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Allgemeine Zeitung, Nr. 37, 12. September 1914.

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12. September 1914. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch]
Vaterländische Theaterabende.

Nach dem Vorbilde der Berliner Hofbühne hat auch die
unsere der schweren Zeit zum Trotz ihre Pforten dem allge-
meinen Besuche wieder geöffnet. Dort wie da aber nicht
zum Beginn einer regelmäßigen täglichen Spielzeit für Schau-
spiel und Oper, sondern, der Volksstimmung Rechnung tra-
gend, zur Veranstaltung vaterländischer Abende, bei denen
wohl unsere Hofkapelle und Mitglieder unserer Oper mit-
wirken, das Theater aber ausgeschaltet bleibt.

Am vorigen Sonntag fand der erste dieser Abende statt,
und zwar zugunsten des Roten Kreuzes: es war ein im Hof-
theater veranstaltetes Konzert der k. Hofmusik, das nur einen
Namen trug, freilich den Namen unseres größten und
deutschesten Tonmeisters: den Namen Beethoven. Die Wahl
war gut, denn, wenn etwas zu Stimmung unserer Tage paßt,
dann sind es die hehren Klänge der Eroica, deren Siegesjubel
wie deren Trauermarsch so erhebende und ergreifende
Parallelen in unseren Tagen finden. Direktor Walter diri-
gierte das ganze Konzert selbst: die Eroica sowohl, wie die
späteren Ouverturen zum Egmont und die große dritte
Leonoren-Ouverture. Nach der Egmont-Ouverture sang die
eben zur Hofopernsängerin ernannte Frau Perard-Petzl die
zur Egmont-Musik gehörenden Lieder Klärchens: "Die
Trommel gerühret" und "Freudvoll und leidvoll". Frau
Perard-Petzl ist, wie ja die meisten Bühnensängerinnen, keine
Konzertsängerin; aber darauf kam es bei dieser Gelegenheit
auch gar nicht an. Die Hauptsache blieb doch der erhebende
und begeisternde Eindruck, den Beethovens erhabene Musik
auch auf dieses Publikum, dessen Gedanken wohl meistens an die
bedrohten Grenzen schweiften, seines tiefen Eindrucks nicht
verfehlte. Obwohl die Preise für diese Gelegenheit auf ein
Mindestmaß heruntergeschraubt waren, dürfte dem Roten
Kreuz doch ein rundes Sümmchen zugekommen sein, denn
das Haus war bis zum letzten Platz ausverkauft. Als das
Programm abgespielt war, erhoben sich alle Zuhörer, und
unter Begleitung des Hoforchesters sang man die "Wacht am
Rhein", die Königshymne und "Deutschland über alles", unter
großer Begeisterung und beifälligem Dank für das Gebotene.



Das Schauspielhaus sucht auch weiter in seinem Spiel-
plan die patriotische Note möglichst zu wahren. Es hat den
gar nicht üblen Einfall gehabt, Wildenbruchs alten
"Mennoniten" aufzugreifen und ihn zum erstenmal zur Auf-
führung zu bringen. In München selbst ist er nicht ganz
neu: er wurde am 31. Mai 1882 in unserem Hoftheater zum
erstenmal aufgeführt. Der Mennonit ist zugleich Wilden-
bruchs überhaupt erstes aufgeführtes Stück. Ihm folgten
in den 80er und 90er Jahren auf unserer Hofbühne eine
Reihe seiner Stücke, bis es mit einem Schlage aus war und
Wildenbruch aus unerfindlichen Gründen in München über-
haupt keine Gaststätte für seine Stücke mehr fand. Es kam
die Zeit des rohen Naturalismus und der literarischen
Decadence, die vor allem jeden Patriotismus auf der Bühne
verbannte. Nun kommt Wildenbruch zu späten Ehren. Sein
edles vaterländisches Feuer, das in allen seinen Stücken so
kraftvolle Worte findet, wird heute wieder verstanden. Dabei
braucht man seine Schwächen gar nicht einmal zu übersehen.
Die Hauptschwäche ist die willkürliche und unwahrscheinliche
Motivierung seiner Konflikte. Gleich in der ersten Szene des
Mennoniten kommt dieser Fehler zu schärfstem Ausdruck.
Auf die große Unwahrscheinlichkeit, daß der Mennoniten-
älteste seine Tochter absolut nicht seinem über alles geliebten
Pflegesohn, sondern einem heimtückischen Glaubensgenossen,
den er allerdings in seinem Schwachsinn nicht durchschaut, zur
Frau geben will, ist der ganze Konflikt aufgebaut. Für uns
ist heute allerdings die politische Seite die weit wichtigere.

Der Autor dieses eigenartigen Trauerspiels führt uns in die
Zeit der größten Bedrängnis Deutschlands zurück, in jene
traurige Zeit der tiefsten Schmach und Erniedrigung, wo das
Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit durch Napoleon in
der Art zu Boden getreten war, daß ein englisches Organ
damals die tödliche Beleidigung: "Die Deutschen sind das
feigste und niederträchtigste Volk der Erde" ungestraft aus-
sprechen durfte. In diese Zeit politischer Zerrissenheit fällt
[Spaltenumbruch] die Gründung zahlreicher geheimer Bünde, deren bedeutend-
ster der von zwanzig Männern in Königsberg gegründete
"Tugendbund" war, der mit Wissen der Regierung bestand,
im Jahre 1809, in das "der Mennonit" verlegt ist, infolge
französischer Einmischung der Form nach zwar aufgelöst
wurde, trotzdem aber weiterbestand und an Ausdehnung ge-
wann. Das tätigste und mutigste Mitglied des Bundes, der
nach seinen Statuten durch "Wort, Schrift und Beispiel" auf
die nationale Einigung und die Losreißung von der Fremd-
herrschaft hinwirkte, war der Major Schill, der in diesem
Jahre vorzeitig Deutschlands Befreiung versuchte und bei
diesem Versuche den Heldentod fand. Dies ist der politische
Hintergrund der Handlung, welche uns Wildenbruch vorführt.
Die Franzosen haben Danzig besetzt, und Stadt und Um-
gebung leiden unter dem Drucke ihrer Forderungen. Ein
Dorf in der Nähe Danzigs ist der engere Schauplatz des
Dramas. Das Dorf bewohnen Mennoniten, so genannt nach
ihrem Glaubensstifter, dem friesischen Wanderprediger Menno
Simons (1492--1559), der die zerstreuten Reste der Wieder-
täufer sammelte und in Gemeinden zuerst in den Nieder-
landen, dann in Norddeutschland, wo es gegenwärtig deren
14,000 geben mag, ordnete. Die Sekte verwirft die gericht-
liche Klage, den Eid, Krieg und Zweikampf; der letztere ist
einer der Motoren des Stückes, wird aber in ganz anderer,
wir brauchen kaum zu sagen, würdigerer Weise benützt als
z. B. in dem Blumenthal-Girndtschen Stücke, "Um ein Nichts".
Ein junger, feuriger Mennonitenjüngling wird durch seine
Begriffe von Mannesehre und Vaterlandsliebe, sowie durch
einen heuchlerischen nichtswürdigen Glaubensgenossen, der
die Geliebte des ersteren mit Hilfe ihres schwachen Vaters
seine Braut zu werden zwingt, aus der fanatischen Gemeinde
gedrängt und fällt, infolge dieses Schrittes und als Anhänger
Schills von den Seinen den Franzosen ausgeliefert, mit dem
geliebten Mädchen auf dem Sande von Danzig durch die
Kugel der letzteren.

Wildenbruch hat sein Stück etwas später umgearbeitet
und u. a. seine Maria doch nicht erschießen, sondern durch
einen Herzschlag noch rechtzeitig sterben lassen. Im übrigen
hat er aber die Winke der damaligen Kritik in keiner Weise
befolgen zu müssen geglaubt, allerdings hätte er dann schon
gleich seinen Unterbau zerstören müssen. Alles, was sich auf
diesem Unterbau erhebt, ist aber konsequent und effektvoll
durchgeführt. Uebrigens haben meines Erinnerns die deut-
schen Mennoniten später einen geharnischten Protest
gegen Wildenbruchs wenig schmeichelhafte Zeichnung des
Mennonitentums verbreitet. Vielleicht hat auch dies dazu
beigetragen, daß das Stück allgemach von der deutschen
Bühne verschwand. Ich erinnere mich noch jener Premiere
vor 32 Jahren im Hoftheater. Schneider, Häusser, Possart,
Keppler und Rohde spielten die Hauptrollen, den jungen ab-
trünnigen Mennoniten aber kein anderer als der junge Kainz
in der Maienblüte seines feurigen Talents. Das war nun
freilich eine bescheidenere Aufführung neulich im Schauspiel-
hause, aber sie konnte sich immerhin sehen lassen. Die Dar-
steller waren die Herren Peppler, Hans und Siegfried Raabe,
Weydner und Jessen. Die einzige Frauenrolle des Stückes
gab Annie Rosar und den jungen Mennoniten sehr kraftvoll
und glaubhaft Herr Randolf. Natürlich griff das leider nicht
sehr zahlreiche Publikum gerade jene Kraftstellen vaterländi-
schen Geistes, die 1882 noch fast unter dem Tisch fielen, mit be-
sonderer Begeisterung auf.

An Begeisterung fehlt es bei Aufführung vaterländischer
Stücke unserem Publikum überhaupt nicht, wohl aber an
Zahl. Man hat den Eindruck, daß unsere Theater viel mehr
spielen, um ihre Mitglieder in schwerer Zeit zu beschäftigen,
als um dem Publikum ein würdiges Vergnügen zu bieten,
das es doch nur ungern aufsucht. So fand denn auch Ernst
Wicherts aus dem Jahre 1871 stammender Einakter "Das
eiserne Kreuz" nur eine schwache Zuhörerschaft. Das kleine
Lebensbild spielt am 18. Oktober 1870, ist literarisch ja gewiß
nicht bedeutend, aber kann auch gerade in unserer Zeit durch

[irrelevantes Material]

12. September 1914. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch]
Vaterländiſche Theaterabende.

Nach dem Vorbilde der Berliner Hofbühne hat auch die
unſere der ſchweren Zeit zum Trotz ihre Pforten dem allge-
meinen Beſuche wieder geöffnet. Dort wie da aber nicht
zum Beginn einer regelmäßigen täglichen Spielzeit für Schau-
ſpiel und Oper, ſondern, der Volksſtimmung Rechnung tra-
gend, zur Veranſtaltung vaterländiſcher Abende, bei denen
wohl unſere Hofkapelle und Mitglieder unſerer Oper mit-
wirken, das Theater aber ausgeſchaltet bleibt.

Am vorigen Sonntag fand der erſte dieſer Abende ſtatt,
und zwar zugunſten des Roten Kreuzes: es war ein im Hof-
theater veranſtaltetes Konzert der k. Hofmuſik, das nur einen
Namen trug, freilich den Namen unſeres größten und
deutſcheſten Tonmeiſters: den Namen Beethoven. Die Wahl
war gut, denn, wenn etwas zu Stimmung unſerer Tage paßt,
dann ſind es die hehren Klänge der Eroica, deren Siegesjubel
wie deren Trauermarſch ſo erhebende und ergreifende
Parallelen in unſeren Tagen finden. Direktor Walter diri-
gierte das ganze Konzert ſelbſt: die Eroica ſowohl, wie die
ſpäteren Ouverturen zum Egmont und die große dritte
Leonoren-Ouverture. Nach der Egmont-Ouverture ſang die
eben zur Hofopernſängerin ernannte Frau Perard-Petzl die
zur Egmont-Muſik gehörenden Lieder Klärchens: „Die
Trommel gerühret“ und „Freudvoll und leidvoll“. Frau
Perard-Petzl iſt, wie ja die meiſten Bühnenſängerinnen, keine
Konzertſängerin; aber darauf kam es bei dieſer Gelegenheit
auch gar nicht an. Die Hauptſache blieb doch der erhebende
und begeiſternde Eindruck, den Beethovens erhabene Muſik
auch auf dieſes Publikum, deſſen Gedanken wohl meiſtens an die
bedrohten Grenzen ſchweiften, ſeines tiefen Eindrucks nicht
verfehlte. Obwohl die Preiſe für dieſe Gelegenheit auf ein
Mindeſtmaß heruntergeſchraubt waren, dürfte dem Roten
Kreuz doch ein rundes Sümmchen zugekommen ſein, denn
das Haus war bis zum letzten Platz ausverkauft. Als das
Programm abgeſpielt war, erhoben ſich alle Zuhörer, und
unter Begleitung des Hoforcheſters ſang man die „Wacht am
Rhein“, die Königshymne und „Deutſchland über alles“, unter
großer Begeiſterung und beifälligem Dank für das Gebotene.



Das Schauſpielhaus ſucht auch weiter in ſeinem Spiel-
plan die patriotiſche Note möglichſt zu wahren. Es hat den
gar nicht üblen Einfall gehabt, Wildenbruchs alten
„Mennoniten“ aufzugreifen und ihn zum erſtenmal zur Auf-
führung zu bringen. In München ſelbſt iſt er nicht ganz
neu: er wurde am 31. Mai 1882 in unſerem Hoftheater zum
erſtenmal aufgeführt. Der Mennonit iſt zugleich Wilden-
bruchs überhaupt erſtes aufgeführtes Stück. Ihm folgten
in den 80er und 90er Jahren auf unſerer Hofbühne eine
Reihe ſeiner Stücke, bis es mit einem Schlage aus war und
Wildenbruch aus unerfindlichen Gründen in München über-
haupt keine Gaſtſtätte für ſeine Stücke mehr fand. Es kam
die Zeit des rohen Naturalismus und der literariſchen
Decadence, die vor allem jeden Patriotismus auf der Bühne
verbannte. Nun kommt Wildenbruch zu ſpäten Ehren. Sein
edles vaterländiſches Feuer, das in allen ſeinen Stücken ſo
kraftvolle Worte findet, wird heute wieder verſtanden. Dabei
braucht man ſeine Schwächen gar nicht einmal zu überſehen.
Die Hauptſchwäche iſt die willkürliche und unwahrſcheinliche
Motivierung ſeiner Konflikte. Gleich in der erſten Szene des
Mennoniten kommt dieſer Fehler zu ſchärfſtem Ausdruck.
Auf die große Unwahrſcheinlichkeit, daß der Mennoniten-
älteſte ſeine Tochter abſolut nicht ſeinem über alles geliebten
Pflegeſohn, ſondern einem heimtückiſchen Glaubensgenoſſen,
den er allerdings in ſeinem Schwachſinn nicht durchſchaut, zur
Frau geben will, iſt der ganze Konflikt aufgebaut. Für uns
iſt heute allerdings die politiſche Seite die weit wichtigere.

Der Autor dieſes eigenartigen Trauerſpiels führt uns in die
Zeit der größten Bedrängnis Deutſchlands zurück, in jene
traurige Zeit der tiefſten Schmach und Erniedrigung, wo das
Gefühl nationaler Zuſammengehörigkeit durch Napoleon in
der Art zu Boden getreten war, daß ein engliſches Organ
damals die tödliche Beleidigung: „Die Deutſchen ſind das
feigſte und niederträchtigſte Volk der Erde“ ungeſtraft aus-
ſprechen durfte. In dieſe Zeit politiſcher Zerriſſenheit fällt
[Spaltenumbruch] die Gründung zahlreicher geheimer Bünde, deren bedeutend-
ſter der von zwanzig Männern in Königsberg gegründete
„Tugendbund“ war, der mit Wiſſen der Regierung beſtand,
im Jahre 1809, in das „der Mennonit“ verlegt iſt, infolge
franzöſiſcher Einmiſchung der Form nach zwar aufgelöſt
wurde, trotzdem aber weiterbeſtand und an Ausdehnung ge-
wann. Das tätigſte und mutigſte Mitglied des Bundes, der
nach ſeinen Statuten durch „Wort, Schrift und Beiſpiel“ auf
die nationale Einigung und die Losreißung von der Fremd-
herrſchaft hinwirkte, war der Major Schill, der in dieſem
Jahre vorzeitig Deutſchlands Befreiung verſuchte und bei
dieſem Verſuche den Heldentod fand. Dies iſt der politiſche
Hintergrund der Handlung, welche uns Wildenbruch vorführt.
Die Franzoſen haben Danzig beſetzt, und Stadt und Um-
gebung leiden unter dem Drucke ihrer Forderungen. Ein
Dorf in der Nähe Danzigs iſt der engere Schauplatz des
Dramas. Das Dorf bewohnen Mennoniten, ſo genannt nach
ihrem Glaubensſtifter, dem frieſiſchen Wanderprediger Menno
Simons (1492—1559), der die zerſtreuten Reſte der Wieder-
täufer ſammelte und in Gemeinden zuerſt in den Nieder-
landen, dann in Norddeutſchland, wo es gegenwärtig deren
14,000 geben mag, ordnete. Die Sekte verwirft die gericht-
liche Klage, den Eid, Krieg und Zweikampf; der letztere iſt
einer der Motoren des Stückes, wird aber in ganz anderer,
wir brauchen kaum zu ſagen, würdigerer Weiſe benützt als
z. B. in dem Blumenthal-Girndtſchen Stücke, „Um ein Nichts“.
Ein junger, feuriger Mennonitenjüngling wird durch ſeine
Begriffe von Mannesehre und Vaterlandsliebe, ſowie durch
einen heuchleriſchen nichtswürdigen Glaubensgenoſſen, der
die Geliebte des erſteren mit Hilfe ihres ſchwachen Vaters
ſeine Braut zu werden zwingt, aus der fanatiſchen Gemeinde
gedrängt und fällt, infolge dieſes Schrittes und als Anhänger
Schills von den Seinen den Franzoſen ausgeliefert, mit dem
geliebten Mädchen auf dem Sande von Danzig durch die
Kugel der letzteren.

Wildenbruch hat ſein Stück etwas ſpäter umgearbeitet
und u. a. ſeine Maria doch nicht erſchießen, ſondern durch
einen Herzſchlag noch rechtzeitig ſterben laſſen. Im übrigen
hat er aber die Winke der damaligen Kritik in keiner Weiſe
befolgen zu müſſen geglaubt, allerdings hätte er dann ſchon
gleich ſeinen Unterbau zerſtören müſſen. Alles, was ſich auf
dieſem Unterbau erhebt, iſt aber konſequent und effektvoll
durchgeführt. Uebrigens haben meines Erinnerns die deut-
ſchen Mennoniten ſpäter einen geharniſchten Proteſt
gegen Wildenbruchs wenig ſchmeichelhafte Zeichnung des
Mennonitentums verbreitet. Vielleicht hat auch dies dazu
beigetragen, daß das Stück allgemach von der deutſchen
Bühne verſchwand. Ich erinnere mich noch jener Premiere
vor 32 Jahren im Hoftheater. Schneider, Häuſſer, Poſſart,
Keppler und Rohde ſpielten die Hauptrollen, den jungen ab-
trünnigen Mennoniten aber kein anderer als der junge Kainz
in der Maienblüte ſeines feurigen Talents. Das war nun
freilich eine beſcheidenere Aufführung neulich im Schauſpiel-
hauſe, aber ſie konnte ſich immerhin ſehen laſſen. Die Dar-
ſteller waren die Herren Peppler, Hans und Siegfried Raabe,
Weydner und Jeſſen. Die einzige Frauenrolle des Stückes
gab Annie Roſar und den jungen Mennoniten ſehr kraftvoll
und glaubhaft Herr Randolf. Natürlich griff das leider nicht
ſehr zahlreiche Publikum gerade jene Kraftſtellen vaterländi-
ſchen Geiſtes, die 1882 noch faſt unter dem Tiſch fielen, mit be-
ſonderer Begeiſterung auf.

An Begeiſterung fehlt es bei Aufführung vaterländiſcher
Stücke unſerem Publikum überhaupt nicht, wohl aber an
Zahl. Man hat den Eindruck, daß unſere Theater viel mehr
ſpielen, um ihre Mitglieder in ſchwerer Zeit zu beſchäftigen,
als um dem Publikum ein würdiges Vergnügen zu bieten,
das es doch nur ungern aufſucht. So fand denn auch Ernſt
Wicherts aus dem Jahre 1871 ſtammender Einakter „Das
eiſerne Kreuz“ nur eine ſchwache Zuhörerſchaft. Das kleine
Lebensbild ſpielt am 18. Oktober 1870, iſt literariſch ja gewiß
nicht bedeutend, aber kann auch gerade in unſerer Zeit durch

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[561/0011] 12. September 1914. Allgemeine Zeitung Vaterländiſche Theaterabende. Nach dem Vorbilde der Berliner Hofbühne hat auch die unſere der ſchweren Zeit zum Trotz ihre Pforten dem allge- meinen Beſuche wieder geöffnet. Dort wie da aber nicht zum Beginn einer regelmäßigen täglichen Spielzeit für Schau- ſpiel und Oper, ſondern, der Volksſtimmung Rechnung tra- gend, zur Veranſtaltung vaterländiſcher Abende, bei denen wohl unſere Hofkapelle und Mitglieder unſerer Oper mit- wirken, das Theater aber ausgeſchaltet bleibt. Am vorigen Sonntag fand der erſte dieſer Abende ſtatt, und zwar zugunſten des Roten Kreuzes: es war ein im Hof- theater veranſtaltetes Konzert der k. Hofmuſik, das nur einen Namen trug, freilich den Namen unſeres größten und deutſcheſten Tonmeiſters: den Namen Beethoven. Die Wahl war gut, denn, wenn etwas zu Stimmung unſerer Tage paßt, dann ſind es die hehren Klänge der Eroica, deren Siegesjubel wie deren Trauermarſch ſo erhebende und ergreifende Parallelen in unſeren Tagen finden. Direktor Walter diri- gierte das ganze Konzert ſelbſt: die Eroica ſowohl, wie die ſpäteren Ouverturen zum Egmont und die große dritte Leonoren-Ouverture. Nach der Egmont-Ouverture ſang die eben zur Hofopernſängerin ernannte Frau Perard-Petzl die zur Egmont-Muſik gehörenden Lieder Klärchens: „Die Trommel gerühret“ und „Freudvoll und leidvoll“. Frau Perard-Petzl iſt, wie ja die meiſten Bühnenſängerinnen, keine Konzertſängerin; aber darauf kam es bei dieſer Gelegenheit auch gar nicht an. Die Hauptſache blieb doch der erhebende und begeiſternde Eindruck, den Beethovens erhabene Muſik auch auf dieſes Publikum, deſſen Gedanken wohl meiſtens an die bedrohten Grenzen ſchweiften, ſeines tiefen Eindrucks nicht verfehlte. Obwohl die Preiſe für dieſe Gelegenheit auf ein Mindeſtmaß heruntergeſchraubt waren, dürfte dem Roten Kreuz doch ein rundes Sümmchen zugekommen ſein, denn das Haus war bis zum letzten Platz ausverkauft. Als das Programm abgeſpielt war, erhoben ſich alle Zuhörer, und unter Begleitung des Hoforcheſters ſang man die „Wacht am Rhein“, die Königshymne und „Deutſchland über alles“, unter großer Begeiſterung und beifälligem Dank für das Gebotene. Das Schauſpielhaus ſucht auch weiter in ſeinem Spiel- plan die patriotiſche Note möglichſt zu wahren. Es hat den gar nicht üblen Einfall gehabt, Wildenbruchs alten „Mennoniten“ aufzugreifen und ihn zum erſtenmal zur Auf- führung zu bringen. In München ſelbſt iſt er nicht ganz neu: er wurde am 31. Mai 1882 in unſerem Hoftheater zum erſtenmal aufgeführt. Der Mennonit iſt zugleich Wilden- bruchs überhaupt erſtes aufgeführtes Stück. Ihm folgten in den 80er und 90er Jahren auf unſerer Hofbühne eine Reihe ſeiner Stücke, bis es mit einem Schlage aus war und Wildenbruch aus unerfindlichen Gründen in München über- haupt keine Gaſtſtätte für ſeine Stücke mehr fand. Es kam die Zeit des rohen Naturalismus und der literariſchen Decadence, die vor allem jeden Patriotismus auf der Bühne verbannte. Nun kommt Wildenbruch zu ſpäten Ehren. Sein edles vaterländiſches Feuer, das in allen ſeinen Stücken ſo kraftvolle Worte findet, wird heute wieder verſtanden. Dabei braucht man ſeine Schwächen gar nicht einmal zu überſehen. Die Hauptſchwäche iſt die willkürliche und unwahrſcheinliche Motivierung ſeiner Konflikte. Gleich in der erſten Szene des Mennoniten kommt dieſer Fehler zu ſchärfſtem Ausdruck. Auf die große Unwahrſcheinlichkeit, daß der Mennoniten- älteſte ſeine Tochter abſolut nicht ſeinem über alles geliebten Pflegeſohn, ſondern einem heimtückiſchen Glaubensgenoſſen, den er allerdings in ſeinem Schwachſinn nicht durchſchaut, zur Frau geben will, iſt der ganze Konflikt aufgebaut. Für uns iſt heute allerdings die politiſche Seite die weit wichtigere. Der Autor dieſes eigenartigen Trauerſpiels führt uns in die Zeit der größten Bedrängnis Deutſchlands zurück, in jene traurige Zeit der tiefſten Schmach und Erniedrigung, wo das Gefühl nationaler Zuſammengehörigkeit durch Napoleon in der Art zu Boden getreten war, daß ein engliſches Organ damals die tödliche Beleidigung: „Die Deutſchen ſind das feigſte und niederträchtigſte Volk der Erde“ ungeſtraft aus- ſprechen durfte. In dieſe Zeit politiſcher Zerriſſenheit fällt die Gründung zahlreicher geheimer Bünde, deren bedeutend- ſter der von zwanzig Männern in Königsberg gegründete „Tugendbund“ war, der mit Wiſſen der Regierung beſtand, im Jahre 1809, in das „der Mennonit“ verlegt iſt, infolge franzöſiſcher Einmiſchung der Form nach zwar aufgelöſt wurde, trotzdem aber weiterbeſtand und an Ausdehnung ge- wann. Das tätigſte und mutigſte Mitglied des Bundes, der nach ſeinen Statuten durch „Wort, Schrift und Beiſpiel“ auf die nationale Einigung und die Losreißung von der Fremd- herrſchaft hinwirkte, war der Major Schill, der in dieſem Jahre vorzeitig Deutſchlands Befreiung verſuchte und bei dieſem Verſuche den Heldentod fand. Dies iſt der politiſche Hintergrund der Handlung, welche uns Wildenbruch vorführt. Die Franzoſen haben Danzig beſetzt, und Stadt und Um- gebung leiden unter dem Drucke ihrer Forderungen. Ein Dorf in der Nähe Danzigs iſt der engere Schauplatz des Dramas. Das Dorf bewohnen Mennoniten, ſo genannt nach ihrem Glaubensſtifter, dem frieſiſchen Wanderprediger Menno Simons (1492—1559), der die zerſtreuten Reſte der Wieder- täufer ſammelte und in Gemeinden zuerſt in den Nieder- landen, dann in Norddeutſchland, wo es gegenwärtig deren 14,000 geben mag, ordnete. Die Sekte verwirft die gericht- liche Klage, den Eid, Krieg und Zweikampf; der letztere iſt einer der Motoren des Stückes, wird aber in ganz anderer, wir brauchen kaum zu ſagen, würdigerer Weiſe benützt als z. B. in dem Blumenthal-Girndtſchen Stücke, „Um ein Nichts“. Ein junger, feuriger Mennonitenjüngling wird durch ſeine Begriffe von Mannesehre und Vaterlandsliebe, ſowie durch einen heuchleriſchen nichtswürdigen Glaubensgenoſſen, der die Geliebte des erſteren mit Hilfe ihres ſchwachen Vaters ſeine Braut zu werden zwingt, aus der fanatiſchen Gemeinde gedrängt und fällt, infolge dieſes Schrittes und als Anhänger Schills von den Seinen den Franzoſen ausgeliefert, mit dem geliebten Mädchen auf dem Sande von Danzig durch die Kugel der letzteren. Wildenbruch hat ſein Stück etwas ſpäter umgearbeitet und u. a. ſeine Maria doch nicht erſchießen, ſondern durch einen Herzſchlag noch rechtzeitig ſterben laſſen. Im übrigen hat er aber die Winke der damaligen Kritik in keiner Weiſe befolgen zu müſſen geglaubt, allerdings hätte er dann ſchon gleich ſeinen Unterbau zerſtören müſſen. Alles, was ſich auf dieſem Unterbau erhebt, iſt aber konſequent und effektvoll durchgeführt. Uebrigens haben meines Erinnerns die deut- ſchen Mennoniten ſpäter einen geharniſchten Proteſt gegen Wildenbruchs wenig ſchmeichelhafte Zeichnung des Mennonitentums verbreitet. Vielleicht hat auch dies dazu beigetragen, daß das Stück allgemach von der deutſchen Bühne verſchwand. Ich erinnere mich noch jener Premiere vor 32 Jahren im Hoftheater. Schneider, Häuſſer, Poſſart, Keppler und Rohde ſpielten die Hauptrollen, den jungen ab- trünnigen Mennoniten aber kein anderer als der junge Kainz in der Maienblüte ſeines feurigen Talents. Das war nun freilich eine beſcheidenere Aufführung neulich im Schauſpiel- hauſe, aber ſie konnte ſich immerhin ſehen laſſen. Die Dar- ſteller waren die Herren Peppler, Hans und Siegfried Raabe, Weydner und Jeſſen. Die einzige Frauenrolle des Stückes gab Annie Roſar und den jungen Mennoniten ſehr kraftvoll und glaubhaft Herr Randolf. Natürlich griff das leider nicht ſehr zahlreiche Publikum gerade jene Kraftſtellen vaterländi- ſchen Geiſtes, die 1882 noch faſt unter dem Tiſch fielen, mit be- ſonderer Begeiſterung auf. An Begeiſterung fehlt es bei Aufführung vaterländiſcher Stücke unſerem Publikum überhaupt nicht, wohl aber an Zahl. Man hat den Eindruck, daß unſere Theater viel mehr ſpielen, um ihre Mitglieder in ſchwerer Zeit zu beſchäftigen, als um dem Publikum ein würdiges Vergnügen zu bieten, das es doch nur ungern aufſucht. So fand denn auch Ernſt Wicherts aus dem Jahre 1871 ſtammender Einakter „Das eiſerne Kreuz“ nur eine ſchwache Zuhörerſchaft. Das kleine Lebensbild ſpielt am 18. Oktober 1870, iſt literariſch ja gewiß nicht bedeutend, aber kann auch gerade in unſerer Zeit durch _

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 37, 12. September 1914, S. 561. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine37_1914/11>, abgerufen am 21.11.2024.