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Allgemeine Zeitung, Nr. 21, 25. Januar 1929.

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"AZ am Abend" Nr. 21 Freitag, den 23. Januar


[Spaltenumbruch]

25 000 Mark, die einen gewissen Ausgleich für
die im Sommer vorweg genommene Senkung
der Lohnsteuer darstellt. Die übrigen Blumen
des Steuerstraußes dagegen duften weniger an-
genehm. Die Erhöhung der Erbschaftssteuer
durch Ausdehnung der Steuerpflicht auf das
Gattenerbe, die 20 Millionen bringen soll, wird
lebhaftesten Widerspruch aus guten Gründen er-
wecken und dürfte wohl letzten Endes unter den
Tisch fallen. Die Erhöhung der Vermögens-
steuer
um 20 Prozent, wenn auch nur für das
bevorstehende Haushaltsjahr, mit einem erwarte-
ten Betrag von 104 Millionen, wird nicht weni-
ger unliebsam als eine Maßregel empfunden wer-
den, die den langsam wieder in Gang kommen-
den Prozeß der Bildung neuen Sparkapitals auf-
hält und daher wirtschaftlich einen größeren
Schaden anrichten wird, als der mutmaßliche
Nutzen für die Reichskasse beträgt. Daneben
greift das Finanzministerium dann auf den Alko-
hol zurück und schlägt eine Erhöhung der Bier-
steuer
um 165 Millionen und eine solche der
Branntweinabgaben um 90 Millionen
vor. Auch diese Steuern stoßen auf schwere Be-
denken, und zwar keineswegs nur auf der Lin-
ken, wo man sie nur unter dem Gesichtspunkt der
Massenbelastung ansieht, sondern auch bei den
bürgerlichen Parteien, die von der Besorgnis ge-
leitet werden, daß eine derartige Steuererhöhung
sich in einer vielfachen Vergrößerung auf die
Konsumpreise auswirken, vielerorten die Lebens-
haltung verteuern und die Löhne in die Höhe
treiben, zugleich aber wahrscheinlich auch zu einer
Einschränkung des Verbrauchs führen und daher
den Ertrag der Steuern gefährden würde, ganz
zu schweigen von den Erschwerungen der Pro-
duktion, die mit einer solchen Erhöhung ver-
bunden sein werden.

Es liegt nahe, zu fragen, warum man gerade
diese Steuerobjekte ausgewählt hat, und an an-
deren vorübergegangen ist, die aus wirtschaft-
lichen Gründen gerechter und wohl auch ertrag-
reicher sein würden, als die vom Reichsfinanz-
ministerium vorgeschlagenen Steuern. Die Sen-
kung der Umsatzsteuer durch den Finanz-
minister Dr. Reinhold hat seinerzeit einen Steuer-
ausfall von 3--400 Millionen mit sich gebracht,
ohne daß die Wirtschaft eine wesentliche Erleichte-
rung davon gespürt hätte. Eine andere Frage
ist es freilich, ob die Wiedererhöhung dieser
Steuer, die manche für verhältnismäßig am trag-
fähigsten halten, ebenso bedeutungslos für die
Wirtschaft sein würde. Man wird nicht übersehen
dürfen, daß in einer Zeit sinkender Konjunktur
die Steuern vielfach beim Produzenten oder beim
Einzelhandel hängen bleiben und dort die ohne-

[Spaltenumbruch]

dies schwierige Erwerbslage weiter verschlechtern.
Die Besteuerung der Betriebe der
öffentlichen Hand
könnte nach sachverstän-
diger Meinung mehr als 200 Millionen Mark
jährlich erbringen. Sie würde die wirtschaftlich
notwendige Gleichstellung dieser Betriebe mit
denen der Privatwirtschaft zur Folge haben und
fast überall ohne Tariferhöhung durchführbar
sein. Gegen diese Besteuerung haben schon bis-
her die hauptsächlich beteiligten Gemeinden und
Gemeindeverbände Sturm gelaufen, die es als
ihr gutes Recht ansehen, hier einen Sondervor-
teil auf Kosten des Reiches und der Wirtschaft zu
erzielen, und die das Gespenst einer Verteuerung
ihrer Leistungen zum Schaden der Bevölkerung
an die Wand malen, obwohl durchschnittlich die
privaten Betriebe trotz der Steuerpflicht zu billi-
geren Leistungen in der Lage sind als die öffent-
lichen Betriebe. Es sind hier also durchaus
Steuerquellen vorhanden, die mindestens ebenso
diskussionsfähig sind, wie diejenigen des Regie-
rungsprogramms, und sowohl der Reichsrat wie
der Reichstag werden nicht umhin können, auch
diese Möglichkeiten ernsthaft ins Auge zu fassen,
wenn sie einen Ausgleich der naturgemäß ein-
ander widerstrebenden Steuerinteressen versuchen.

Diesem Ausgleich kann man nicht aus dem
Wege gehen, indem man die Verabschiedung der
Steuergesetze und des Haushaltes für 1929 über
den 1. April hinaus verschiebt, in der vagen
Hoffnung, es könne irgendein Wunder geschehen,
das den verantwortlichen Instanzen, nämlich
Reichsrat und Reichstag, die Sorge um das Defi-
zit abnehme. Das Zentrum, das selbst in
allererster Linie die Verantwortung für die gegen-
wärtige Lage trägt, die in ganz wesentlichen
Teilen durch die dem Zentrum angehörigen Min-
ster Dr. Köhler und Dr. Brauns verursacht wor-
den ist, sollte sich endlich zu der Erkenntnis durch-
ringen, daß es seinem Ansehen und dem Inter-
esse des Reiches die Einnahme einer klaren und
positiven Haltung zu den schwebenden Problemen
schuldig ist. Ebenso sehr wird freilich auch die
Bayerische Volkspartei klareren Ent-
scheidungen zustreben müssen. Sie möge beden-
ken, daß die von ihr erstrebte und Bayern im
vorigen Reichstag auch grundsätzlich zugesprochene
Vorabvergütung aus der Biersteuer, die für den
Ausgleich des bayerischen Etats gebraucht wird,
in der geforderten Höhe eine Leistung des guten
Willens der übrigen Teile des Reiches darstellt,
der nicht gefördert wird, wenn der genügend be-
kannte Faustschlag auf den Tisch erfolgt, sondern
der verständnisvolles Entgegenkommen und Mit-
arbeit an den Gesamtinteressen des Reiches vor-
aussetzt.



Erste Reichstagssitzung im Neuen Jahr

Das Wartestandsbeamtengesetz * Lautsprecher und Kommunistendemonstration

[Spaltenumbruch]

In den Verhandlun-
gen des ersten Sitzungstages des Reichs-
tages im Neuen Jahr brachten eine neue
Einrichtung und eine schon etwas abgenutzte
Demonstration einige Abwechslung. Auf
der Tagesordnung stand nur das neue
Wartestandsbeamtengesetz. Als
Finanzminister Dr. Hilferding seine
Vorlage begründen wollte, blieb er im Hause
und auf den Tribünen
Infolge der lebhaften Gespräche der
Abgeordneten ziemlich unverständlich.
Deshalb schallete Präsident Löbe die
neuen Lautsprecher ein und siehe da!
Dr. Hilferding konnte sich verständlich
machen.

Er legte dar, daß wir infolge des Beamten-
abbaues immer noch allzuviel Wartegeld-
empfänger hätten, die nicht verpflichtet seien,
vorübergehende Beschäftigung bei Behörden
anzunehmen. Diese Verpflichtung soll das
neue Gesetz ihnen jetzt auferlegen. Außer-
dem sollen sie durch einige Vergünstigungen
veranlaßt werden, sich pensionieren zu lassen,
wenn sie auf Wiederverwendung keinen
Wert legen. Aeltere Wartestandsbeamte
seien mit Hilfe des neuen Gesetzes sogar
zwangsweise zu pensionieren. Der Finanz-
minister hofft, auf diese Weise bedeutende
Ersparnisse erzielen zu können.

Die hinter der Regierung stehenden Par-
teien verzichteten darauf, schon bei der ersten
Lesung zu dem Entwurf Stellung zu neh-
men. Die Vertreter der anderen Parteien
jedoch ließen an dem Gesetz kaum ein gutes
Haar. Deutschnationale, Kommunisten und
Nationalsozialisten waren übereinstimmend
der Meinung, daß die Vorlage
in wohlerworbene Rechte der Beamten
eingreife.

Nur der Wirtschaftsparteiler Siegfried
erklärte sich mit dem Entwurf voll einver-
standen, worauf ihm der Kommunist Torg-
ler
die Regierungsfähigkeit attestierte. Die
Vorlage wurde dem Haushaltsausschuß
überwiesen.

Da man am Schluß der Sitzung den
Kommunisten nicht ihren Wunsch erfüllte,
für Freitag die Beratung ihrer Erwerbs-
losenanträge in Aussicht zu nehmen, setzten
sie
auf der Publikumstribüne ihren prole-
tarischen Sprechchor in Tätigkeit.

"Wir Arbeitslosen verlangen Arbeit und
Brot!" so hallte es in den Saal. Niemand
nahm jedoch die lärmende Demonstration
ernst. Präsident Löbe konnte ungestört die
Sitzung schließen und für Freitag die Be-

[Spaltenumbruch]

ratung des Steuervereinheitlichungsgesetzes
ankündigen. Da niemand sie beachtete, so
erstarben die kommunistischen Rufe nach
einigen Minuten, ohne daß Polizeigewalt
in Anspruch genommen wurde.

Noch kein Beginn der Koalitions-
verhandlungen im Reich

Die Erwartungen, die an den Beginn der
Reichstagssitzung geknüpft wurden, daß zu-
gleich die Verhandlungen in aller Form
über die Koalitionsbildung und die Etats-
fragen unter den Parteien beginnen wür-
den, haben sich nicht bewahrheitet.

Wie das Nachrichtenbüro des Vereins
Deutscher Zeitungsverleger erfährt, be-
schränkt sich die Erörterung zunächst darauf,
daß der Reichskanzler mit den Partei-
führern einzeln und formlos Fühlung
nimmt. Ueber interfraktionelle Verhand-
lungen verlautet vorläufig nichts.

Die demokratische Reichstagsfraktion
zum neuen Haushalt

Die demokratische Reichstagsfraktion hat
sich in zwei Fraktionssitzungen mit dem
neuen Haushalt beschäftigt. Hierbei wurde
einstimmig die Auffassung vertreten, daß
man danach streben sollte, den Haushalt
unter möglichster Vermeidung einer Verstär-
kung der gesamten Steuerlast durch weit-
gehende Ersparnisse
, namentlich
auch im Wege der Beschränkung einmaliger
Sachausgaben ins Gleichgewicht zu bringen.
Die Fraktion beschloß. Vorschläge auszu-
arbeiten, aus deren Verwirklichung sie eine
wesentliche Herabsetzung des Defizits er-
hofft.

Geburtstagsfeier in Doorn

60 Familienmitglieder anwesend


Wie aus Doorn
zuverlässig verlautet, wird dort am kom-
menden Sonntag zum 70. Geburtstag des
ehemaligen deutschen Kaisers, dessen nähere
Familie so gut wie vollzählig versammelt
sein. Neben den nächsten Angehörigen des
ehemaligen Kaisers werden auch verschiedene
entferntere Verwandte erwartet, so daß
insgesamt etwa 60 Mitglieder der ehemali-
gen kaiserlichen Familie in Doorn versam-
melt sein werden. Außer ihnen dürften noch
einige Persönlichkeiten, die dem ehemaligen
Kaiser früher sehr nahe gestanden haben,
nach Doorn kommen

[Spaltenumbruch]
Beginn der Kammerdebatte
Das Elsaß macht Poincare Kummer

Die ersten Interpellanten kommen zu Wort * Poincare gegen Ricklin


Die Kammer hat gestern die
Diskussion der vorliegenden elf Interpellationen
über die Politik in Elsaß-Lothringen begonnen.
Ministerpräsident Poincare und Außen-
minister Briand sowie Unterstaatssekretär
Oberkirch wohnen der Sitzung bei. Auch die
beiden für Ricklin und Rosse gewählten Abge-
ordneten Stürmer und Hauß sind erschie-
nen. Erster Interpellant ist der sozialistische Ab-
geordnete Grumbach, der die bisher gegen-
über den Autonomisten verfolgte Politik nicht für
wirksam hält. Er wendet sich scharf gegen die
Autonomisten, die behaupten, das Elsaß habe im
Oktober 1918 die Freiheit verloren. Es sei nicht
wahr, daß die Unzufriedenheit im Elsaß auf die
Fehler zurückzuführen sei, die Herriot begangen
habe, und sprach von den Ungelegenheiten, die
sich daraus ergeben haben, daß die Richter nicht
sämtlich der deutschen Sprache mächtig sind, wo-
bei Justizminister Barthou ein Wort einwarf, es
handele sich hier um Schwierigkeiten, die nicht
leicht überwunden werden könnten.

Der katholisch-demokratische Abgeordnete Brom
bemühte sich im Gegensatz zu Grumbach um den
Nachweis, daß die Fehler im Elsaß
nicht von den Kalholiken
begangen worden seien. Er sagte, Frankreich
habe dem Elsaß unbestreitbar zahlreiche Wohl-
taten gebracht, aber ernste Fehler seien trotzdem
begangen worden. Nach dem Waffenstillstand
habe man im Elsaß ein grenzenloses Vertrauen
zu Frankreich gehabt, aber man habe nur an die
reiche Bourgeoisie gedacht, ohne sich um das Volk
zu kümmern. Leider sei das Gerechtigkeitsgefühl
des Volkes nicht beachtet worden. Angeklagte
hätten vor Richtern erscheinen müssen, die ihre
Sprache nicht verstanden. Bei den geringsten
Kleinigkeiten, führe man die Leute geschlossen vor
die Richter. Der Abgeordnete Brom beschwor
zum Schluß Frankreich, es möge sich Mühe
geben, das Elsaß zu verstehen. Durch das Elsaß
könne Frankreich Deutschland erreichen und um-
gekehrt.

Poincare protestierte gegen die Behaup-
tung des Abgeordneten Brom, als seien die
Elsässer einem System der Verfolgung ausgesetzt.
Er könne im Gegenteil Beweise dafür liefern,

[Spaltenumbruch]

daß Geschworene im Kolmarer Prozeß fortgesetzt
den stärksten Angriffen ausgesetzt gewesen seien.

Der Abgeordnete Michel Walter erklärte,
allmählich habe sich durch das systematische Miß-
verstehen der sozialen Probleme ein Unbehagen
herausgebildet. Das Elsaß habe niemals auf
seine Muttersprache verzichtet. Die elsässischen
Nationalisten seien nicht Agenten des Auslandes.

Die Bedrohung mit einem Druck hätte bei
den Elsässern niemals Erfolge gehabt, selbst
nicht unter der deutschen Herrschaft.

Kurz vor Schluß der Nachmittagssitzung der
Kammer kam es zu einem Zwischenfall, als der
Abgeordnete Walter (Michel) im Verlauf seiner
Rede erklärte, daß Ricklin und Rosse während
des Krieges ihren Landsleuten sehr große Dienste
geleistet hätten.

Poincare antwortete nämlich in sehr
erregtem Tone hierauf,

es sei zwar nicht angebracht nachzuforschen, welche
Haltung Elsässer während des Krieges eingenom-
men hätten, als sie sich mit dem deutschen Re-
gime hätten abfinden müssen. Aber man dürfe
doch nicht zu weit gehen. Ricklin habe als
Präsident des Landtags nicht nur eine deutsche,
sondern
sogar eine kaisertreue Erklärung abgegeben;
denn er habe eine seiner Reden mit dem Ruf
geschlossen: "Es lebe Elsaß Lothringen, es lebe
Deutschland, es lebe der Kaiser!" Poincare ver-
las darauf einen längeren Artikel aus der "Ga-
zette des Ardennes", in dem Dr. Ricklin betont
habe, daß die Elsaß-Lothringer nicht wollten, daß
der Krieg um ihretwillen andauere; denn das
Elsaß wolle deutsch bleiben. Wer dies geschrieben
habe der dürfe sich nicht an die Spitze einer
separatistischen Bewegung stellen. Die Zeitungen
dieser Bewegung dürften nicht wagen, die fran-
zösische Regierung anzuklagen, daß sie für den
Krieg verantwortlich sei und daß sie das Massakre
fortgesetzt habe, um die Elsässer entgegen ihrem
Willen zu Franzosen zu machen.

Diese Minderheit von Elsässern wolle ganz
Frankreich stören und belohne Frankreich
schlecht, das für das Elsaß doch so viel getan
habe. Ein derartiger Lohn sei der größte
Schmerz für einen Franzosen



Hinweg von Anschlußsentimentalitäten:
Wirtschaftliche Einheit das Ziel

Eine bedeutsame Rede im österreichischen Nationalrat

[Spaltenumbruch]

Im Nationalrat sprach
bei der Beratung des Handelsbudgets der
Vorarlberger christlich-soziale Abgeordnete
Drexel in einer großen politischen Rede
über die deutsch-österreichischen Handelsver-
tragsverhandlungen. Er erinnerte an die
seinerzeit verbreiteten Nachrichten von einem
angeblichen Abbruch der Verhandlungen in-
folge schwerer Meinungsverschiedenheiten,
Nachrichten, die im Ausland zum Teil un-
verhohlene Freude und den Glauben erweckt
hatten, daß das Ende der Anschlußbewegung
gekommen sei. Der Redner führte weiter
aus:

Die Sorge. daß es tiefgehende Meinungs-
verschiedenheiten seien, wurde aber von uns
genommen.
Die große Entscheidung über das Schick-
sal des deutschen Volkes liegt nicht in
der Frage, ob es gelingt, den politischen
Anschluß durchzuführen. Dieser ist keine
unbedingte Nokwendigkeit. Entscheidend
ist, ob es gelingt, auf dem Wege des
Handelsvertrags einander vorläufig
näher zu kommen, bis das große Ziel
erreicht ist, daß Deutschland und
Oesterreich ein einheitliches Wirtschafts-
gebiet sind.

Die nächste Generation wird uns danken,
wenn wir die geschichtliche Unterbrechung
in dem Verhältnis zu Deuschland seit 1806
wieder gutgemacht haben. Wenn wir es
einmal fertigbringen, daß in allen Handels-
verträgen mit Deutschland die Bemerkung
enthalten ist: Die Meistbegünstigung gilt
mit Ausnahme jener Fälle, die sich Deutsch-

[Spaltenumbruch]

land und Oesterreich als befreundete Staaten
einräumen, dann sollen die Siegerstaaten
kommen und sagen: Das ist verboten. Wenn
wir uns in einem Belange, der niemand
schadet und niemand wehtut, nicht selbst
helfen dürfen, dann möchte ich sehen, ob
auch die Amerikaner und Engländer sagen,
daß so etwas verboten sein soll.
Es ist gut, daß wir aus der allgemeinen
Anschlußstimmung langsam herauskommen,
soweit sie nur ein allgemeiner Wunsch mehr
aus dem Herzen als aus wirtschaftlichen
Ueberlegungen heraus ist. Wir müssen in
die Wirklichkeit einzutreten suchen. Wir
wollen der Welt zeigen, ob wir nicht das
Recht auf Wohlergehen
haben. Der Weg dazu aber ist die Arbeit
an dem Handelsvertrag, zu dessen Abschluß
die Unterhändler zusammentreten, wie
Freunde an einem Freundschaftsvertrag, der
der ganzen Welt beweisen soll, daß die zwei
Partner keine Entente sind, daß sie keinen
Pakt haben, den man dem Völkerbund vor-
legen muß, und keinen Schiedsgerichtsver-
trag, sondern daß sie eine Einheit sind, ein
Kernpunkt zur Einheit Europas. (Stürmi-
scher Beifall.)


Im weiteren Verlauf der Debatte dankte
der großdeutsche Abgeordnete Hampel
dem Abgeordneten Drexel für seine Stel-
lungnahme. Der Abgeordnete Abram von
den Sozialdemokraten sieht die einzige Mög-
lichkeit, daß Oesterreich geholfen werde, im
Anschluß. Oesterreich aber müsse selbst
manches tun, um zur Wirtschaftsgemeinschaft
zu kommen.



Was soll werden?
Vor einer ernsten Regierungskrise

Hauptschwierigkeit: Etat und seine Deckung

[Spaltenumbruch]

Der Sozlaldemokra-
tische Pressedienst schreibt zu der Frage der
Regierungskoalition im Reich u. a.:

"Es ist selbstverständlich, daß die bisherige
Form des Regierens, die sog. Lockere Bin-
dung, ihre Grenzen hat, und es kann kei-
nem Zweifel unterliegen, daß wir uns
einem kritischen Moment nähern.
Er liegt in der Notwendigkeit, den Etat zu
verabschieden und für das Defizit eine
Deckung zu finden. Daraus ergibt sich für
den Reichskanzler die Notwendigkeit, jetzt

[Spaltenumbruch] ohne zunächst offizielle Verhandlungen zu
eröffnen, mit den leitenden Stellen der ein-
zelnen Parteien Fühlung zu nehmen und
das Terrain zu sondieren. Mit diesen Unter-
haltungen ist denn auch bereits am Mittwoch
begonnen worden.
Sicherlich werden die Sozialdemokraten,
Demokraten, Zentrum und Deutsche Volks-
partei -- die Bayerische Volkspartei nimmt
im gewissen Sinne eine Sonderstellung ein
-- die Frage nach ihrer grundsätzlichen
Bereitschaft zur koalitionsmäßigen Bindung

„AZ am Abend“ Nr. 21 Freitag, den 23. Januar


[Spaltenumbruch]

25 000 Mark, die einen gewiſſen Ausgleich für
die im Sommer vorweg genommene Senkung
der Lohnſteuer darſtellt. Die übrigen Blumen
des Steuerſtraußes dagegen duften weniger an-
genehm. Die Erhöhung der Erbſchaftsſteuer
durch Ausdehnung der Steuerpflicht auf das
Gattenerbe, die 20 Millionen bringen ſoll, wird
lebhafteſten Widerſpruch aus guten Gründen er-
wecken und dürfte wohl letzten Endes unter den
Tiſch fallen. Die Erhöhung der Vermögens-
ſteuer
um 20 Prozent, wenn auch nur für das
bevorſtehende Haushaltsjahr, mit einem erwarte-
ten Betrag von 104 Millionen, wird nicht weni-
ger unliebſam als eine Maßregel empfunden wer-
den, die den langſam wieder in Gang kommen-
den Prozeß der Bildung neuen Sparkapitals auf-
hält und daher wirtſchaftlich einen größeren
Schaden anrichten wird, als der mutmaßliche
Nutzen für die Reichskaſſe beträgt. Daneben
greift das Finanzminiſterium dann auf den Alko-
hol zurück und ſchlägt eine Erhöhung der Bier-
ſteuer
um 165 Millionen und eine ſolche der
Branntweinabgaben um 90 Millionen
vor. Auch dieſe Steuern ſtoßen auf ſchwere Be-
denken, und zwar keineswegs nur auf der Lin-
ken, wo man ſie nur unter dem Geſichtspunkt der
Maſſenbelaſtung anſieht, ſondern auch bei den
bürgerlichen Parteien, die von der Beſorgnis ge-
leitet werden, daß eine derartige Steuererhöhung
ſich in einer vielfachen Vergrößerung auf die
Konſumpreiſe auswirken, vielerorten die Lebens-
haltung verteuern und die Löhne in die Höhe
treiben, zugleich aber wahrſcheinlich auch zu einer
Einſchränkung des Verbrauchs führen und daher
den Ertrag der Steuern gefährden würde, ganz
zu ſchweigen von den Erſchwerungen der Pro-
duktion, die mit einer ſolchen Erhöhung ver-
bunden ſein werden.

Es liegt nahe, zu fragen, warum man gerade
dieſe Steuerobjekte ausgewählt hat, und an an-
deren vorübergegangen iſt, die aus wirtſchaft-
lichen Gründen gerechter und wohl auch ertrag-
reicher ſein würden, als die vom Reichsfinanz-
miniſterium vorgeſchlagenen Steuern. Die Sen-
kung der Umſatzſteuer durch den Finanz-
miniſter Dr. Reinhold hat ſeinerzeit einen Steuer-
ausfall von 3—400 Millionen mit ſich gebracht,
ohne daß die Wirtſchaft eine weſentliche Erleichte-
rung davon geſpürt hätte. Eine andere Frage
iſt es freilich, ob die Wiedererhöhung dieſer
Steuer, die manche für verhältnismäßig am trag-
fähigſten halten, ebenſo bedeutungslos für die
Wirtſchaft ſein würde. Man wird nicht überſehen
dürfen, daß in einer Zeit ſinkender Konjunktur
die Steuern vielfach beim Produzenten oder beim
Einzelhandel hängen bleiben und dort die ohne-

[Spaltenumbruch]

dies ſchwierige Erwerbslage weiter verſchlechtern.
Die Beſteuerung der Betriebe der
öffentlichen Hand
könnte nach ſachverſtän-
diger Meinung mehr als 200 Millionen Mark
jährlich erbringen. Sie würde die wirtſchaftlich
notwendige Gleichſtellung dieſer Betriebe mit
denen der Privatwirtſchaft zur Folge haben und
faſt überall ohne Tariferhöhung durchführbar
ſein. Gegen dieſe Beſteuerung haben ſchon bis-
her die hauptſächlich beteiligten Gemeinden und
Gemeindeverbände Sturm gelaufen, die es als
ihr gutes Recht anſehen, hier einen Sondervor-
teil auf Koſten des Reiches und der Wirtſchaft zu
erzielen, und die das Geſpenſt einer Verteuerung
ihrer Leiſtungen zum Schaden der Bevölkerung
an die Wand malen, obwohl durchſchnittlich die
privaten Betriebe trotz der Steuerpflicht zu billi-
geren Leiſtungen in der Lage ſind als die öffent-
lichen Betriebe. Es ſind hier alſo durchaus
Steuerquellen vorhanden, die mindeſtens ebenſo
diskuſſionsfähig ſind, wie diejenigen des Regie-
rungsprogramms, und ſowohl der Reichsrat wie
der Reichstag werden nicht umhin können, auch
dieſe Möglichkeiten ernſthaft ins Auge zu faſſen,
wenn ſie einen Ausgleich der naturgemäß ein-
ander widerſtrebenden Steuerintereſſen verſuchen.

Dieſem Ausgleich kann man nicht aus dem
Wege gehen, indem man die Verabſchiedung der
Steuergeſetze und des Haushaltes für 1929 über
den 1. April hinaus verſchiebt, in der vagen
Hoffnung, es könne irgendein Wunder geſchehen,
das den verantwortlichen Inſtanzen, nämlich
Reichsrat und Reichstag, die Sorge um das Defi-
zit abnehme. Das Zentrum, das ſelbſt in
allererſter Linie die Verantwortung für die gegen-
wärtige Lage trägt, die in ganz weſentlichen
Teilen durch die dem Zentrum angehörigen Min-
ſter Dr. Köhler und Dr. Brauns verurſacht wor-
den iſt, ſollte ſich endlich zu der Erkenntnis durch-
ringen, daß es ſeinem Anſehen und dem Inter-
eſſe des Reiches die Einnahme einer klaren und
poſitiven Haltung zu den ſchwebenden Problemen
ſchuldig iſt. Ebenſo ſehr wird freilich auch die
Bayeriſche Volkspartei klareren Ent-
ſcheidungen zuſtreben müſſen. Sie möge beden-
ken, daß die von ihr erſtrebte und Bayern im
vorigen Reichstag auch grundſätzlich zugeſprochene
Vorabvergütung aus der Bierſteuer, die für den
Ausgleich des bayeriſchen Etats gebraucht wird,
in der geforderten Höhe eine Leiſtung des guten
Willens der übrigen Teile des Reiches darſtellt,
der nicht gefördert wird, wenn der genügend be-
kannte Fauſtſchlag auf den Tiſch erfolgt, ſondern
der verſtändnisvolles Entgegenkommen und Mit-
arbeit an den Geſamtintereſſen des Reiches vor-
ausſetzt.



Erſte Reichstagsſitzung im Neuen Jahr

Das Warteſtandsbeamtengeſetz * Lautſprecher und Kommuniſtendemonſtration

[Spaltenumbruch]

In den Verhandlun-
gen des erſten Sitzungstages des Reichs-
tages im Neuen Jahr brachten eine neue
Einrichtung und eine ſchon etwas abgenutzte
Demonſtration einige Abwechſlung. Auf
der Tagesordnung ſtand nur das neue
Warteſtandsbeamtengeſetz. Als
Finanzminiſter Dr. Hilferding ſeine
Vorlage begründen wollte, blieb er im Hauſe
und auf den Tribünen
Infolge der lebhaften Geſpräche der
Abgeordneten ziemlich unverſtändlich.
Deshalb ſchallete Präſident Löbe die
neuen Lautſprecher ein und ſiehe da!
Dr. Hilferding konnte ſich verſtändlich
machen.

Er legte dar, daß wir infolge des Beamten-
abbaues immer noch allzuviel Wartegeld-
empfänger hätten, die nicht verpflichtet ſeien,
vorübergehende Beſchäftigung bei Behörden
anzunehmen. Dieſe Verpflichtung ſoll das
neue Geſetz ihnen jetzt auferlegen. Außer-
dem ſollen ſie durch einige Vergünſtigungen
veranlaßt werden, ſich penſionieren zu laſſen,
wenn ſie auf Wiederverwendung keinen
Wert legen. Aeltere Warteſtandsbeamte
ſeien mit Hilfe des neuen Geſetzes ſogar
zwangsweiſe zu penſionieren. Der Finanz-
miniſter hofft, auf dieſe Weiſe bedeutende
Erſparniſſe erzielen zu können.

Die hinter der Regierung ſtehenden Par-
teien verzichteten darauf, ſchon bei der erſten
Leſung zu dem Entwurf Stellung zu neh-
men. Die Vertreter der anderen Parteien
jedoch ließen an dem Geſetz kaum ein gutes
Haar. Deutſchnationale, Kommuniſten und
Nationalſozialiſten waren übereinſtimmend
der Meinung, daß die Vorlage
in wohlerworbene Rechte der Beamten
eingreife.

Nur der Wirtſchaftsparteiler Siegfried
erklärte ſich mit dem Entwurf voll einver-
ſtanden, worauf ihm der Kommuniſt Torg-
ler
die Regierungsfähigkeit atteſtierte. Die
Vorlage wurde dem Haushaltsausſchuß
überwieſen.

Da man am Schluß der Sitzung den
Kommuniſten nicht ihren Wunſch erfüllte,
für Freitag die Beratung ihrer Erwerbs-
loſenanträge in Ausſicht zu nehmen, ſetzten
ſie
auf der Publikumstribüne ihren prole-
tariſchen Sprechchor in Tätigkeit.

„Wir Arbeitsloſen verlangen Arbeit und
Brot!“ ſo hallte es in den Saal. Niemand
nahm jedoch die lärmende Demonſtration
ernſt. Präſident Löbe konnte ungeſtört die
Sitzung ſchließen und für Freitag die Be-

[Spaltenumbruch]

ratung des Steuervereinheitlichungsgeſetzes
ankündigen. Da niemand ſie beachtete, ſo
erſtarben die kommuniſtiſchen Rufe nach
einigen Minuten, ohne daß Polizeigewalt
in Anſpruch genommen wurde.

Noch kein Beginn der Koalitions-
verhandlungen im Reich

Die Erwartungen, die an den Beginn der
Reichstagsſitzung geknüpft wurden, daß zu-
gleich die Verhandlungen in aller Form
über die Koalitionsbildung und die Etats-
fragen unter den Parteien beginnen wür-
den, haben ſich nicht bewahrheitet.

Wie das Nachrichtenbüro des Vereins
Deutſcher Zeitungsverleger erfährt, be-
ſchränkt ſich die Erörterung zunächſt darauf,
daß der Reichskanzler mit den Partei-
führern einzeln und formlos Fühlung
nimmt. Ueber interfraktionelle Verhand-
lungen verlautet vorläufig nichts.

Die demokratiſche Reichstagsfraktion
zum neuen Haushalt

Die demokratiſche Reichstagsfraktion hat
ſich in zwei Fraktionsſitzungen mit dem
neuen Haushalt beſchäftigt. Hierbei wurde
einſtimmig die Auffaſſung vertreten, daß
man danach ſtreben ſollte, den Haushalt
unter möglichſter Vermeidung einer Verſtär-
kung der geſamten Steuerlaſt durch weit-
gehende Erſparniſſe
, namentlich
auch im Wege der Beſchränkung einmaliger
Sachausgaben ins Gleichgewicht zu bringen.
Die Fraktion beſchloß. Vorſchläge auszu-
arbeiten, aus deren Verwirklichung ſie eine
weſentliche Herabſetzung des Defizits er-
hofft.

Geburtstagsfeier in Doorn

60 Familienmitglieder anweſend


Wie aus Doorn
zuverläſſig verlautet, wird dort am kom-
menden Sonntag zum 70. Geburtstag des
ehemaligen deutſchen Kaiſers, deſſen nähere
Familie ſo gut wie vollzählig verſammelt
ſein. Neben den nächſten Angehörigen des
ehemaligen Kaiſers werden auch verſchiedene
entferntere Verwandte erwartet, ſo daß
insgeſamt etwa 60 Mitglieder der ehemali-
gen kaiſerlichen Familie in Doorn verſam-
melt ſein werden. Außer ihnen dürften noch
einige Perſönlichkeiten, die dem ehemaligen
Kaiſer früher ſehr nahe geſtanden haben,
nach Doorn kommen

[Spaltenumbruch]
Beginn der Kammerdebatte
Das Elſaß macht Poincaré Kummer

Die erſten Interpellanten kommen zu Wort * Poincaré gegen Ricklin


Die Kammer hat geſtern die
Diskuſſion der vorliegenden elf Interpellationen
über die Politik in Elſaß-Lothringen begonnen.
Miniſterpräſident Poincaré und Außen-
miniſter Briand ſowie Unterſtaatsſekretär
Oberkirch wohnen der Sitzung bei. Auch die
beiden für Ricklin und Roſſé gewählten Abge-
ordneten Stürmer und Hauß ſind erſchie-
nen. Erſter Interpellant iſt der ſozialiſtiſche Ab-
geordnete Grumbach, der die bisher gegen-
über den Autonomiſten verfolgte Politik nicht für
wirkſam hält. Er wendet ſich ſcharf gegen die
Autonomiſten, die behaupten, das Elſaß habe im
Oktober 1918 die Freiheit verloren. Es ſei nicht
wahr, daß die Unzufriedenheit im Elſaß auf die
Fehler zurückzuführen ſei, die Herriot begangen
habe, und ſprach von den Ungelegenheiten, die
ſich daraus ergeben haben, daß die Richter nicht
ſämtlich der deutſchen Sprache mächtig ſind, wo-
bei Juſtizminiſter Barthou ein Wort einwarf, es
handele ſich hier um Schwierigkeiten, die nicht
leicht überwunden werden könnten.

Der katholiſch-demokratiſche Abgeordnete Brom
bemühte ſich im Gegenſatz zu Grumbach um den
Nachweis, daß die Fehler im Elſaß
nicht von den Kalholiken
begangen worden ſeien. Er ſagte, Frankreich
habe dem Elſaß unbeſtreitbar zahlreiche Wohl-
taten gebracht, aber ernſte Fehler ſeien trotzdem
begangen worden. Nach dem Waffenſtillſtand
habe man im Elſaß ein grenzenloſes Vertrauen
zu Frankreich gehabt, aber man habe nur an die
reiche Bourgeoiſie gedacht, ohne ſich um das Volk
zu kümmern. Leider ſei das Gerechtigkeitsgefühl
des Volkes nicht beachtet worden. Angeklagte
hätten vor Richtern erſcheinen müſſen, die ihre
Sprache nicht verſtanden. Bei den geringſten
Kleinigkeiten, führe man die Leute geſchloſſen vor
die Richter. Der Abgeordnete Brom beſchwor
zum Schluß Frankreich, es möge ſich Mühe
geben, das Elſaß zu verſtehen. Durch das Elſaß
könne Frankreich Deutſchland erreichen und um-
gekehrt.

Poincaré proteſtierte gegen die Behaup-
tung des Abgeordneten Brom, als ſeien die
Elſäſſer einem Syſtem der Verfolgung ausgeſetzt.
Er könne im Gegenteil Beweiſe dafür liefern,

[Spaltenumbruch]

daß Geſchworene im Kolmarer Prozeß fortgeſetzt
den ſtärkſten Angriffen ausgeſetzt geweſen ſeien.

Der Abgeordnete Michel Walter erklärte,
allmählich habe ſich durch das ſyſtematiſche Miß-
verſtehen der ſozialen Probleme ein Unbehagen
herausgebildet. Das Elſaß habe niemals auf
ſeine Mutterſprache verzichtet. Die elſäſſiſchen
Nationaliſten ſeien nicht Agenten des Auslandes.

Die Bedrohung mit einem Druck hätte bei
den Elſäſſern niemals Erfolge gehabt, ſelbſt
nicht unter der deutſchen Herrſchaft.

Kurz vor Schluß der Nachmittagsſitzung der
Kammer kam es zu einem Zwiſchenfall, als der
Abgeordnete Walter (Michel) im Verlauf ſeiner
Rede erklärte, daß Ricklin und Roſſé während
des Krieges ihren Landsleuten ſehr große Dienſte
geleiſtet hätten.

Poincaré antwortete nämlich in ſehr
erregtem Tone hierauf,

es ſei zwar nicht angebracht nachzuforſchen, welche
Haltung Elſäſſer während des Krieges eingenom-
men hätten, als ſie ſich mit dem deutſchen Re-
gime hätten abfinden müſſen. Aber man dürfe
doch nicht zu weit gehen. Ricklin habe alſ
Präſident des Landtags nicht nur eine deutſche,
ſondern
ſogar eine kaiſertreue Erklärung abgegeben;
denn er habe eine ſeiner Reden mit dem Ruf
geſchloſſen: „Es lebe Elſaß Lothringen, es lebe
Deutſchland, es lebe der Kaiſer!“ Poincaré ver-
las darauf einen längeren Artikel aus der „Ga-
zette des Ardennes“, in dem Dr. Ricklin betont
habe, daß die Elſaß-Lothringer nicht wollten, daß
der Krieg um ihretwillen andauere; denn das
Elſaß wolle deutſch bleiben. Wer dies geſchrieben
habe der dürfe ſich nicht an die Spitze einer
ſeparatiſtiſchen Bewegung ſtellen. Die Zeitungen
dieſer Bewegung dürften nicht wagen, die fran-
zöſiſche Regierung anzuklagen, daß ſie für den
Krieg verantwortlich ſei und daß ſie das Maſſakre
fortgeſetzt habe, um die Elſäſſer entgegen ihrem
Willen zu Franzoſen zu machen.

Dieſe Minderheit von Elſäſſern wolle ganz
Frankreich ſtören und belohne Frankreich
ſchlecht, das für das Elſaß doch ſo viel getan
habe. Ein derartiger Lohn ſei der größte
Schmerz für einen Franzoſen



Hinweg von Anschlußsentimentalitäten:
Wirtſchaftliche Einheit das Ziel

Eine bedeutſame Rede im öſterreichiſchen Nationalrat

[Spaltenumbruch]

Im Nationalrat ſprach
bei der Beratung des Handelsbudgets der
Vorarlberger chriſtlich-ſoziale Abgeordnete
Drexel in einer großen politiſchen Rede
über die deutſch-öſterreichiſchen Handelsver-
tragsverhandlungen. Er erinnerte an die
ſeinerzeit verbreiteten Nachrichten von einem
angeblichen Abbruch der Verhandlungen in-
folge ſchwerer Meinungsverſchiedenheiten,
Nachrichten, die im Ausland zum Teil un-
verhohlene Freude und den Glauben erweckt
hatten, daß das Ende der Anſchlußbewegung
gekommen ſei. Der Redner führte weiter
aus:

Die Sorge. daß es tiefgehende Meinungs-
verſchiedenheiten ſeien, wurde aber von uns
genommen.
Die große Entſcheidung über das Schick-
ſal des deutſchen Volkes liegt nicht in
der Frage, ob es gelingt, den politiſchen
Anſchluß durchzuführen. Dieſer iſt keine
unbedingte Nokwendigkeit. Entſcheidend
iſt, ob es gelingt, auf dem Wege des
Handelsvertrags einander vorläufig
näher zu kommen, bis das große Ziel
erreicht iſt, daß Deutſchland und
Oeſterreich ein einheitliches Wirtſchafts-
gebiet ſind.

Die nächſte Generation wird uns danken,
wenn wir die geſchichtliche Unterbrechung
in dem Verhältnis zu Deuſchland ſeit 1806
wieder gutgemacht haben. Wenn wir es
einmal fertigbringen, daß in allen Handels-
verträgen mit Deutſchland die Bemerkung
enthalten iſt: Die Meiſtbegünſtigung gilt
mit Ausnahme jener Fälle, die ſich Deutſch-

[Spaltenumbruch]

land und Oeſterreich als befreundete Staaten
einräumen, dann ſollen die Siegerſtaaten
kommen und ſagen: Das iſt verboten. Wenn
wir uns in einem Belange, der niemand
ſchadet und niemand wehtut, nicht ſelbſt
helfen dürfen, dann möchte ich ſehen, ob
auch die Amerikaner und Engländer ſagen,
daß ſo etwas verboten ſein ſoll.
Es iſt gut, daß wir aus der allgemeinen
Anſchlußſtimmung langſam herauskommen,
ſoweit ſie nur ein allgemeiner Wunſch mehr
aus dem Herzen als aus wirtſchaftlichen
Ueberlegungen heraus iſt. Wir müſſen in
die Wirklichkeit einzutreten ſuchen. Wir
wollen der Welt zeigen, ob wir nicht das
Recht auf Wohlergehen
haben. Der Weg dazu aber iſt die Arbeit
an dem Handelsvertrag, zu deſſen Abſchluß
die Unterhändler zuſammentreten, wie
Freunde an einem Freundſchaftsvertrag, der
der ganzen Welt beweiſen ſoll, daß die zwei
Partner keine Entente ſind, daß ſie keinen
Pakt haben, den man dem Völkerbund vor-
legen muß, und keinen Schiedsgerichtsver-
trag, ſondern daß ſie eine Einheit ſind, ein
Kernpunkt zur Einheit Europas. (Stürmi-
ſcher Beifall.)


Im weiteren Verlauf der Debatte dankte
der großdeutſche Abgeordnete Hampel
dem Abgeordneten Drexel für ſeine Stel-
lungnahme. Der Abgeordnete Abram von
den Sozialdemokraten ſieht die einzige Mög-
lichkeit, daß Oeſterreich geholfen werde, im
Anſchluß. Oeſterreich aber müſſe ſelbſt
manches tun, um zur Wirtſchaftsgemeinſchaft
zu kommen.



Was soll werden?
Vor einer ernſten Regierungskriſe

Hauptſchwierigkeit: Etat und ſeine Deckung

[Spaltenumbruch]

Der Sozlaldemokra-
tiſche Preſſedienſt ſchreibt zu der Frage der
Regierungskoalition im Reich u. a.:

„Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß die bisherige
Form des Regierens, die ſog. Lockere Bin-
dung, ihre Grenzen hat, und es kann kei-
nem Zweifel unterliegen, daß wir uns
einem kritiſchen Moment nähern.
Er liegt in der Notwendigkeit, den Etat zu
verabſchieden und für das Defizit eine
Deckung zu finden. Daraus ergibt ſich für
den Reichskanzler die Notwendigkeit, jetzt

[Spaltenumbruch] ohne zunächſt offizielle Verhandlungen zu
eröffnen, mit den leitenden Stellen der ein-
zelnen Parteien Fühlung zu nehmen und
das Terrain zu ſondieren. Mit dieſen Unter-
haltungen iſt denn auch bereits am Mittwoch
begonnen worden.
Sicherlich werden die Sozialdemokraten,
Demokraten, Zentrum und Deutſche Volks-
partei — die Bayeriſche Volkspartei nimmt
im gewiſſen Sinne eine Sonderſtellung ein
— die Frage nach ihrer grundſätzlichen
Bereitſchaft zur koalitionsmäßigen Bindung

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[2/0002] „AZ am Abend“ Nr. 21 Freitag, den 23. Januar 25 000 Mark, die einen gewiſſen Ausgleich für die im Sommer vorweg genommene Senkung der Lohnſteuer darſtellt. Die übrigen Blumen des Steuerſtraußes dagegen duften weniger an- genehm. Die Erhöhung der Erbſchaftsſteuer durch Ausdehnung der Steuerpflicht auf das Gattenerbe, die 20 Millionen bringen ſoll, wird lebhafteſten Widerſpruch aus guten Gründen er- wecken und dürfte wohl letzten Endes unter den Tiſch fallen. Die Erhöhung der Vermögens- ſteuer um 20 Prozent, wenn auch nur für das bevorſtehende Haushaltsjahr, mit einem erwarte- ten Betrag von 104 Millionen, wird nicht weni- ger unliebſam als eine Maßregel empfunden wer- den, die den langſam wieder in Gang kommen- den Prozeß der Bildung neuen Sparkapitals auf- hält und daher wirtſchaftlich einen größeren Schaden anrichten wird, als der mutmaßliche Nutzen für die Reichskaſſe beträgt. Daneben greift das Finanzminiſterium dann auf den Alko- hol zurück und ſchlägt eine Erhöhung der Bier- ſteuer um 165 Millionen und eine ſolche der Branntweinabgaben um 90 Millionen vor. Auch dieſe Steuern ſtoßen auf ſchwere Be- denken, und zwar keineswegs nur auf der Lin- ken, wo man ſie nur unter dem Geſichtspunkt der Maſſenbelaſtung anſieht, ſondern auch bei den bürgerlichen Parteien, die von der Beſorgnis ge- leitet werden, daß eine derartige Steuererhöhung ſich in einer vielfachen Vergrößerung auf die Konſumpreiſe auswirken, vielerorten die Lebens- haltung verteuern und die Löhne in die Höhe treiben, zugleich aber wahrſcheinlich auch zu einer Einſchränkung des Verbrauchs führen und daher den Ertrag der Steuern gefährden würde, ganz zu ſchweigen von den Erſchwerungen der Pro- duktion, die mit einer ſolchen Erhöhung ver- bunden ſein werden. Es liegt nahe, zu fragen, warum man gerade dieſe Steuerobjekte ausgewählt hat, und an an- deren vorübergegangen iſt, die aus wirtſchaft- lichen Gründen gerechter und wohl auch ertrag- reicher ſein würden, als die vom Reichsfinanz- miniſterium vorgeſchlagenen Steuern. Die Sen- kung der Umſatzſteuer durch den Finanz- miniſter Dr. Reinhold hat ſeinerzeit einen Steuer- ausfall von 3—400 Millionen mit ſich gebracht, ohne daß die Wirtſchaft eine weſentliche Erleichte- rung davon geſpürt hätte. Eine andere Frage iſt es freilich, ob die Wiedererhöhung dieſer Steuer, die manche für verhältnismäßig am trag- fähigſten halten, ebenſo bedeutungslos für die Wirtſchaft ſein würde. Man wird nicht überſehen dürfen, daß in einer Zeit ſinkender Konjunktur die Steuern vielfach beim Produzenten oder beim Einzelhandel hängen bleiben und dort die ohne- dies ſchwierige Erwerbslage weiter verſchlechtern. Die Beſteuerung der Betriebe der öffentlichen Hand könnte nach ſachverſtän- diger Meinung mehr als 200 Millionen Mark jährlich erbringen. Sie würde die wirtſchaftlich notwendige Gleichſtellung dieſer Betriebe mit denen der Privatwirtſchaft zur Folge haben und faſt überall ohne Tariferhöhung durchführbar ſein. Gegen dieſe Beſteuerung haben ſchon bis- her die hauptſächlich beteiligten Gemeinden und Gemeindeverbände Sturm gelaufen, die es als ihr gutes Recht anſehen, hier einen Sondervor- teil auf Koſten des Reiches und der Wirtſchaft zu erzielen, und die das Geſpenſt einer Verteuerung ihrer Leiſtungen zum Schaden der Bevölkerung an die Wand malen, obwohl durchſchnittlich die privaten Betriebe trotz der Steuerpflicht zu billi- geren Leiſtungen in der Lage ſind als die öffent- lichen Betriebe. Es ſind hier alſo durchaus Steuerquellen vorhanden, die mindeſtens ebenſo diskuſſionsfähig ſind, wie diejenigen des Regie- rungsprogramms, und ſowohl der Reichsrat wie der Reichstag werden nicht umhin können, auch dieſe Möglichkeiten ernſthaft ins Auge zu faſſen, wenn ſie einen Ausgleich der naturgemäß ein- ander widerſtrebenden Steuerintereſſen verſuchen. Dieſem Ausgleich kann man nicht aus dem Wege gehen, indem man die Verabſchiedung der Steuergeſetze und des Haushaltes für 1929 über den 1. April hinaus verſchiebt, in der vagen Hoffnung, es könne irgendein Wunder geſchehen, das den verantwortlichen Inſtanzen, nämlich Reichsrat und Reichstag, die Sorge um das Defi- zit abnehme. Das Zentrum, das ſelbſt in allererſter Linie die Verantwortung für die gegen- wärtige Lage trägt, die in ganz weſentlichen Teilen durch die dem Zentrum angehörigen Min- ſter Dr. Köhler und Dr. Brauns verurſacht wor- den iſt, ſollte ſich endlich zu der Erkenntnis durch- ringen, daß es ſeinem Anſehen und dem Inter- eſſe des Reiches die Einnahme einer klaren und poſitiven Haltung zu den ſchwebenden Problemen ſchuldig iſt. Ebenſo ſehr wird freilich auch die Bayeriſche Volkspartei klareren Ent- ſcheidungen zuſtreben müſſen. Sie möge beden- ken, daß die von ihr erſtrebte und Bayern im vorigen Reichstag auch grundſätzlich zugeſprochene Vorabvergütung aus der Bierſteuer, die für den Ausgleich des bayeriſchen Etats gebraucht wird, in der geforderten Höhe eine Leiſtung des guten Willens der übrigen Teile des Reiches darſtellt, der nicht gefördert wird, wenn der genügend be- kannte Fauſtſchlag auf den Tiſch erfolgt, ſondern der verſtändnisvolles Entgegenkommen und Mit- arbeit an den Geſamtintereſſen des Reiches vor- ausſetzt. Erſte Reichstagsſitzung im Neuen Jahr Das Warteſtandsbeamtengeſetz * Lautſprecher und Kommuniſtendemonſtration Berlin, 25. Januar. In den Verhandlun- gen des erſten Sitzungstages des Reichs- tages im Neuen Jahr brachten eine neue Einrichtung und eine ſchon etwas abgenutzte Demonſtration einige Abwechſlung. Auf der Tagesordnung ſtand nur das neue Warteſtandsbeamtengeſetz. Als Finanzminiſter Dr. Hilferding ſeine Vorlage begründen wollte, blieb er im Hauſe und auf den Tribünen Infolge der lebhaften Geſpräche der Abgeordneten ziemlich unverſtändlich. Deshalb ſchallete Präſident Löbe die neuen Lautſprecher ein und ſiehe da! Dr. Hilferding konnte ſich verſtändlich machen. Er legte dar, daß wir infolge des Beamten- abbaues immer noch allzuviel Wartegeld- empfänger hätten, die nicht verpflichtet ſeien, vorübergehende Beſchäftigung bei Behörden anzunehmen. Dieſe Verpflichtung ſoll das neue Geſetz ihnen jetzt auferlegen. Außer- dem ſollen ſie durch einige Vergünſtigungen veranlaßt werden, ſich penſionieren zu laſſen, wenn ſie auf Wiederverwendung keinen Wert legen. Aeltere Warteſtandsbeamte ſeien mit Hilfe des neuen Geſetzes ſogar zwangsweiſe zu penſionieren. Der Finanz- miniſter hofft, auf dieſe Weiſe bedeutende Erſparniſſe erzielen zu können. Die hinter der Regierung ſtehenden Par- teien verzichteten darauf, ſchon bei der erſten Leſung zu dem Entwurf Stellung zu neh- men. Die Vertreter der anderen Parteien jedoch ließen an dem Geſetz kaum ein gutes Haar. Deutſchnationale, Kommuniſten und Nationalſozialiſten waren übereinſtimmend der Meinung, daß die Vorlage in wohlerworbene Rechte der Beamten eingreife. Nur der Wirtſchaftsparteiler Siegfried erklärte ſich mit dem Entwurf voll einver- ſtanden, worauf ihm der Kommuniſt Torg- ler die Regierungsfähigkeit atteſtierte. Die Vorlage wurde dem Haushaltsausſchuß überwieſen. Da man am Schluß der Sitzung den Kommuniſten nicht ihren Wunſch erfüllte, für Freitag die Beratung ihrer Erwerbs- loſenanträge in Ausſicht zu nehmen, ſetzten ſie auf der Publikumstribüne ihren prole- tariſchen Sprechchor in Tätigkeit. „Wir Arbeitsloſen verlangen Arbeit und Brot!“ ſo hallte es in den Saal. Niemand nahm jedoch die lärmende Demonſtration ernſt. Präſident Löbe konnte ungeſtört die Sitzung ſchließen und für Freitag die Be- ratung des Steuervereinheitlichungsgeſetzes ankündigen. Da niemand ſie beachtete, ſo erſtarben die kommuniſtiſchen Rufe nach einigen Minuten, ohne daß Polizeigewalt in Anſpruch genommen wurde. Noch kein Beginn der Koalitions- verhandlungen im Reich Die Erwartungen, die an den Beginn der Reichstagsſitzung geknüpft wurden, daß zu- gleich die Verhandlungen in aller Form über die Koalitionsbildung und die Etats- fragen unter den Parteien beginnen wür- den, haben ſich nicht bewahrheitet. Wie das Nachrichtenbüro des Vereins Deutſcher Zeitungsverleger erfährt, be- ſchränkt ſich die Erörterung zunächſt darauf, daß der Reichskanzler mit den Partei- führern einzeln und formlos Fühlung nimmt. Ueber interfraktionelle Verhand- lungen verlautet vorläufig nichts. Die demokratiſche Reichstagsfraktion zum neuen Haushalt Die demokratiſche Reichstagsfraktion hat ſich in zwei Fraktionsſitzungen mit dem neuen Haushalt beſchäftigt. Hierbei wurde einſtimmig die Auffaſſung vertreten, daß man danach ſtreben ſollte, den Haushalt unter möglichſter Vermeidung einer Verſtär- kung der geſamten Steuerlaſt durch weit- gehende Erſparniſſe, namentlich auch im Wege der Beſchränkung einmaliger Sachausgaben ins Gleichgewicht zu bringen. Die Fraktion beſchloß. Vorſchläge auszu- arbeiten, aus deren Verwirklichung ſie eine weſentliche Herabſetzung des Defizits er- hofft. Geburtstagsfeier in Doorn 60 Familienmitglieder anweſend Amſterdam, 25. Januar. Wie aus Doorn zuverläſſig verlautet, wird dort am kom- menden Sonntag zum 70. Geburtstag des ehemaligen deutſchen Kaiſers, deſſen nähere Familie ſo gut wie vollzählig verſammelt ſein. Neben den nächſten Angehörigen des ehemaligen Kaiſers werden auch verſchiedene entferntere Verwandte erwartet, ſo daß insgeſamt etwa 60 Mitglieder der ehemali- gen kaiſerlichen Familie in Doorn verſam- melt ſein werden. Außer ihnen dürften noch einige Perſönlichkeiten, die dem ehemaligen Kaiſer früher ſehr nahe geſtanden haben, nach Doorn kommen Beginn der Kammerdebatte Das Elſaß macht Poincaré Kummer Die erſten Interpellanten kommen zu Wort * Poincaré gegen Ricklin Paris, 25. Jan. Die Kammer hat geſtern die Diskuſſion der vorliegenden elf Interpellationen über die Politik in Elſaß-Lothringen begonnen. Miniſterpräſident Poincaré und Außen- miniſter Briand ſowie Unterſtaatsſekretär Oberkirch wohnen der Sitzung bei. Auch die beiden für Ricklin und Roſſé gewählten Abge- ordneten Stürmer und Hauß ſind erſchie- nen. Erſter Interpellant iſt der ſozialiſtiſche Ab- geordnete Grumbach, der die bisher gegen- über den Autonomiſten verfolgte Politik nicht für wirkſam hält. Er wendet ſich ſcharf gegen die Autonomiſten, die behaupten, das Elſaß habe im Oktober 1918 die Freiheit verloren. Es ſei nicht wahr, daß die Unzufriedenheit im Elſaß auf die Fehler zurückzuführen ſei, die Herriot begangen habe, und ſprach von den Ungelegenheiten, die ſich daraus ergeben haben, daß die Richter nicht ſämtlich der deutſchen Sprache mächtig ſind, wo- bei Juſtizminiſter Barthou ein Wort einwarf, es handele ſich hier um Schwierigkeiten, die nicht leicht überwunden werden könnten. Der katholiſch-demokratiſche Abgeordnete Brom bemühte ſich im Gegenſatz zu Grumbach um den Nachweis, daß die Fehler im Elſaß nicht von den Kalholiken begangen worden ſeien. Er ſagte, Frankreich habe dem Elſaß unbeſtreitbar zahlreiche Wohl- taten gebracht, aber ernſte Fehler ſeien trotzdem begangen worden. Nach dem Waffenſtillſtand habe man im Elſaß ein grenzenloſes Vertrauen zu Frankreich gehabt, aber man habe nur an die reiche Bourgeoiſie gedacht, ohne ſich um das Volk zu kümmern. Leider ſei das Gerechtigkeitsgefühl des Volkes nicht beachtet worden. Angeklagte hätten vor Richtern erſcheinen müſſen, die ihre Sprache nicht verſtanden. Bei den geringſten Kleinigkeiten, führe man die Leute geſchloſſen vor die Richter. Der Abgeordnete Brom beſchwor zum Schluß Frankreich, es möge ſich Mühe geben, das Elſaß zu verſtehen. Durch das Elſaß könne Frankreich Deutſchland erreichen und um- gekehrt. Poincaré proteſtierte gegen die Behaup- tung des Abgeordneten Brom, als ſeien die Elſäſſer einem Syſtem der Verfolgung ausgeſetzt. Er könne im Gegenteil Beweiſe dafür liefern, daß Geſchworene im Kolmarer Prozeß fortgeſetzt den ſtärkſten Angriffen ausgeſetzt geweſen ſeien. Der Abgeordnete Michel Walter erklärte, allmählich habe ſich durch das ſyſtematiſche Miß- verſtehen der ſozialen Probleme ein Unbehagen herausgebildet. Das Elſaß habe niemals auf ſeine Mutterſprache verzichtet. Die elſäſſiſchen Nationaliſten ſeien nicht Agenten des Auslandes. Die Bedrohung mit einem Druck hätte bei den Elſäſſern niemals Erfolge gehabt, ſelbſt nicht unter der deutſchen Herrſchaft. Kurz vor Schluß der Nachmittagsſitzung der Kammer kam es zu einem Zwiſchenfall, als der Abgeordnete Walter (Michel) im Verlauf ſeiner Rede erklärte, daß Ricklin und Roſſé während des Krieges ihren Landsleuten ſehr große Dienſte geleiſtet hätten. Poincaré antwortete nämlich in ſehr erregtem Tone hierauf, es ſei zwar nicht angebracht nachzuforſchen, welche Haltung Elſäſſer während des Krieges eingenom- men hätten, als ſie ſich mit dem deutſchen Re- gime hätten abfinden müſſen. Aber man dürfe doch nicht zu weit gehen. Ricklin habe alſ Präſident des Landtags nicht nur eine deutſche, ſondern ſogar eine kaiſertreue Erklärung abgegeben; denn er habe eine ſeiner Reden mit dem Ruf geſchloſſen: „Es lebe Elſaß Lothringen, es lebe Deutſchland, es lebe der Kaiſer!“ Poincaré ver- las darauf einen längeren Artikel aus der „Ga- zette des Ardennes“, in dem Dr. Ricklin betont habe, daß die Elſaß-Lothringer nicht wollten, daß der Krieg um ihretwillen andauere; denn das Elſaß wolle deutſch bleiben. Wer dies geſchrieben habe der dürfe ſich nicht an die Spitze einer ſeparatiſtiſchen Bewegung ſtellen. Die Zeitungen dieſer Bewegung dürften nicht wagen, die fran- zöſiſche Regierung anzuklagen, daß ſie für den Krieg verantwortlich ſei und daß ſie das Maſſakre fortgeſetzt habe, um die Elſäſſer entgegen ihrem Willen zu Franzoſen zu machen. Dieſe Minderheit von Elſäſſern wolle ganz Frankreich ſtören und belohne Frankreich ſchlecht, das für das Elſaß doch ſo viel getan habe. Ein derartiger Lohn ſei der größte Schmerz für einen Franzoſen Hinweg von Anschlußsentimentalitäten: Wirtſchaftliche Einheit das Ziel Eine bedeutſame Rede im öſterreichiſchen Nationalrat Wien, 25. Januar. Im Nationalrat ſprach bei der Beratung des Handelsbudgets der Vorarlberger chriſtlich-ſoziale Abgeordnete Drexel in einer großen politiſchen Rede über die deutſch-öſterreichiſchen Handelsver- tragsverhandlungen. Er erinnerte an die ſeinerzeit verbreiteten Nachrichten von einem angeblichen Abbruch der Verhandlungen in- folge ſchwerer Meinungsverſchiedenheiten, Nachrichten, die im Ausland zum Teil un- verhohlene Freude und den Glauben erweckt hatten, daß das Ende der Anſchlußbewegung gekommen ſei. Der Redner führte weiter aus: Die Sorge. daß es tiefgehende Meinungs- verſchiedenheiten ſeien, wurde aber von uns genommen. Die große Entſcheidung über das Schick- ſal des deutſchen Volkes liegt nicht in der Frage, ob es gelingt, den politiſchen Anſchluß durchzuführen. Dieſer iſt keine unbedingte Nokwendigkeit. Entſcheidend iſt, ob es gelingt, auf dem Wege des Handelsvertrags einander vorläufig näher zu kommen, bis das große Ziel erreicht iſt, daß Deutſchland und Oeſterreich ein einheitliches Wirtſchafts- gebiet ſind. Die nächſte Generation wird uns danken, wenn wir die geſchichtliche Unterbrechung in dem Verhältnis zu Deuſchland ſeit 1806 wieder gutgemacht haben. Wenn wir es einmal fertigbringen, daß in allen Handels- verträgen mit Deutſchland die Bemerkung enthalten iſt: Die Meiſtbegünſtigung gilt mit Ausnahme jener Fälle, die ſich Deutſch- land und Oeſterreich als befreundete Staaten einräumen, dann ſollen die Siegerſtaaten kommen und ſagen: Das iſt verboten. Wenn wir uns in einem Belange, der niemand ſchadet und niemand wehtut, nicht ſelbſt helfen dürfen, dann möchte ich ſehen, ob auch die Amerikaner und Engländer ſagen, daß ſo etwas verboten ſein ſoll. Es iſt gut, daß wir aus der allgemeinen Anſchlußſtimmung langſam herauskommen, ſoweit ſie nur ein allgemeiner Wunſch mehr aus dem Herzen als aus wirtſchaftlichen Ueberlegungen heraus iſt. Wir müſſen in die Wirklichkeit einzutreten ſuchen. Wir wollen der Welt zeigen, ob wir nicht das Recht auf Wohlergehen haben. Der Weg dazu aber iſt die Arbeit an dem Handelsvertrag, zu deſſen Abſchluß die Unterhändler zuſammentreten, wie Freunde an einem Freundſchaftsvertrag, der der ganzen Welt beweiſen ſoll, daß die zwei Partner keine Entente ſind, daß ſie keinen Pakt haben, den man dem Völkerbund vor- legen muß, und keinen Schiedsgerichtsver- trag, ſondern daß ſie eine Einheit ſind, ein Kernpunkt zur Einheit Europas. (Stürmi- ſcher Beifall.) Im weiteren Verlauf der Debatte dankte der großdeutſche Abgeordnete Hampel dem Abgeordneten Drexel für ſeine Stel- lungnahme. Der Abgeordnete Abram von den Sozialdemokraten ſieht die einzige Mög- lichkeit, daß Oeſterreich geholfen werde, im Anſchluß. Oeſterreich aber müſſe ſelbſt manches tun, um zur Wirtſchaftsgemeinſchaft zu kommen. Was soll werden? Vor einer ernſten Regierungskriſe Hauptſchwierigkeit: Etat und ſeine Deckung Berlin, 25. Januar. Der Sozlaldemokra- tiſche Preſſedienſt ſchreibt zu der Frage der Regierungskoalition im Reich u. a.: „Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß die bisherige Form des Regierens, die ſog. Lockere Bin- dung, ihre Grenzen hat, und es kann kei- nem Zweifel unterliegen, daß wir uns einem kritiſchen Moment nähern. Er liegt in der Notwendigkeit, den Etat zu verabſchieden und für das Defizit eine Deckung zu finden. Daraus ergibt ſich für den Reichskanzler die Notwendigkeit, jetzt ohne zunächſt offizielle Verhandlungen zu eröffnen, mit den leitenden Stellen der ein- zelnen Parteien Fühlung zu nehmen und das Terrain zu ſondieren. Mit dieſen Unter- haltungen iſt denn auch bereits am Mittwoch begonnen worden. Sicherlich werden die Sozialdemokraten, Demokraten, Zentrum und Deutſche Volks- partei — die Bayeriſche Volkspartei nimmt im gewiſſen Sinne eine Sonderſtellung ein — die Frage nach ihrer grundſätzlichen Bereitſchaft zur koalitionsmäßigen Bindung

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-01-02T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 21, 25. Januar 1929, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine21_1929/2>, abgerufen am 21.11.2024.