, wenn sie
die Jungen vor einer Gefahr warnen, zum Futter herbeirufen oder
sich gegenseitig zur Paarung locken wollen. Diese Thiere verfügen
also für eine kleine Anzahl von Lebensbedürfnissen über eine
gleiche Anzahl von Signalen, welche ihre erforderliche Wirkung
nicht versagen und diese Signale sind, wie wir vorläufig nicht
anders vermuthen können, von ihnen wie die Instinkte erworben
und vererbt worden. Die Bedürfnisse der Mittheilung sind be
keinem Thiere mannigfacher und dringender als beim Hunde. Wir
verstehen vollständig sein Bellen, ob es Freude, Missbehagen, War-
nung vor Gefahr, einen bestimmten Wunsch oder eine Kriegs-
erklärung bedeuten soll. Der Hund beschränkt sich nicht blos auf

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0121" n="[103]"/>
      <div n="1">
        <head>DIE SPRACHMERKMALE.</head><lb/>
        <div n="2">
          <head>1. <hi rendition="#g">Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache</hi>.</head><lb/>
          <p>Versteht man unter Sprache das Mittel, anderen Geschöpfen<lb/>
Erregungen oder Absichten mitzutheilen, so besitzen sogar die<lb/>
wirbellosen Thiere solche Fähigkeiten. Insecten, die in sogenannten<lb/>
Staaten beisammen leben, wie die Ameisen, sehen wir wie auf<lb/>
Verabredung planvolle Kriegsunternehmungen und Ueberfälle aus-<lb/>
führen. Wenn ein Scarabäus den Düngerball, der das Ei ein-<lb/>
schliesst, beim Rollen in eine Bodenvertiefung gerathen lässt und<lb/>
die Anstrengungen des Käfers nicht ausreichen, ihn wieder auf<lb/>
eine glatte Bahn zu bringen, so fliegt er fort, um nach einiger<lb/>
Zeit mit etlichen Helfern wieder zu kehren, die nun gemeinsam die<lb/>
Kugel an den Wänden des Abhangs hinaufwälzen. Ohne Zweifel<lb/>
müssen also diese Geschöpfe Mittel besitzen, sich über eine Ver-<lb/>
einigung zu einer solchen Leistung zu verständigen. Bei unsern<lb/>
Singvögeln können wir nach kurzer Beobachtungszeit schon die<lb/>
verschiedenen Töne unterscheiden, welche sie ausstossen, wenn sie<lb/>
die Jungen vor einer Gefahr warnen, zum Futter herbeirufen oder<lb/>
sich gegenseitig zur Paarung locken wollen. Diese Thiere verfügen<lb/>
also für eine kleine Anzahl von Lebensbedürfnissen über eine<lb/>
gleiche Anzahl von Signalen, welche ihre erforderliche Wirkung<lb/>
nicht versagen und diese Signale sind, wie wir vorläufig nicht<lb/>
anders vermuthen können, von ihnen wie die Instinkte erworben<lb/>
und vererbt worden. Die Bedürfnisse der Mittheilung sind be<lb/>
keinem Thiere mannigfacher und dringender als beim Hunde. Wir<lb/>
verstehen vollständig sein Bellen, ob es Freude, Missbehagen, War-<lb/>
nung vor Gefahr, einen bestimmten Wunsch oder eine Kriegs-<lb/>
erklärung bedeuten soll. Der Hund beschränkt sich nicht blos auf<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[103]/0121] DIE SPRACHMERKMALE. 1. Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache. Versteht man unter Sprache das Mittel, anderen Geschöpfen Erregungen oder Absichten mitzutheilen, so besitzen sogar die wirbellosen Thiere solche Fähigkeiten. Insecten, die in sogenannten Staaten beisammen leben, wie die Ameisen, sehen wir wie auf Verabredung planvolle Kriegsunternehmungen und Ueberfälle aus- führen. Wenn ein Scarabäus den Düngerball, der das Ei ein- schliesst, beim Rollen in eine Bodenvertiefung gerathen lässt und die Anstrengungen des Käfers nicht ausreichen, ihn wieder auf eine glatte Bahn zu bringen, so fliegt er fort, um nach einiger Zeit mit etlichen Helfern wieder zu kehren, die nun gemeinsam die Kugel an den Wänden des Abhangs hinaufwälzen. Ohne Zweifel müssen also diese Geschöpfe Mittel besitzen, sich über eine Ver- einigung zu einer solchen Leistung zu verständigen. Bei unsern Singvögeln können wir nach kurzer Beobachtungszeit schon die verschiedenen Töne unterscheiden, welche sie ausstossen, wenn sie die Jungen vor einer Gefahr warnen, zum Futter herbeirufen oder sich gegenseitig zur Paarung locken wollen. Diese Thiere verfügen also für eine kleine Anzahl von Lebensbedürfnissen über eine gleiche Anzahl von Signalen, welche ihre erforderliche Wirkung nicht versagen und diese Signale sind, wie wir vorläufig nicht anders vermuthen können, von ihnen wie die Instinkte erworben und vererbt worden. Die Bedürfnisse der Mittheilung sind be keinem Thiere mannigfacher und dringender als beim Hunde. Wir verstehen vollständig sein Bellen, ob es Freude, Missbehagen, War- nung vor Gefahr, einen bestimmten Wunsch oder eine Kriegs- erklärung bedeuten soll. Der Hund beschränkt sich nicht blos auf

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/121
Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. [103]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/121>, abgerufen am 22.12.2024.