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Allgemeine Zeitung, Nr. 88, 31. März 1900.

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Nr. 88. Morgenblatt.103. Jahrgang.
München , Samstag, 31. März 1900.


Allgemeine Zeitung.
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Wöchentlich
12 Ausgaben.
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jährlich M. 36. --,
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(viertelj. M. 9. --,
ohne Beil. M. 4.50);
in München b. d Ex-
pedition od. d. Depots
monatlich M. 2. --,
ohne Beil. M. 1.20.
Zustellg. mil. 50 Pf.
Direkter Bezug für
Deutschl. u. Oesterreich
monatlich M. 4. --,
ohne Beil. M. 3. --,
Ausland M. 5.60,
ohne Beil. M. 4.40.
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für die kleinspaltige
Kolonelzeile od. deren
Raum 25 Pfennig;
finanzielle Anzeigen
35 Pf.; lokale Ver-
kaufsanzeig. 20 Pf.;
Stellengesuche 15 Pf.


Redaktion und Expe-
dition befinden sich
Schwanthalerstr. 36
in München.


Berichte sind an die
Redaktion, Inserat-
aufträge an die Ex-
pedition franko ein-
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E. Stechert, Westermann u. Co., International News Comp., 83 und 85 Duane Str. in New-York.
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Leipzigerstraße 11,
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Wien, Pest, London, Zürich, Basel etc. bei den Annoncenbureaux R. Mosse, Haasenste in u. Vogler. G. L.
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In den Filialen der Zeitungsbureaux Invalidendank zu Berlin, Dresden, Leipzig, Chemnitz etc.
Außerdem in Berlin bei B. Arndt (Mohrenstraße 26) und S. Kornik (Kochstraße 23); für Frankreich bei John
F. Jones u. Co., 31bis Faubourg Montmartre in Paris.
Verantwortlich für den politischen Theil der Chefredakteur Hans Tournier, für das Feuilleton Alfred Frhr. v. Mensi, für den Handelstheil Ernst Barth, sämmtlich in München.
Druck und Verlag der Gesellschaft mit beschränkter Haftung "Verlag der Allgemeinen Zeitung" in München.


Bestellungen auf die Allgemeine Zeitung für das nächste Quartal
bitten wir für München bei der Expedition, Schwanthalerstraße Nr. 36, oder deren Filiale im Domhof (Liebfrauenstraße), bezw. bei den im Stadtbezirk
errichteten Abholstellen, für auswärts bei dem nächsten Postamt (Bayerischer Zeitungskatalog Nr. 22/3, Zeitungskatalog der Reichspost Nr. 167/8), für das Ausland entweder
gleichfalls bei den Postämtern oder bei den am Kopf der Zeitung genannten Agenturen möglichst bald aufzugeben.


[Spaltenumbruch]
Die überseeischen Kapitalinteressen Deutschlands
und die deutsche Auslandsflotte.

In einer vom Reichsmarineamt zusammengestellten
Uebersicht werden die in überseeischen Ländern in
Handel und Bankgeschäft, in der Industrie, in Grund-
besitz und Plantagen und dergleichen Unternehmungen
angelegten deutschen Kapitalien auf Grund einer
möglichst zuverlässigen Schätzung auf 7 bis 7 1/2 Milliarden
Mark beziffert. Wie groß die Zinserträge sind, bezw.
ein wie großer Antheil davon direkt nach Deutschland
zurückfließt, läßt sich auch schätzungsweise nicht feststellen,
doch wird von Sachverständigen versichert, daß als an-
gemessener Ertrag aus überseeischen Unternehmungen ein
Verzinsungssatz von 6 bis 10 Prozent und selbst darüber
anzusehen sei. Nimmt man aber, angesichts der That-
sache, daß ein Theil der Zinsen im Auslande verbleibt,
auch nur einen Durchschnittssatz von 6 Proz. an, so folgt
daraus, daß das deutsche Nationaleinkommen durch die
überseeischen Kapitalanlagen einen jährlichen Zuwachs
von 420 bis 450 Millionen Mark erfährt. Die hier in
Betracht kommenden Kapitalanlagen vertheilen sich auf
die verschiedenen überseeischen Gebiete etwa wie folgt:

Türkisches Reich und Aegypten: 400 Mill. M.
Afrika (ohne Aegypten und die deutschen Schutzgebiete):
über 1000 Mill. M.
Asien (ausschließlich der asiatischen Türkei): 650--700
Mill. M.
Australien und die Südsee-Inseln (ohne die
deutschen Schutzgebiete): 570--600 Mill. M.
Länder um das amerikanische Mittelmeer und
westindische Inseln: 1000--1250 Mill. M.
Südamerika (ausschließlich der Nordküste): 1500--1700
Mill. M.
Nordamerika: 2000 Mill. M.

Bei diesen Ziffern ist aber die Anlage deutschen
Kapitals in auswärtigen Anleihen und Spekulations-
unternehmungen, die sich ihrem Umfange nach überhaupt
nicht feststellen läßt, bei der es jedoch zweifellos um ganz
gewaltige Summen sich handelt, noch nicht mit in An-
schlag gebracht.

Es liegt auf der Hand, daß durch die zunehmende
Ausdehnung der vielgestaltigen deutschen Kapitalinteressen
über den ganzen Erdball und durch das stetige Wachsen
des deutschen Autheils an der Weltwirthschaft dem Reich
und seinen Organen, speziell der Leitung der auswärtigen
Angelegenheiten und dem Marine-Amt, eine nicht eben
leicht zu tragende und von Jahr zu Jahr sich steigernde
Verantwortung auferlegt wird. Denn das Reich muß
nicht nur darauf Bedacht nehmen, in diesem oder jenem
[Spaltenumbruch] kleinen Uebersee-Staat die Arbeit seiner Angehörigen und
ihre Erträgnisse gegen Vergewaltigungsgelüste gewissen-
loser Machthaber zu schützen oder vor Schädigungen durch
die nicht seltenen revolutionären Bewegungen zu bewahren,
sondern es muß auch jederzeit bereit und imstande sein,
zu verhindern, daß andere Großmächte im Vertrauen auf
ihre maritime Ueberlegenheit die Rechte oder das Inter-
essengebiet deutscher Unterthanen jenseit des Meeres, sei
es direkt, sei es indirekt, angreifen.

Unter diesen Umständen wird man den in der Budget-
kommission des Reichstags bei der Generaldebatte über die
Novelle zum Flottengesetz von 1898 von einem der Vertreter
des Centrums, dem Abg. Müller-Fulda, angeregten Ge-
danken, nur zwar die Verstärkung der Schlachtflotte
zu acceptiren, auf die geplante Vermehrung der Aus-
landsflotte
jedoch einstweilen zu verzichten und
speziell beim Bau der kleineren Kreuzer Beschrän-
kungen
eintreten zu lassen, als mit den nationaln Be-
dürfnissen und Interessen vereinbar gewiß nicht bezeichnen
dürfen. Das dem Reichstag jetzt vorliegende Schiffsbau-
programm beschränkt sich bei den Vorschlägen zur Ver-
mehrung der Kreuzerflotte, die an die Schlachtflotte nur
die zu Aufklärungszwecken erforderlichen Schiffe abzu-
geben, im übrigen aber den Auslandsdienst zu versehen hat,
ohnehin auf das unbedingt Nothwendige; selbst wenn es
im vollen Umfange zur Ausführung gelangt, werden die
Vereinigten Staaten, Frankreich und Rußland -- von Eng-
land gar nicht zu reden -- immer noch an Kreuzern, kleine-
ren wie größeren, uns überlegen sein. Und wenn man bei
uns an den maßgebenden Stellen auch zu dem, unsres
Erachtens durchaus richtigen, weil den gegebenen Verhält-
nissen zumeist entsprechenden Entschluß gelangt ist, für den
Fall eines Konflikts mit einer größeren Seemacht den
Hauptnachdruck auf die Aktion der Schlachtflotte zu legen,
deren Aufgabe es sein würde, unsre heimischen Küsten frei
zu halten, wenn man somit auch nicht an einen Kreuzerkrieg
denkt, wie namentlich französische Seetaktiker ihn England
gegenüber empfehlen zu sollen glauben, so müssen doch
unsre Kreuzergeschwader, die in den fernen Meeren die
wirthschaftlich so belangreichen deutschen Interessen zu
wahren haben, wenigstens auf eine solche Stärke gebracht
werden, daß sie sich beim Ausbruch der Feindseligkeiten
nicht in ungleichem Kampf nutzlos zu opfern oder aber sofort
eine Zufluchtsstätte aufzusuchen brauchen. Sie würden da-
mit gerade im kritischen Augenblick einfach außer Funktion
treten. Vermögen sie im Kriege auch nicht alle für uns
wichtigen, einer Bedrohung ausgesetzten Punkte zu decken,
so müssen sie doch befähigt werden, bei möglichster Konzen-
trirung ihrer Kräfte auch gegenüber einem im allgemeinen
überlegenen Feind die See zu halten.

[Spaltenumbruch]

Die Herren vom Centrum haben sicherlich keinen An-
laß, zu besorgen, daß das Deutsche Reich, wenn es in den
Besitz der von der Flottengesetznovelle vorgesehenen Kreuzer
gelangt, einer friedensgefährlichen Expan-
sionspolitik
sich hingibt. Wir haben auch für den Aus-
landsdienst, zum Schutz der Milliarden deutschen Kapitals,
die jetzt schon in den überseeischen Gebieten angelegt sind,
eine im Vergleich zur heutigen wesentlich vergrößerte
Flotte "bitter noth". Trügen unsre leitenden Kreise sich
mit der Absicht, eine Aera weitgreifender überseeischer
Annexionen zu inauguriren, die, da "herrenloses" Land
nirgends mehr zu finden ist, nur auf dem Wege der Erobe-
rung ° l'americaine oder ° l'anglaise ersolgen könnten,
so würden sie mit ganz anderen Forderungen für maritime
Zwecke, und speziell für die Kreuzerflotte, an den Reichstag
herangetreten sein. Was sie jetzt verlangen, entspricht, wie
gesagt, eben nur dem, was zum Schutze der in natur-
gemäßer Entwicklung befindlichen wirthschaftlichen Inter-
essen Deutschlands in fremden Welttheilen unbedingt
verlangt werden muß.
Der Vorschlag eines Cen-
trumsabgeordneten, den Mehrbedarf an Schiffen für den
Auslandsdienst aus der ebenfalls nur ganz knapp be-
messenen Materialreserve der Schlachtflotte und ihrer Auf-
klärungskreuzer zu decken, darf u. E. auf ernstliche Erwä-
gung überhaupt nicht Anspruch machen. An den Forde-
rungen der Novelle zum Flottengesetz von 1898 läßt sich
ohne Schädigung des nationalen Interesses nicht das Min-
deste abbrechen. Wer den Zweck billigt -- die Sicherung des
uns gebührenden Antheils am Weltverkehr, die Gewähr-
leistung jenes Platzes an der Sonne, auf den ein Volk von
nahezu 60 Millionen Seelen wohl Anspruch erheben kann
--, der muß auch die Mittel gewähren. Hier hilft kein
Mundspitzen, hier muß gepfiffen sein.



Deutsches Reich.
"Irrthümer."

Wenn Altmeister Goethe
die Wortführer der heutigen Sozialdemokratie gekannt
hätte, würde er seinen Ausspruch "Die Irrthümer des
Menschen machen ihn eigentlich liebenswürdig" sicherlich
mit einer einschränkenden Randbemerkung versehen haben.
Jene Herren versuchen im Gegentheil die Schäden und
Lücken ihrer Argumentation durch die größtmögliche Un-
liebenswürdigkeit zu verdecken, und das Vertrauen darauf,
daß in den Augen der weniger Urtheilsreifen Grobheit
und Ehrlichkeit dasselbe ist, läßt sie durchaus nicht im
Stich. Besonders augenfällig tritt die solchermaßen ge-
kennzeichnete Taktik der Auguren des demokratischenSozialismus darin in die Erscheinung, wie die sozialistische



[Spaltenumbruch]
Berliner Musikbrief.

E. v. J. Vor kurzem gab Franceschina Prevosti, die so
gefeierte Opernsängerin, in der Singakademie ein Konzert,
bei dem sie auch die Barbier-Arie zum Vortrag brachte,
ohne auch nur annähernd den Erfolg zu ernten, der
ihr auf der Bühne sicher ist. Warum nicht --? weil die
Musik eines Rossini, Donizetti oder Verdi der Bühne
noch viel weniger entbehren kann, als etwa die unsrer
Wagnerepigonen und des Bayreuther Meisters selbst.
Diese unleugbare Thatsache gibt doch zu denken. Es ge-
hört heute zum guten Ton, über den Komponisten des
"Wilhelm Tell" die Achseln zu zucken, und ich selbst bin
weit entfernt, in dem welschen Meister, den die genuß-
süchtigen Wiener einst Beethoven vorzogen, eine schöpferische
Kraft ersten Ranges zu erblicken. Aber so ganz un-
dramatisch kann eine Kunst doch nicht sein, die so innig
mit der Bühne verwachsen ist und dort eine so zähe
Lebenskraft bethätigt. Und doch wurde jene Reform-
bewegung, die zur Entstehung des Musikdramas führte,
durch die Opposition gegen die italienische Oper hervor-
gerufen. Diese Reformbewegung ist zum großen Theil,
vielleicht sogar schon völlig zum Abschluß gelangt. Wie
dem auch sei -- und das Beispiel eines Siegfried Wagner
spricht eher für letzteres --, man kann darüber heute un-
befangener urtheilen als vor 20 Jahren, und gelangt zu
dem ziemlich banalen Ergebniß, daß die beiden Schulen
eben unter "Wahrheit" etwas verschiedenes verstanden,
daß dies bei allen Kunstrichtungen der Fall war und sein
wird, und endlich, daß es überhaupt keine absolute künst-
lerische Wahrheit gibt, was nicht ausschließt, daß der
Eine dem Ideal näher kommt als der Andere. So gibt
es heute noch so Manchen, welcher in einer Verschmelzung
der Künste einen Rückschritt sieht, weil sie ihre Selbstän-
digkeit, das Ergebniß ihrer natürlichen Entwicklung, wieder
aufgeben müssen und weil darum keine von ihnen so
wirkte, wie sie wirken sollte.

Wir stehen im Zeichen der Romantik, und so schreibt
man ihr selbstverständlich alle Verdienste um die Ent-
wicklung der Kunst zu, soll sie der nach Abschluß der
[Spaltenumbruch] Bach'schen und Händel'schen Epoche verweltlichten Musik
doch viel mehr Inhalt und viel bedeutsamere For-
men gegeben haben, als etwa ein Klassiker wie
Beethoven, dessen Neunte durch die Vortragsweise
unsrer "Moderne" erst wieder salonfähig gemacht werden
mußte. Soll die Romantik doch auch durch und durch
national sein. Wer wollte in der That leugnen, daß
beispielsweise Webers "Freischütz" mit seinem Märchen-
und Waldesduft echt deutsch anheimelt. Aber steckt in
Beethovens Klaviersonaten nicht etwa auch echt deutscher
Geist, in ihren Adagios nicht echt deutsche Gemüthstiefe?
Hat sich Mozart aus den italienischen Ursprüngen seiner
Musik nicht emporgerungen zur höchsten künstlerischen
Bethätigung seiner eigenen gut deutschen Empfindungs-
weise? Sind manche seiner Bühnenfiguren trotz ihrer
italienischen oder spanischen Namen nicht viel deutscher
als alle Bärenhäuter'schen Uebermenschen der letzten Ent-
wicklungsphase unsrer armen Musik, bei denen nicht ein-
mal der Text gut deutsch ist, da er fortwährend gegen
den Geist der Muttersprache verstößt. Ich habe unsre
Moderne überhaupt ein wenig in Verdacht, daß sie das
Zauberwörtlein "national" oft nur aus Taktik braucht,
denn seine Berechtigung ist meist nicht einmal mit dem
Mikroskop zu entdecken. Würde man sonst beispielsweise
Berlioz derart kultiviren, wie es jetzt in Berlin der Fall
ist? Das geschieht doch nur, weil seine Kunstrichtung der
herrschenden wahlverwandt ist. Als wenn Beethoven nie-
mals den "Fidelio" geschrieben hätte, wird Weber, der
Lehrer Wagners, als der Schöpfer der deutschen Oper
bezeichnet, weil er die Instrumente mehr als seine Vor-
gänger zu individualisiren und durch die Klangfarbe zu
charakterisiren suchte. Gerade darin aber liegt doch nichts
spezifisch Deutsches, denn Berlioz, beeinflußt durch Weber,
wie Lißt durch Berlioz, that ähnliches, er bildete die
Instrumentationskunst virtuosenhaft aus, was ihm, bei-
länfig bemerkt, ja gerade die Sympathien unsrer Modernen
verschafft.

Im Weingartner-Konzert, wie der Berliner die Sym-
phonieabende der Königlichen Kapelle zu nennen pflegt, ge-
langte, beiläufig bemerkt, in geradezu musterhafter Weise,
[Spaltenumbruch] die "Phantastische Symphonie", in der Philharmonie durch
den Philharmonischen Chor unter der trefflichen Leitung
des Professors Siegfried Ochs die große Todtenmesse und
im Neuen königlichen Opernhause "Fausts Verdammniß",
alle drei Werke von Hector Berlioz, zur Aufführung, und
zwar im Abstand von wenigen Tagen. Außerdem wurde
im "Nikisch-Konzert" auch noch der "Römische Karneval"
zum Vortrag gebracht. Wenn Berlioz noch lebte, würde
er sich also nicht zu beklagen haben, verdankt er doch
überhaupt den Deutschen mehr als seinen eigenen Lands-
leuten. Und auch wir wollen uns nicht beklagen, denn
der Franzose ist trotz seiner großen Mängel einer der
bedeutendsten Komponisten der modernen Zeit. Nur schade,
daß er von so Manchem gerade um jener Mängel willen,
die ihm mit Vorliebe abgeguckt werden, am meisten ver-
ehrt wird.

Die Aufführung der "Verdammniß Fausts" war eine
so mäßige, daß man darüber besser schweigt. Das Requiem
wurde seit vielen Jahren hier nicht gehört und wirkte
wie eine Novität. Schade, daß es nicht, wie in Paris,
in einer Kirche zur Darstellung gelangte, ein solches
stimmungsvolleres "Milieu" würde die Wirkung des etwas
opernhaften, aber von höchstem künstlerischen Ernst zeugen-
den Werkes zweifellos verstärkt haben. Der Komponist
ist darin beständig bemüht, den Mangel an Ersindung,
die sich doch hauptsächlich in der geschlossenen Form, in
der begrenzten Melodie bethätigt, durch eine kolossale
Uebertreibung der Ausdrucksmittel zu verdecken, die in-
dessen nur auf die Nerven, nicht auf das Gemüth der
Zuhörer zu wirken vermögen. Bezeichnend dafür ist das
famose dies irae, das 16 Panken und 4 Bläserchöre er-
fordert. Es fehlt überall an innerlicher Ausgestaltung,
an seelischer Vertiefung. Aber Berlioz ist ein großer
Meister der polyphonen Kunst, und der sechsstimmige
Chor "quaerens me" und das wundervolle Sanctus stehen
den Schöpfungen eines Mozart und Cherubini auf dem
Gebiet der Kirchenmusik kaum nach. Die beredte Ton-
sprache des französischen Meisters wurde von Professor
Ochs, der das Orchester und seinen prächtig geschultenChor mit unsehlbarer Sicherheit leitete, glänzend inter-

Nr. 88. Morgenblatt.103. Jahrgang.
München , Samſtag, 31. März 1900.


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Zuſtellg. mil. 50 Pf.
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Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klinckſieck in Paris; für Belgien, Bulgarien, Dänemark, Italien,
Niederlande, Rumänien, Rußland, Schweden und Norwegen, Schweiz, Serbien die dortigen Poſtämter; für den Orient
das k. k. Poſtamt in Wien oder Trieſt; für Nordamerika F. W. Chriſtern, E. Steiger u. Co., Guſt.
E. Stechert, Weſtermann u. Co., International News Comp., 83 und 85 Duane Str. in New-York.
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Leipzigerſtraße 11,
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Daube u. Co.
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Außerdem in Berlin bei B. Arndt (Mohrenſtraße 26) und S. Kornik (Kochſtraße 23); für Frankreich bei John
F. Jones u. Co., 31bis Faubourg Montmartre in Paris.
Verantwortlich für den politiſchen Theil der Chefredakteur Hans Tournier, für das Feuilleton Alfred Frhr. v. Menſi, für den Handelstheil Ernſt Barth, ſämmtlich in München.
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gleichfalls bei den Poſtämtern oder bei den am Kopf der Zeitung genannten Agenturen möglichſt bald aufzugeben.


[Spaltenumbruch]
Die überſeeiſchen Kapitalintereſſen Deutſchlands
und die deutſche Auslandsflotte.

In einer vom Reichsmarineamt zuſammengeſtellten
Ueberſicht werden die in überſeeiſchen Ländern in
Handel und Bankgeſchäft, in der Induſtrie, in Grund-
beſitz und Plantagen und dergleichen Unternehmungen
angelegten deutſchen Kapitalien auf Grund einer
möglichſt zuverläſſigen Schätzung auf 7 bis 7 ½ Milliarden
Mark beziffert. Wie groß die Zinserträge ſind, bezw.
ein wie großer Antheil davon direkt nach Deutſchland
zurückfließt, läßt ſich auch ſchätzungsweiſe nicht feſtſtellen,
doch wird von Sachverſtändigen verſichert, daß als an-
gemeſſener Ertrag aus überſeeiſchen Unternehmungen ein
Verzinſungsſatz von 6 bis 10 Prozent und ſelbſt darüber
anzuſehen ſei. Nimmt man aber, angeſichts der That-
ſache, daß ein Theil der Zinſen im Auslande verbleibt,
auch nur einen Durchſchnittsſatz von 6 Proz. an, ſo folgt
daraus, daß das deutſche Nationaleinkommen durch die
überſeeiſchen Kapitalanlagen einen jährlichen Zuwachs
von 420 bis 450 Millionen Mark erfährt. Die hier in
Betracht kommenden Kapitalanlagen vertheilen ſich auf
die verſchiedenen überſeeiſchen Gebiete etwa wie folgt:

Türkiſches Reich und Aegypten: 400 Mill. M.
Afrika (ohne Aegypten und die deutſchen Schutzgebiete):
über 1000 Mill. M.
Aſien (ausſchließlich der aſiatiſchen Türkei): 650—700
Mill. M.
Auſtralien und die Südſee-Inſeln (ohne die
deutſchen Schutzgebiete): 570—600 Mill. M.
Länder um das amerikaniſche Mittelmeer und
weſtindiſche Inſeln: 1000—1250 Mill. M.
Südamerika (ausſchließlich der Nordküſte): 1500—1700
Mill. M.
Nordamerika: 2000 Mill. M.

Bei dieſen Ziffern iſt aber die Anlage deutſchen
Kapitals in auswärtigen Anleihen und Spekulations-
unternehmungen, die ſich ihrem Umfange nach überhaupt
nicht feſtſtellen läßt, bei der es jedoch zweifellos um ganz
gewaltige Summen ſich handelt, noch nicht mit in An-
ſchlag gebracht.

Es liegt auf der Hand, daß durch die zunehmende
Ausdehnung der vielgeſtaltigen deutſchen Kapitalintereſſen
über den ganzen Erdball und durch das ſtetige Wachſen
des deutſchen Autheils an der Weltwirthſchaft dem Reich
und ſeinen Organen, ſpeziell der Leitung der auswärtigen
Angelegenheiten und dem Marine-Amt, eine nicht eben
leicht zu tragende und von Jahr zu Jahr ſich ſteigernde
Verantwortung auferlegt wird. Denn das Reich muß
nicht nur darauf Bedacht nehmen, in dieſem oder jenem
[Spaltenumbruch] kleinen Ueberſee-Staat die Arbeit ſeiner Angehörigen und
ihre Erträgniſſe gegen Vergewaltigungsgelüſte gewiſſen-
loſer Machthaber zu ſchützen oder vor Schädigungen durch
die nicht ſeltenen revolutionären Bewegungen zu bewahren,
ſondern es muß auch jederzeit bereit und imſtande ſein,
zu verhindern, daß andere Großmächte im Vertrauen auf
ihre maritime Ueberlegenheit die Rechte oder das Inter-
eſſengebiet deutſcher Unterthanen jenſeit des Meeres, ſei
es direkt, ſei es indirekt, angreifen.

Unter dieſen Umſtänden wird man den in der Budget-
kommiſſion des Reichstags bei der Generaldebatte über die
Novelle zum Flottengeſetz von 1898 von einem der Vertreter
des Centrums, dem Abg. Müller-Fulda, angeregten Ge-
danken, nur zwar die Verſtärkung der Schlachtflotte
zu acceptiren, auf die geplante Vermehrung der Aus-
landsflotte
jedoch einſtweilen zu verzichten und
ſpeziell beim Bau der kleineren Kreuzer Beſchrän-
kungen
eintreten zu laſſen, als mit den nationaln Be-
dürfniſſen und Intereſſen vereinbar gewiß nicht bezeichnen
dürfen. Das dem Reichstag jetzt vorliegende Schiffsbau-
programm beſchränkt ſich bei den Vorſchlägen zur Ver-
mehrung der Kreuzerflotte, die an die Schlachtflotte nur
die zu Aufklärungszwecken erforderlichen Schiffe abzu-
geben, im übrigen aber den Auslandsdienſt zu verſehen hat,
ohnehin auf das unbedingt Nothwendige; ſelbſt wenn es
im vollen Umfange zur Ausführung gelangt, werden die
Vereinigten Staaten, Frankreich und Rußland — von Eng-
land gar nicht zu reden — immer noch an Kreuzern, kleine-
ren wie größeren, uns überlegen ſein. Und wenn man bei
uns an den maßgebenden Stellen auch zu dem, unſres
Erachtens durchaus richtigen, weil den gegebenen Verhält-
niſſen zumeiſt entſprechenden Entſchluß gelangt iſt, für den
Fall eines Konflikts mit einer größeren Seemacht den
Hauptnachdruck auf die Aktion der Schlachtflotte zu legen,
deren Aufgabe es ſein würde, unſre heimiſchen Küſten frei
zu halten, wenn man ſomit auch nicht an einen Kreuzerkrieg
denkt, wie namentlich franzöſiſche Seetaktiker ihn England
gegenüber empfehlen zu ſollen glauben, ſo müſſen doch
unſre Kreuzergeſchwader, die in den fernen Meeren die
wirthſchaftlich ſo belangreichen deutſchen Intereſſen zu
wahren haben, wenigſtens auf eine ſolche Stärke gebracht
werden, daß ſie ſich beim Ausbruch der Feindſeligkeiten
nicht in ungleichem Kampf nutzlos zu opfern oder aber ſofort
eine Zufluchtsſtätte aufzuſuchen brauchen. Sie würden da-
mit gerade im kritiſchen Augenblick einfach außer Funktion
treten. Vermögen ſie im Kriege auch nicht alle für uns
wichtigen, einer Bedrohung ausgeſetzten Punkte zu decken,
ſo müſſen ſie doch befähigt werden, bei möglichſter Konzen-
trirung ihrer Kräfte auch gegenüber einem im allgemeinen
überlegenen Feind die See zu halten.

[Spaltenumbruch]

Die Herren vom Centrum haben ſicherlich keinen An-
laß, zu beſorgen, daß das Deutſche Reich, wenn es in den
Beſitz der von der Flottengeſetznovelle vorgeſehenen Kreuzer
gelangt, einer friedensgefährlichen Expan-
ſionspolitik
ſich hingibt. Wir haben auch für den Aus-
landsdienſt, zum Schutz der Milliarden deutſchen Kapitals,
die jetzt ſchon in den überſeeiſchen Gebieten angelegt ſind,
eine im Vergleich zur heutigen weſentlich vergrößerte
Flotte „bitter noth“. Trügen unſre leitenden Kreiſe ſich
mit der Abſicht, eine Aera weitgreifender überſeeiſcher
Annexionen zu inauguriren, die, da „herrenloſes“ Land
nirgends mehr zu finden iſt, nur auf dem Wege der Erobe-
rung ° l’américaine oder ° l’anglaise erſolgen könnten,
ſo würden ſie mit ganz anderen Forderungen für maritime
Zwecke, und ſpeziell für die Kreuzerflotte, an den Reichstag
herangetreten ſein. Was ſie jetzt verlangen, entſpricht, wie
geſagt, eben nur dem, was zum Schutze der in natur-
gemäßer Entwicklung befindlichen wirthſchaftlichen Inter-
eſſen Deutſchlands in fremden Welttheilen unbedingt
verlangt werden muß.
Der Vorſchlag eines Cen-
trumsabgeordneten, den Mehrbedarf an Schiffen für den
Auslandsdienſt aus der ebenfalls nur ganz knapp be-
meſſenen Materialreſerve der Schlachtflotte und ihrer Auf-
klärungskreuzer zu decken, darf u. E. auf ernſtliche Erwä-
gung überhaupt nicht Anſpruch machen. An den Forde-
rungen der Novelle zum Flottengeſetz von 1898 läßt ſich
ohne Schädigung des nationalen Intereſſes nicht das Min-
deſte abbrechen. Wer den Zweck billigt — die Sicherung des
uns gebührenden Antheils am Weltverkehr, die Gewähr-
leiſtung jenes Platzes an der Sonne, auf den ein Volk von
nahezu 60 Millionen Seelen wohl Anſpruch erheben kann
—, der muß auch die Mittel gewähren. Hier hilft kein
Mundſpitzen, hier muß gepfiffen ſein.



Deutſches Reich.
„Irrthümer.“

Wenn Altmeiſter Goethe
die Wortführer der heutigen Sozialdemokratie gekannt
hätte, würde er ſeinen Ausſpruch „Die Irrthümer des
Menſchen machen ihn eigentlich liebenswürdig“ ſicherlich
mit einer einſchränkenden Randbemerkung verſehen haben.
Jene Herren verſuchen im Gegentheil die Schäden und
Lücken ihrer Argumentation durch die größtmögliche Un-
liebenswürdigkeit zu verdecken, und das Vertrauen darauf,
daß in den Augen der weniger Urtheilsreifen Grobheit
und Ehrlichkeit dasſelbe iſt, läßt ſie durchaus nicht im
Stich. Beſonders augenfällig tritt die ſolchermaßen ge-
kennzeichnete Taktik der Auguren des demokratiſchenSozialismus darin in die Erſcheinung, wie die ſozialiſtiſche



[Spaltenumbruch]
Berliner Muſikbrief.

E. v. J. Vor kurzem gab Franceschina Prevoſti, die ſo
gefeierte Opernſängerin, in der Singakademie ein Konzert,
bei dem ſie auch die Barbier-Arie zum Vortrag brachte,
ohne auch nur annähernd den Erfolg zu ernten, der
ihr auf der Bühne ſicher iſt. Warum nicht —? weil die
Muſik eines Roſſini, Donizetti oder Verdi der Bühne
noch viel weniger entbehren kann, als etwa die unſrer
Wagnerepigonen und des Bayreuther Meiſters ſelbſt.
Dieſe unleugbare Thatſache gibt doch zu denken. Es ge-
hört heute zum guten Ton, über den Komponiſten des
„Wilhelm Tell“ die Achſeln zu zucken, und ich ſelbſt bin
weit entfernt, in dem welſchen Meiſter, den die genuß-
ſüchtigen Wiener einſt Beethoven vorzogen, eine ſchöpferiſche
Kraft erſten Ranges zu erblicken. Aber ſo ganz un-
dramatiſch kann eine Kunſt doch nicht ſein, die ſo innig
mit der Bühne verwachſen iſt und dort eine ſo zähe
Lebenskraft bethätigt. Und doch wurde jene Reform-
bewegung, die zur Entſtehung des Muſikdramas führte,
durch die Oppoſition gegen die italieniſche Oper hervor-
gerufen. Dieſe Reformbewegung iſt zum großen Theil,
vielleicht ſogar ſchon völlig zum Abſchluß gelangt. Wie
dem auch ſei — und das Beiſpiel eines Siegfried Wagner
ſpricht eher für letzteres —, man kann darüber heute un-
befangener urtheilen als vor 20 Jahren, und gelangt zu
dem ziemlich banalen Ergebniß, daß die beiden Schulen
eben unter „Wahrheit“ etwas verſchiedenes verſtanden,
daß dies bei allen Kunſtrichtungen der Fall war und ſein
wird, und endlich, daß es überhaupt keine abſolute künſt-
leriſche Wahrheit gibt, was nicht ausſchließt, daß der
Eine dem Ideal näher kommt als der Andere. So gibt
es heute noch ſo Manchen, welcher in einer Verſchmelzung
der Künſte einen Rückſchritt ſieht, weil ſie ihre Selbſtän-
digkeit, das Ergebniß ihrer natürlichen Entwicklung, wieder
aufgeben müſſen und weil darum keine von ihnen ſo
wirkte, wie ſie wirken ſollte.

Wir ſtehen im Zeichen der Romantik, und ſo ſchreibt
man ihr ſelbſtverſtändlich alle Verdienſte um die Ent-
wicklung der Kunſt zu, ſoll ſie der nach Abſchluß der
[Spaltenumbruch] Bach’ſchen und Händel’ſchen Epoche verweltlichten Muſik
doch viel mehr Inhalt und viel bedeutſamere For-
men gegeben haben, als etwa ein Klaſſiker wie
Beethoven, deſſen Neunte durch die Vortragsweiſe
unſrer „Moderne“ erſt wieder ſalonfähig gemacht werden
mußte. Soll die Romantik doch auch durch und durch
national ſein. Wer wollte in der That leugnen, daß
beiſpielsweiſe Webers „Freiſchütz“ mit ſeinem Märchen-
und Waldesduft echt deutſch anheimelt. Aber ſteckt in
Beethovens Klavierſonaten nicht etwa auch echt deutſcher
Geiſt, in ihren Adagios nicht echt deutſche Gemüthstiefe?
Hat ſich Mozart aus den italieniſchen Urſprüngen ſeiner
Muſik nicht emporgerungen zur höchſten künſtleriſchen
Bethätigung ſeiner eigenen gut deutſchen Empfindungs-
weiſe? Sind manche ſeiner Bühnenfiguren trotz ihrer
italieniſchen oder ſpaniſchen Namen nicht viel deutſcher
als alle Bärenhäuter’ſchen Uebermenſchen der letzten Ent-
wicklungsphaſe unſrer armen Muſik, bei denen nicht ein-
mal der Text gut deutſch iſt, da er fortwährend gegen
den Geiſt der Mutterſprache verſtößt. Ich habe unſre
Moderne überhaupt ein wenig in Verdacht, daß ſie das
Zauberwörtlein „national“ oft nur aus Taktik braucht,
denn ſeine Berechtigung iſt meiſt nicht einmal mit dem
Mikroſkop zu entdecken. Würde man ſonſt beiſpielsweiſe
Berlioz derart kultiviren, wie es jetzt in Berlin der Fall
iſt? Das geſchieht doch nur, weil ſeine Kunſtrichtung der
herrſchenden wahlverwandt iſt. Als wenn Beethoven nie-
mals den „Fidelio“ geſchrieben hätte, wird Weber, der
Lehrer Wagners, als der Schöpfer der deutſchen Oper
bezeichnet, weil er die Inſtrumente mehr als ſeine Vor-
gänger zu individualiſiren und durch die Klangfarbe zu
charakteriſiren ſuchte. Gerade darin aber liegt doch nichts
ſpezifiſch Deutſches, denn Berlioz, beeinflußt durch Weber,
wie Liſzt durch Berlioz, that ähnliches, er bildete die
Inſtrumentationskunſt virtuoſenhaft aus, was ihm, bei-
länfig bemerkt, ja gerade die Sympathien unſrer Modernen
verſchafft.

Im Weingartner-Konzert, wie der Berliner die Sym-
phonieabende der Königlichen Kapelle zu nennen pflegt, ge-
langte, beiläufig bemerkt, in geradezu muſterhafter Weiſe,
[Spaltenumbruch] die „Phantaſtiſche Symphonie“, in der Philharmonie durch
den Philharmoniſchen Chor unter der trefflichen Leitung
des Profeſſors Siegfried Ochs die große Todtenmeſſe und
im Neuen königlichen Opernhauſe „Fauſts Verdammniß“,
alle drei Werke von Hector Berlioz, zur Aufführung, und
zwar im Abſtand von wenigen Tagen. Außerdem wurde
im „Nikiſch-Konzert“ auch noch der „Römiſche Karneval“
zum Vortrag gebracht. Wenn Berlioz noch lebte, würde
er ſich alſo nicht zu beklagen haben, verdankt er doch
überhaupt den Deutſchen mehr als ſeinen eigenen Lands-
leuten. Und auch wir wollen uns nicht beklagen, denn
der Franzoſe iſt trotz ſeiner großen Mängel einer der
bedeutendſten Komponiſten der modernen Zeit. Nur ſchade,
daß er von ſo Manchem gerade um jener Mängel willen,
die ihm mit Vorliebe abgeguckt werden, am meiſten ver-
ehrt wird.

Die Aufführung der „Verdammniß Fauſts“ war eine
ſo mäßige, daß man darüber beſſer ſchweigt. Das Requiem
wurde ſeit vielen Jahren hier nicht gehört und wirkte
wie eine Novität. Schade, daß es nicht, wie in Paris,
in einer Kirche zur Darſtellung gelangte, ein ſolches
ſtimmungsvolleres „Milieu“ würde die Wirkung des etwas
opernhaften, aber von höchſtem künſtleriſchen Ernſt zeugen-
den Werkes zweifellos verſtärkt haben. Der Komponiſt
iſt darin beſtändig bemüht, den Mangel an Erſindung,
die ſich doch hauptſächlich in der geſchloſſenen Form, in
der begrenzten Melodie bethätigt, durch eine koloſſale
Uebertreibung der Ausdrucksmittel zu verdecken, die in-
deſſen nur auf die Nerven, nicht auf das Gemüth der
Zuhörer zu wirken vermögen. Bezeichnend dafür iſt das
famoſe dies irae, das 16 Panken und 4 Bläſerchöre er-
fordert. Es fehlt überall an innerlicher Ausgeſtaltung,
an ſeeliſcher Vertiefung. Aber Berlioz iſt ein großer
Meiſter der polyphonen Kunſt, und der ſechsſtimmige
Chor „quaerens me“ und das wundervolle Sanctus ſtehen
den Schöpfungen eines Mozart und Cherubini auf dem
Gebiet der Kirchenmuſik kaum nach. Die beredte Ton-
ſprache des franzöſiſchen Meiſters wurde von Profeſſor
Ochs, der das Orcheſter und ſeinen prächtig geſchultenChor mit unſehlbarer Sicherheit leitete, glänzend inter-

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[0001] Nr. 88. Morgenblatt.103. Jahrgang.München , Samſtag, 31. März 1900. Allgemeine Zeitung. Wöchentlich 12 Ausgaben. Bezugspreiſe: Durch die Poſtämter: jährlich M. 36. —, ohne Beil. M. 18. — (viertelj. M. 9. —, ohne Beil. M. 4.50); in München b. d Ex- pedition od. d. Depots monatlich M. 2. —, ohne Beil. M. 1.20. Zuſtellg. mil. 50 Pf. Direkter Bezug für Deutſchl. u. Oeſterreich monatlich M. 4. —, ohne Beil. M. 3. —, Ausland M. 5.60, ohne Beil. M. 4.40. Inſertionspreis für die kleinſpaltige Kolonelzeile od. deren Raum 25 Pfennig; finanzielle Anzeigen 35 Pf.; lokale Ver- kaufsanzeig. 20 Pf.; Stellengeſuche 15 Pf. Redaktion und Expe- dition befinden ſich Schwanthalerſtr. 36 in München. Berichte ſind an die Redaktion, Inſerat- aufträge an die Ex- pedition franko ein- zuſenden. Abonnements für Berlin nimmt unſere dortige Filiale in der Leipzigerſtraße 11 entgegen. Abonnements für das Ausland nehmen an: für England A. Siegle, 30 Lime Str., London; für Frankreich, Portugal und Spanien A. 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Verantwortlich für den politiſchen Theil der Chefredakteur Hans Tournier, für das Feuilleton Alfred Frhr. v. Menſi, für den Handelstheil Ernſt Barth, ſämmtlich in München. Druck und Verlag der Geſellſchaft mit beſchränkter Haftung „Verlag der Allgemeinen Zeitung“ in München. Beſtellungen auf die Allgemeine Zeitung für das nächſte Quartal bitten wir für München bei der Expedition, Schwanthalerſtraße Nr. 36, oder deren Filiale im Domhof (Liebfrauenſtraße), bezw. bei den im Stadtbezirk errichteten Abholſtellen, für auswärts bei dem nächſten Poſtamt (Bayeriſcher Zeitungskatalog Nr. 22/3, Zeitungskatalog der Reichspoſt Nr. 167/8), für das Ausland entweder gleichfalls bei den Poſtämtern oder bei den am Kopf der Zeitung genannten Agenturen möglichſt bald aufzugeben. Die überſeeiſchen Kapitalintereſſen Deutſchlands und die deutſche Auslandsflotte. In einer vom Reichsmarineamt zuſammengeſtellten Ueberſicht werden die in überſeeiſchen Ländern in Handel und Bankgeſchäft, in der Induſtrie, in Grund- beſitz und Plantagen und dergleichen Unternehmungen angelegten deutſchen Kapitalien auf Grund einer möglichſt zuverläſſigen Schätzung auf 7 bis 7 ½ Milliarden Mark beziffert. Wie groß die Zinserträge ſind, bezw. ein wie großer Antheil davon direkt nach Deutſchland zurückfließt, läßt ſich auch ſchätzungsweiſe nicht feſtſtellen, doch wird von Sachverſtändigen verſichert, daß als an- gemeſſener Ertrag aus überſeeiſchen Unternehmungen ein Verzinſungsſatz von 6 bis 10 Prozent und ſelbſt darüber anzuſehen ſei. Nimmt man aber, angeſichts der That- ſache, daß ein Theil der Zinſen im Auslande verbleibt, auch nur einen Durchſchnittsſatz von 6 Proz. an, ſo folgt daraus, daß das deutſche Nationaleinkommen durch die überſeeiſchen Kapitalanlagen einen jährlichen Zuwachs von 420 bis 450 Millionen Mark erfährt. Die hier in Betracht kommenden Kapitalanlagen vertheilen ſich auf die verſchiedenen überſeeiſchen Gebiete etwa wie folgt: Türkiſches Reich und Aegypten: 400 Mill. M. Afrika (ohne Aegypten und die deutſchen Schutzgebiete): über 1000 Mill. M. Aſien (ausſchließlich der aſiatiſchen Türkei): 650—700 Mill. M. Auſtralien und die Südſee-Inſeln (ohne die deutſchen Schutzgebiete): 570—600 Mill. M. Länder um das amerikaniſche Mittelmeer und weſtindiſche Inſeln: 1000—1250 Mill. M. Südamerika (ausſchließlich der Nordküſte): 1500—1700 Mill. M. Nordamerika: 2000 Mill. M. Bei dieſen Ziffern iſt aber die Anlage deutſchen Kapitals in auswärtigen Anleihen und Spekulations- unternehmungen, die ſich ihrem Umfange nach überhaupt nicht feſtſtellen läßt, bei der es jedoch zweifellos um ganz gewaltige Summen ſich handelt, noch nicht mit in An- ſchlag gebracht. Es liegt auf der Hand, daß durch die zunehmende Ausdehnung der vielgeſtaltigen deutſchen Kapitalintereſſen über den ganzen Erdball und durch das ſtetige Wachſen des deutſchen Autheils an der Weltwirthſchaft dem Reich und ſeinen Organen, ſpeziell der Leitung der auswärtigen Angelegenheiten und dem Marine-Amt, eine nicht eben leicht zu tragende und von Jahr zu Jahr ſich ſteigernde Verantwortung auferlegt wird. Denn das Reich muß nicht nur darauf Bedacht nehmen, in dieſem oder jenem kleinen Ueberſee-Staat die Arbeit ſeiner Angehörigen und ihre Erträgniſſe gegen Vergewaltigungsgelüſte gewiſſen- loſer Machthaber zu ſchützen oder vor Schädigungen durch die nicht ſeltenen revolutionären Bewegungen zu bewahren, ſondern es muß auch jederzeit bereit und imſtande ſein, zu verhindern, daß andere Großmächte im Vertrauen auf ihre maritime Ueberlegenheit die Rechte oder das Inter- eſſengebiet deutſcher Unterthanen jenſeit des Meeres, ſei es direkt, ſei es indirekt, angreifen. Unter dieſen Umſtänden wird man den in der Budget- kommiſſion des Reichstags bei der Generaldebatte über die Novelle zum Flottengeſetz von 1898 von einem der Vertreter des Centrums, dem Abg. Müller-Fulda, angeregten Ge- danken, nur zwar die Verſtärkung der Schlachtflotte zu acceptiren, auf die geplante Vermehrung der Aus- landsflotte jedoch einſtweilen zu verzichten und ſpeziell beim Bau der kleineren Kreuzer Beſchrän- kungen eintreten zu laſſen, als mit den nationaln Be- dürfniſſen und Intereſſen vereinbar gewiß nicht bezeichnen dürfen. Das dem Reichstag jetzt vorliegende Schiffsbau- programm beſchränkt ſich bei den Vorſchlägen zur Ver- mehrung der Kreuzerflotte, die an die Schlachtflotte nur die zu Aufklärungszwecken erforderlichen Schiffe abzu- geben, im übrigen aber den Auslandsdienſt zu verſehen hat, ohnehin auf das unbedingt Nothwendige; ſelbſt wenn es im vollen Umfange zur Ausführung gelangt, werden die Vereinigten Staaten, Frankreich und Rußland — von Eng- land gar nicht zu reden — immer noch an Kreuzern, kleine- ren wie größeren, uns überlegen ſein. Und wenn man bei uns an den maßgebenden Stellen auch zu dem, unſres Erachtens durchaus richtigen, weil den gegebenen Verhält- niſſen zumeiſt entſprechenden Entſchluß gelangt iſt, für den Fall eines Konflikts mit einer größeren Seemacht den Hauptnachdruck auf die Aktion der Schlachtflotte zu legen, deren Aufgabe es ſein würde, unſre heimiſchen Küſten frei zu halten, wenn man ſomit auch nicht an einen Kreuzerkrieg denkt, wie namentlich franzöſiſche Seetaktiker ihn England gegenüber empfehlen zu ſollen glauben, ſo müſſen doch unſre Kreuzergeſchwader, die in den fernen Meeren die wirthſchaftlich ſo belangreichen deutſchen Intereſſen zu wahren haben, wenigſtens auf eine ſolche Stärke gebracht werden, daß ſie ſich beim Ausbruch der Feindſeligkeiten nicht in ungleichem Kampf nutzlos zu opfern oder aber ſofort eine Zufluchtsſtätte aufzuſuchen brauchen. Sie würden da- mit gerade im kritiſchen Augenblick einfach außer Funktion treten. Vermögen ſie im Kriege auch nicht alle für uns wichtigen, einer Bedrohung ausgeſetzten Punkte zu decken, ſo müſſen ſie doch befähigt werden, bei möglichſter Konzen- trirung ihrer Kräfte auch gegenüber einem im allgemeinen überlegenen Feind die See zu halten. Die Herren vom Centrum haben ſicherlich keinen An- laß, zu beſorgen, daß das Deutſche Reich, wenn es in den Beſitz der von der Flottengeſetznovelle vorgeſehenen Kreuzer gelangt, einer friedensgefährlichen Expan- ſionspolitik ſich hingibt. Wir haben auch für den Aus- landsdienſt, zum Schutz der Milliarden deutſchen Kapitals, die jetzt ſchon in den überſeeiſchen Gebieten angelegt ſind, eine im Vergleich zur heutigen weſentlich vergrößerte Flotte „bitter noth“. Trügen unſre leitenden Kreiſe ſich mit der Abſicht, eine Aera weitgreifender überſeeiſcher Annexionen zu inauguriren, die, da „herrenloſes“ Land nirgends mehr zu finden iſt, nur auf dem Wege der Erobe- rung ° l’américaine oder ° l’anglaise erſolgen könnten, ſo würden ſie mit ganz anderen Forderungen für maritime Zwecke, und ſpeziell für die Kreuzerflotte, an den Reichstag herangetreten ſein. Was ſie jetzt verlangen, entſpricht, wie geſagt, eben nur dem, was zum Schutze der in natur- gemäßer Entwicklung befindlichen wirthſchaftlichen Inter- eſſen Deutſchlands in fremden Welttheilen unbedingt verlangt werden muß. Der Vorſchlag eines Cen- trumsabgeordneten, den Mehrbedarf an Schiffen für den Auslandsdienſt aus der ebenfalls nur ganz knapp be- meſſenen Materialreſerve der Schlachtflotte und ihrer Auf- klärungskreuzer zu decken, darf u. E. auf ernſtliche Erwä- gung überhaupt nicht Anſpruch machen. An den Forde- rungen der Novelle zum Flottengeſetz von 1898 läßt ſich ohne Schädigung des nationalen Intereſſes nicht das Min- deſte abbrechen. Wer den Zweck billigt — die Sicherung des uns gebührenden Antheils am Weltverkehr, die Gewähr- leiſtung jenes Platzes an der Sonne, auf den ein Volk von nahezu 60 Millionen Seelen wohl Anſpruch erheben kann —, der muß auch die Mittel gewähren. Hier hilft kein Mundſpitzen, hier muß gepfiffen ſein. Deutſches Reich. „Irrthümer.“ ⸪ Berlin, 29. März.Wenn Altmeiſter Goethe die Wortführer der heutigen Sozialdemokratie gekannt hätte, würde er ſeinen Ausſpruch „Die Irrthümer des Menſchen machen ihn eigentlich liebenswürdig“ ſicherlich mit einer einſchränkenden Randbemerkung verſehen haben. Jene Herren verſuchen im Gegentheil die Schäden und Lücken ihrer Argumentation durch die größtmögliche Un- liebenswürdigkeit zu verdecken, und das Vertrauen darauf, daß in den Augen der weniger Urtheilsreifen Grobheit und Ehrlichkeit dasſelbe iſt, läßt ſie durchaus nicht im Stich. Beſonders augenfällig tritt die ſolchermaßen ge- kennzeichnete Taktik der Auguren des demokratiſchenSozialismus darin in die Erſcheinung, wie die ſozialiſtiſche Berliner Muſikbrief. E. v. J. Vor kurzem gab Franceschina Prevoſti, die ſo gefeierte Opernſängerin, in der Singakademie ein Konzert, bei dem ſie auch die Barbier-Arie zum Vortrag brachte, ohne auch nur annähernd den Erfolg zu ernten, der ihr auf der Bühne ſicher iſt. Warum nicht —? weil die Muſik eines Roſſini, Donizetti oder Verdi der Bühne noch viel weniger entbehren kann, als etwa die unſrer Wagnerepigonen und des Bayreuther Meiſters ſelbſt. Dieſe unleugbare Thatſache gibt doch zu denken. Es ge- hört heute zum guten Ton, über den Komponiſten des „Wilhelm Tell“ die Achſeln zu zucken, und ich ſelbſt bin weit entfernt, in dem welſchen Meiſter, den die genuß- ſüchtigen Wiener einſt Beethoven vorzogen, eine ſchöpferiſche Kraft erſten Ranges zu erblicken. Aber ſo ganz un- dramatiſch kann eine Kunſt doch nicht ſein, die ſo innig mit der Bühne verwachſen iſt und dort eine ſo zähe Lebenskraft bethätigt. Und doch wurde jene Reform- bewegung, die zur Entſtehung des Muſikdramas führte, durch die Oppoſition gegen die italieniſche Oper hervor- gerufen. Dieſe Reformbewegung iſt zum großen Theil, vielleicht ſogar ſchon völlig zum Abſchluß gelangt. Wie dem auch ſei — und das Beiſpiel eines Siegfried Wagner ſpricht eher für letzteres —, man kann darüber heute un- befangener urtheilen als vor 20 Jahren, und gelangt zu dem ziemlich banalen Ergebniß, daß die beiden Schulen eben unter „Wahrheit“ etwas verſchiedenes verſtanden, daß dies bei allen Kunſtrichtungen der Fall war und ſein wird, und endlich, daß es überhaupt keine abſolute künſt- leriſche Wahrheit gibt, was nicht ausſchließt, daß der Eine dem Ideal näher kommt als der Andere. So gibt es heute noch ſo Manchen, welcher in einer Verſchmelzung der Künſte einen Rückſchritt ſieht, weil ſie ihre Selbſtän- digkeit, das Ergebniß ihrer natürlichen Entwicklung, wieder aufgeben müſſen und weil darum keine von ihnen ſo wirkte, wie ſie wirken ſollte. Wir ſtehen im Zeichen der Romantik, und ſo ſchreibt man ihr ſelbſtverſtändlich alle Verdienſte um die Ent- wicklung der Kunſt zu, ſoll ſie der nach Abſchluß der Bach’ſchen und Händel’ſchen Epoche verweltlichten Muſik doch viel mehr Inhalt und viel bedeutſamere For- men gegeben haben, als etwa ein Klaſſiker wie Beethoven, deſſen Neunte durch die Vortragsweiſe unſrer „Moderne“ erſt wieder ſalonfähig gemacht werden mußte. Soll die Romantik doch auch durch und durch national ſein. Wer wollte in der That leugnen, daß beiſpielsweiſe Webers „Freiſchütz“ mit ſeinem Märchen- und Waldesduft echt deutſch anheimelt. Aber ſteckt in Beethovens Klavierſonaten nicht etwa auch echt deutſcher Geiſt, in ihren Adagios nicht echt deutſche Gemüthstiefe? Hat ſich Mozart aus den italieniſchen Urſprüngen ſeiner Muſik nicht emporgerungen zur höchſten künſtleriſchen Bethätigung ſeiner eigenen gut deutſchen Empfindungs- weiſe? Sind manche ſeiner Bühnenfiguren trotz ihrer italieniſchen oder ſpaniſchen Namen nicht viel deutſcher als alle Bärenhäuter’ſchen Uebermenſchen der letzten Ent- wicklungsphaſe unſrer armen Muſik, bei denen nicht ein- mal der Text gut deutſch iſt, da er fortwährend gegen den Geiſt der Mutterſprache verſtößt. Ich habe unſre Moderne überhaupt ein wenig in Verdacht, daß ſie das Zauberwörtlein „national“ oft nur aus Taktik braucht, denn ſeine Berechtigung iſt meiſt nicht einmal mit dem Mikroſkop zu entdecken. Würde man ſonſt beiſpielsweiſe Berlioz derart kultiviren, wie es jetzt in Berlin der Fall iſt? Das geſchieht doch nur, weil ſeine Kunſtrichtung der herrſchenden wahlverwandt iſt. Als wenn Beethoven nie- mals den „Fidelio“ geſchrieben hätte, wird Weber, der Lehrer Wagners, als der Schöpfer der deutſchen Oper bezeichnet, weil er die Inſtrumente mehr als ſeine Vor- gänger zu individualiſiren und durch die Klangfarbe zu charakteriſiren ſuchte. Gerade darin aber liegt doch nichts ſpezifiſch Deutſches, denn Berlioz, beeinflußt durch Weber, wie Liſzt durch Berlioz, that ähnliches, er bildete die Inſtrumentationskunſt virtuoſenhaft aus, was ihm, bei- länfig bemerkt, ja gerade die Sympathien unſrer Modernen verſchafft. Im Weingartner-Konzert, wie der Berliner die Sym- phonieabende der Königlichen Kapelle zu nennen pflegt, ge- langte, beiläufig bemerkt, in geradezu muſterhafter Weiſe, die „Phantaſtiſche Symphonie“, in der Philharmonie durch den Philharmoniſchen Chor unter der trefflichen Leitung des Profeſſors Siegfried Ochs die große Todtenmeſſe und im Neuen königlichen Opernhauſe „Fauſts Verdammniß“, alle drei Werke von Hector Berlioz, zur Aufführung, und zwar im Abſtand von wenigen Tagen. Außerdem wurde im „Nikiſch-Konzert“ auch noch der „Römiſche Karneval“ zum Vortrag gebracht. Wenn Berlioz noch lebte, würde er ſich alſo nicht zu beklagen haben, verdankt er doch überhaupt den Deutſchen mehr als ſeinen eigenen Lands- leuten. Und auch wir wollen uns nicht beklagen, denn der Franzoſe iſt trotz ſeiner großen Mängel einer der bedeutendſten Komponiſten der modernen Zeit. Nur ſchade, daß er von ſo Manchem gerade um jener Mängel willen, die ihm mit Vorliebe abgeguckt werden, am meiſten ver- ehrt wird. Die Aufführung der „Verdammniß Fauſts“ war eine ſo mäßige, daß man darüber beſſer ſchweigt. Das Requiem wurde ſeit vielen Jahren hier nicht gehört und wirkte wie eine Novität. Schade, daß es nicht, wie in Paris, in einer Kirche zur Darſtellung gelangte, ein ſolches ſtimmungsvolleres „Milieu“ würde die Wirkung des etwas opernhaften, aber von höchſtem künſtleriſchen Ernſt zeugen- den Werkes zweifellos verſtärkt haben. Der Komponiſt iſt darin beſtändig bemüht, den Mangel an Erſindung, die ſich doch hauptſächlich in der geſchloſſenen Form, in der begrenzten Melodie bethätigt, durch eine koloſſale Uebertreibung der Ausdrucksmittel zu verdecken, die in- deſſen nur auf die Nerven, nicht auf das Gemüth der Zuhörer zu wirken vermögen. Bezeichnend dafür iſt das famoſe dies irae, das 16 Panken und 4 Bläſerchöre er- fordert. Es fehlt überall an innerlicher Ausgeſtaltung, an ſeeliſcher Vertiefung. Aber Berlioz iſt ein großer Meiſter der polyphonen Kunſt, und der ſechsſtimmige Chor „quaerens me“ und das wundervolle Sanctus ſtehen den Schöpfungen eines Mozart und Cherubini auf dem Gebiet der Kirchenmuſik kaum nach. Die beredte Ton- ſprache des franzöſiſchen Meiſters wurde von Profeſſor Ochs, der das Orcheſter und ſeinen prächtig geſchultenChor mit unſehlbarer Sicherheit leitete, glänzend inter-

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2020-10-02T09:49:36Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 88, 31. März 1900, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine88_1900/1>, abgerufen am 21.11.2024.