Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[N. N.]: Von der Ode. In: Vermischte Beyträge zur Philosophie und den schönen Wissenschaften, 2,1 (1763), S. 152–177.

Bild:
<< vorherige Seite
Ich fliehe stolz der sterblichen Revier;
Ich eil in unbeflogne Höhen.
Wie keichet hinter mir
Der Vogel Jupiters, beschämt, mir nachzusehen!
In Gegenden, wo mein entzücktes Ohr
Der Sphären Harmonie verwirret,
O Muse! fleug mir vor,
Du, deren freyer Flug oft irrt, sich nicht verirret!
Ich folge dir bald bis zur Sonnen hin,
Bald in den ungebahnten Haynen,
Mit Libers Priesterinn,
Wo keine Muse gieng und andre Sterne scheinen.

Der Enthusiamus hat seine Grade. Er muß sich nach der Beschaffenheit des Gegenstandes äußern. Daher folgt: in einer Ode, die stärkere Affekten hat, muß mehr Begeisterung angetroffen werden, als in der, wo der Affekt nicht so heftig ist.

Der odenmäßige Schwung.

Aus der Begeisterung läßt sich der Schwung der Ode am nächsten herleiten. Dieser verhält sich zum Enthusiasmus, wie ein Theil zu seinem Ganzen. Ueberall muß man in einer wahren Ode Merkmale der Begeisterung antreffen; aber nicht in jeder Stelle den Schwung. Man sagt von einem Dichter, er schwinge sich in die Höhe, wenn er sich der ordentlichen Sphäre unserer Denkungsart entzieht; wenn er sich aus unserm Gesichte zu verliehren scheint, und wenn man aus dem Glanze der Bilder in seinen Gedichten die Größe des Gegenstandes am lebhaftesten empfindet. Da er aber nicht beständig, sondern nur einige Augenblicke in dieser Fassung bleiben kann, wo er nicht das Schicksal des Ikarus erfahren, und seine Leser in eine blendende Verwirrung setzen will; so werden wir auch nur in einzelnen Stellen der Ode die Spuren des Schwunges entdecken. Dieses sind aber diejenigen, wo der Vereinigungspunkt der Schönheit sich befindet. Die schönsten Stellen in einer Ode machen folglich

Ich fliehe stolz der sterblichen Revier;
Ich eil in unbeflogne Höhen.
Wie keichet hinter mir
Der Vogel Jupiters, beschämt, mir nachzusehen!
In Gegenden, wo mein entzücktes Ohr
Der Sphären Harmonie verwirret,
O Muse! fleug mir vor,
Du, deren freyer Flug oft irrt, sich nicht verirret!
Ich folge dir bald bis zur Sonnen hin,
Bald in den ungebahnten Haynen,
Mit Libers Priesterinn,
Wo keine Muse gieng und andre Sterne scheinen.

Der Enthusiamus hat seine Grade. Er muß sich nach der Beschaffenheit des Gegenstandes äußern. Daher folgt: in einer Ode, die stärkere Affekten hat, muß mehr Begeisterung angetroffen werden, als in der, wo der Affekt nicht so heftig ist.

Der odenmäßige Schwung.

Aus der Begeisterung läßt sich der Schwung der Ode am nächsten herleiten. Dieser verhält sich zum Enthusiasmus, wie ein Theil zu seinem Ganzen. Ueberall muß man in einer wahren Ode Merkmale der Begeisterung antreffen; aber nicht in jeder Stelle den Schwung. Man sagt von einem Dichter, er schwinge sich in die Höhe, wenn er sich der ordentlichen Sphäre unserer Denkungsart entzieht; wenn er sich aus unserm Gesichte zu verliehren scheint, und wenn man aus dem Glanze der Bilder in seinen Gedichten die Größe des Gegenstandes am lebhaftesten empfindet. Da er aber nicht beständig, sondern nur einige Augenblicke in dieser Fassung bleiben kann, wo er nicht das Schicksal des Ikarus erfahren, und seine Leser in eine blendende Verwirrung setzen will; so werden wir auch nur in einzelnen Stellen der Ode die Spuren des Schwunges entdecken. Dieses sind aber diejenigen, wo der Vereinigungspunkt der Schönheit sich befindet. Die schönsten Stellen in einer Ode machen folglich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="3">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0009" n="159"/>
            <lg n="2">
              <l>Ich fliehe stolz der sterblichen Revier;</l><lb/>
              <l>Ich eil in unbeflogne Höhen.</l><lb/>
              <l> Wie keichet hinter mir</l><lb/>
              <l>Der Vogel Jupiters, beschämt, mir nachzusehen!</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="3">
              <l>In Gegenden, wo mein entzücktes Ohr</l><lb/>
              <l>Der Sphären Harmonie verwirret,</l><lb/>
              <l>O Muse! fleug mir vor,</l><lb/>
              <l>Du, deren freyer Flug oft irrt, sich nicht verirret!</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="4">
              <l>Ich folge dir bald bis zur Sonnen hin,</l><lb/>
              <l> Bald in den ungebahnten Haynen,</l><lb/>
              <l> Mit Libers Priesterinn,</l><lb/>
              <l>Wo keine Muse gieng und andre Sterne scheinen.</l><lb/>
            </lg>
          </lg>
          <p>  Der Enthusiamus hat seine Grade. Er muß sich nach der Beschaffenheit   des Gegenstandes äußern. Daher folgt: in einer Ode, die stärkere   Affekten hat, muß mehr Begeisterung angetroffen werden, als in der, wo der   Affekt nicht so heftig ist.<lb/></p>
        </div>
        <div n="3">
          <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b">Der odenmäßige Schwung.</hi> </hi> </head>
          <p>  Aus der Begeisterung läßt sich der Schwung der Ode am nächsten   herleiten. Dieser verhält sich zum Enthusiasmus, wie ein Theil zu seinem   Ganzen. Ueberall muß man in einer wahren Ode Merkmale der Begeisterung   antreffen; aber nicht in jeder Stelle den Schwung. Man sagt von einem Dichter,   er schwinge sich in die Höhe, wenn er sich der ordentlichen Sphäre   unserer Denkungsart entzieht; wenn er sich aus unserm Gesichte zu verliehren   scheint, und wenn man aus dem Glanze der Bilder in seinen Gedichten die   Größe des Gegenstandes am lebhaftesten empfindet. Da er aber   nicht beständig, sondern nur einige Augenblicke in dieser Fassung   bleiben kann, wo er nicht das Schicksal des Ikarus erfahren, und seine   Leser in eine blendende Verwirrung setzen will; so werden wir auch nur in   einzelnen Stellen der Ode die Spuren des Schwunges entdecken. Dieses sind   aber diejenigen, wo der Vereinigungspunkt der Schönheit sich befindet.   Die schönsten Stellen in einer Ode machen folglich
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[159/0009] Ich fliehe stolz der sterblichen Revier; Ich eil in unbeflogne Höhen. Wie keichet hinter mir Der Vogel Jupiters, beschämt, mir nachzusehen! In Gegenden, wo mein entzücktes Ohr Der Sphären Harmonie verwirret, O Muse! fleug mir vor, Du, deren freyer Flug oft irrt, sich nicht verirret! Ich folge dir bald bis zur Sonnen hin, Bald in den ungebahnten Haynen, Mit Libers Priesterinn, Wo keine Muse gieng und andre Sterne scheinen. Der Enthusiamus hat seine Grade. Er muß sich nach der Beschaffenheit des Gegenstandes äußern. Daher folgt: in einer Ode, die stärkere Affekten hat, muß mehr Begeisterung angetroffen werden, als in der, wo der Affekt nicht so heftig ist. Der odenmäßige Schwung. Aus der Begeisterung läßt sich der Schwung der Ode am nächsten herleiten. Dieser verhält sich zum Enthusiasmus, wie ein Theil zu seinem Ganzen. Ueberall muß man in einer wahren Ode Merkmale der Begeisterung antreffen; aber nicht in jeder Stelle den Schwung. Man sagt von einem Dichter, er schwinge sich in die Höhe, wenn er sich der ordentlichen Sphäre unserer Denkungsart entzieht; wenn er sich aus unserm Gesichte zu verliehren scheint, und wenn man aus dem Glanze der Bilder in seinen Gedichten die Größe des Gegenstandes am lebhaftesten empfindet. Da er aber nicht beständig, sondern nur einige Augenblicke in dieser Fassung bleiben kann, wo er nicht das Schicksal des Ikarus erfahren, und seine Leser in eine blendende Verwirrung setzen will; so werden wir auch nur in einzelnen Stellen der Ode die Spuren des Schwunges entdecken. Dieses sind aber diejenigen, wo der Vereinigungspunkt der Schönheit sich befindet. Die schönsten Stellen in einer Ode machen folglich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Universität Duisburg-Essen, Projekt Lyriktheorie (Dr. Rudolf Brandmeyer): Bereitstellung der Texttranskription. (2018-07-16T15:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Rahel Gajaneh Hartz: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-07-16T15:00:00Z)

Weitere Informationen:

Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.uni-due.de/lyriktheorie/beiwerk/projekt.html#edition formulierten Richtlinien.

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: keine Angabe; Zeilenumbrüche markiert: keine Angabe;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_ode_1763
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_ode_1763/9
Zitationshilfe: [N. N.]: Von der Ode. In: Vermischte Beyträge zur Philosophie und den schönen Wissenschaften, 2,1 (1763), S. 152–177, hier S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_ode_1763/9>, abgerufen am 22.12.2024.