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Allgemeine Zeitung, Nr. 17, 2. Mai 1920.

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Allgemeine Zeitung 2. Mai 1920
[Spaltenumbruch] mit den anstoßenden Landschaften gehabt hätten. Bern und
Zürich mußten sich die zu den genannten Kantonen führen-
den Pässe sichern, um ihre Macht ausdehnen zu können.
Gerade durch die schon berührte Lage zwischen dem Mittel-
meer und Mitteleuropa erlangten die quer durch die Alpen
führenden Pässe einen Einfluß auf die Geschichte der sie inne-
habenden Staaten, der weit über das Gebirge hinaus-
reicht. Ein Abschnitt des Hochgebirges hat größeren oder
geringeren politischen Wert, je nachdem er mehr oder
weniger wegsam ist Wegen des Reichtums an Pässen, die in
wertvolle Gebiete führten, mußten z. B. die Römer auf die
Beherrschung der Cottischen Alpen im Westen und der Juli-
schen Alpen im Osten großes Gewicht legen. Den Wert des
Wallis erhöhten gute Paßverbindungen, dagegen minderten
sie die Abgeschiedenheit Rätiens und des Oberinntals. Je
bedeutender ein Paß ist, desto reicheres Leben entfaltet sich
im umliegenden Bergland. Hat sich nicht Tirol am und
um den Brenner entwickelt? Wäre die Geschichte dieses
Landes denkbar ohne diesen beherrschenden Paß? Vom
Gotthard sagt Goethe, er habe "den Rang eines könig-
lichen Gebirges über alle anderen, weil die größten Ge-
birgsketten bei ihm zusammenlaufen und sich an ihn
lehnen". Nicht bloß für den Bau der Mittelalpen kommt
dem Gotthardpaß dieser Rang zu, sondern auch für die Aus-
nutzung der durch ihn gebotenen Verkehrsmöglichkeiten. Für
eine geschichtliche Würdigung des Verkehrs über die Alpen-
pässe muß man auf die vorrömische Zeit zurückgehen. Wohl
in allen Teilen der Alpen läßt sich ein vorrömischer Paß-
verkehr nachweisen, so im Westen über den Großen und den
Kleinen St. Bernhard, weiter nach Osten über den Flüelapaß
und andere Uebergänge Graubündens, über den Brenner
usw. An die aus früherer Zeit stammenden Alpenwege
schlossen die Römer die ihrigen an, die aber nicht etwa
Saumwege blieben, sondern zu Straßen ausgestaltet wurden
und mit der Zeit ein ganzes Alpenstraßennetz, eine der
größten Leistungen des Eroberervolkes bildeten. An die
Paßstraßen schlossen die Siedler in stiller und unermüdlicher
Tätigkeit ihre Bergpfade an, die Tal mit Tal verbanden
und Leben in die abgelegensten Gebirgswinkel trugen. Viel-
fach lockte sie der Erzreichtum eines Gebietes an. Im frühen
Mittelalter verödete ein Teil der Römerstraßen, doch ihr
fester Bau erhielt sich bis in unsere Tage; an manchen
Straßenzügen, z. B. am Radstädter Tauern, stehen als ehr-
würdige Zeugen alten Verkehrs noch die römischen Meilen-
steine. Auch im Innern der Alpen "blühte neues Leben aus
den Ruinen", d. h. nach jener Verödung hob sich der Ver-
kehr wieder. Im frühen Mittelalter muß der von den
Römern noch nicht beschrittene Gotthard wegsam gemacht
worden sein. Die Römer hatten die Pässe auf weitere
Strecken militärisch besetzt, die deutschen Kaiser mußten sich
wegen der Verbindung Deutschlands mit Italien den Ueber-
gang über das Hochgebirge jederzeit sichern. Ihre Römer-
züge erweckten die von Norden nach Süden führenden Alpen-
straßen zu neuem Leben und trugen zu politischer Aus-
nutzung der Verkehrsmöglichkeiten der Pässe bei. Im Wandel
der Zeiten fanden die Alpenvölker manche neue Wege und
vergaßen darüber alte. Oft waren örtliche Verhältnisse die
Ursache solcher Verkehrsänderungen. Der Gotthard, der
Fernpaß, der Stefelder Sattel, der Jaufen gewannen aus
diesem Grunde schon frühzeitig bedeutenderen Anteil am
Verkehr; der Simplon im Westen und der Semmering im
Osten gewannen seit dem Erstehen neuer Alpenstraßen im
18. Jahrhundert den Vorrang über ihre Nachbarpässe. Im
allgemeinen ziehen bestimmte Pässe, dank der Gunst ihrer
Lage, immer mehr den Verkehr an sich, schon beim Ver-
halten der mit sicherem militärischen Blick begabten Römer
kann man diese Wahrnehmung machen. Welchen Wandel
des Verkehrs und welche geschichtliche Wirkung der mit Be-
nützung von Pässen ausgeführte Bau großer Alpenbahnen
mit sich brachte, bedarf hier keiner Erörterung.

Die Pässe gewähren den Alpenbewohnern nicht nur die
Möglichkeit von einem Fuß des Gebirges zum andern zu
gelangen, nein, sie erwecken und nähren das Leben in den
Bergen selbst. Wo Leben ist, entwickelt sich aber auch Ge-
schichte. Menschliche Siedlungen und Ackerbau klimmen an
[Spaltenumbruch] den Hochgebirgsübergängen in Höhen empor, die ohne den
Verkehr zu Ansiedlung und Anbau nicht benützt würden.
So war für das als liebliche Kulturstätte in die Felskämme
zwischen Gotthard und Vorderrhein eingebettete Urserntal
-- "Tal der Freude" nennt es Schiller -- die Erschließung
des Gotthardpasses die Vorbedingung seiner Besiedelung,
für das bei Disentis liegende Medelsertal sein Verkehr mit
dem Lukmanier, ferner mit dem Blegnotal und nach
Italien. Aehnliche Verhältnisse kann man bei manchen an-
deren mit Pässen in Verbindung stehenden Hochtälern
wahrnehmen.

***

Man könnte glauben, Ausführungen über die Be-
ziehungen der Alpen zur Geschichte hätten nur für die
wissenschaftliche Forschung oder für wißbegierige Alpen-
bewohner und Alpenwanderer Wert. Doch ist dem nicht so.
Auch für das Verständnis der deutschen Geschichte und für
klare Einsicht in die Notwendigkeiten der Zukunft ist die
Kenntnis der Vergangenheit der Alpenländer von großer
Bedeutung. Aus manchen im vorstehenden dargelegten Tat-
sachen erhellt die Wahrheit dieser Behauptung. Konstantin
Frantz, der in unseren Tagen wieder zu Ehren kommende
Großdeutsche, spende uns auch einige Gedanken als Bei-
trag! ("Das neue Deutschland", 4. Brief "Natürl. Be-
dingungen deutscher Entwicklung." 1871) "Wer die Alpen
nicht kennt, kennt Deutschland nicht. Erst der Anblick der
Alpen erhebt den Geist zur Höhe der Betrachtung, wie sie
für das Verständnis eines so großen und reichgegliederten
Landes erforderlich ist. Und wer erinnert sich nicht -- ich
bitte, dies nicht als Zwischenbemerkung anzusehen! -- daß
es die Zeit der deutschen Größe war, wo das ganze Alpen-
gebiet zum deutschen Reiche gehörte, bis mit der Abtren-
nung der Schweiz der Rückgang unserer Macht begann." --
"Die Alpen und das Meer sind das Alpha und Omega, von
wo alle Betrachtung ausgehen und wohin sie zurückkehren
muß." -- "Wären diese Bergriesen nicht, so wäre es ja
wirklich denkbar, daß Deutschland von der Spree aus sich
beherrschen ließe, gerade wie Frankreich von der Seine aus.
Aber die Alpen leidens nicht, "dies Haus der Freiheit hat
uns Gott gegründet", wie der Dichter sagt, und ich meine,
das Wort paßt auch an dieser Stelle. Denn in demselben
Maße wie die Alpen die deutsche Einheit (übertrieben
Vereinheitlichung) erschweren, befördern sie die deutsche
Freiheit."

Kunst und kiteratur
Wolfram von Eschenbach.
(Zu seinem 700jährigen Todesjahre.)

Am glänzenden Himmel der deutschen Literatur strahlt
Wolfram von Eschenbach als Stern erster Größe. Mag auch
sein ruhiges Leuchten in all dem verwirrenden Meer der
flammenden Funken vielfach übersehen werden, zumal
jederzeit Meteore mit trügerischem Glanz das Auge blen-
den, immer wieder kommen Zeiten, wo er und die wenigen
anderen seinesgleichen hoch vom Zenith mit wundersamem
Licht in dunkle Tiefen dringen. In dunkle Tiefe sieht sich
heute das deutsche Volk geworfen und bitter tut es ihm
not, sich an den ewigen Sternen zu orientieren, auf daß sie
ihm wieder zum rechten Weg verhelfen. Einen solchen
Tröster und Helfer dürfen wir in jenem armen fränkischen
Ritter sehen, der, verhältnismäßig jung mit einer Fülle
unausgeführter Pläne ins Grab sinkend, doch einem
Werke die Vollendung gab, das seinen Namen an die Un-
sterblichkeit knüpft. Es ist der Parzifal.

Wolfram gehört zu jenen Heroen der Weltliteratur,
deren außerordentliche Persönlichkeit allein aus dem Werk,
das sie hinterlassen, erschließbar ist. Wie über Homer, wie
über dem Dichter der Nibelungen, der Kudrun, wie über

Allgemeine Zeitung 2. Mai 1920
[Spaltenumbruch] mit den anſtoßenden Landſchaften gehabt hätten. Bern und
Zürich mußten ſich die zu den genannten Kantonen führen-
den Päſſe ſichern, um ihre Macht ausdehnen zu können.
Gerade durch die ſchon berührte Lage zwiſchen dem Mittel-
meer und Mitteleuropa erlangten die quer durch die Alpen
führenden Päſſe einen Einfluß auf die Geſchichte der ſie inne-
habenden Staaten, der weit über das Gebirge hinaus-
reicht. Ein Abſchnitt des Hochgebirges hat größeren oder
geringeren politiſchen Wert, je nachdem er mehr oder
weniger wegſam iſt Wegen des Reichtums an Päſſen, die in
wertvolle Gebiete führten, mußten z. B. die Römer auf die
Beherrſchung der Cottiſchen Alpen im Weſten und der Juli-
ſchen Alpen im Oſten großes Gewicht legen. Den Wert des
Wallis erhöhten gute Paßverbindungen, dagegen minderten
ſie die Abgeſchiedenheit Rätiens und des Oberinntals. Je
bedeutender ein Paß iſt, deſto reicheres Leben entfaltet ſich
im umliegenden Bergland. Hat ſich nicht Tirol am und
um den Brenner entwickelt? Wäre die Geſchichte dieſes
Landes denkbar ohne dieſen beherrſchenden Paß? Vom
Gotthard ſagt Goethe, er habe „den Rang eines könig-
lichen Gebirges über alle anderen, weil die größten Ge-
birgsketten bei ihm zuſammenlaufen und ſich an ihn
lehnen“. Nicht bloß für den Bau der Mittelalpen kommt
dem Gotthardpaß dieſer Rang zu, ſondern auch für die Aus-
nutzung der durch ihn gebotenen Verkehrsmöglichkeiten. Für
eine geſchichtliche Würdigung des Verkehrs über die Alpen-
päſſe muß man auf die vorrömiſche Zeit zurückgehen. Wohl
in allen Teilen der Alpen läßt ſich ein vorrömiſcher Paß-
verkehr nachweiſen, ſo im Weſten über den Großen und den
Kleinen St. Bernhard, weiter nach Oſten über den Flüelapaß
und andere Uebergänge Graubündens, über den Brenner
uſw. An die aus früherer Zeit ſtammenden Alpenwege
ſchloſſen die Römer die ihrigen an, die aber nicht etwa
Saumwege blieben, ſondern zu Straßen ausgeſtaltet wurden
und mit der Zeit ein ganzes Alpenſtraßennetz, eine der
größten Leiſtungen des Eroberervolkes bildeten. An die
Paßſtraßen ſchloſſen die Siedler in ſtiller und unermüdlicher
Tätigkeit ihre Bergpfade an, die Tal mit Tal verbanden
und Leben in die abgelegenſten Gebirgswinkel trugen. Viel-
fach lockte ſie der Erzreichtum eines Gebietes an. Im frühen
Mittelalter verödete ein Teil der Römerſtraßen, doch ihr
feſter Bau erhielt ſich bis in unſere Tage; an manchen
Straßenzügen, z. B. am Radſtädter Tauern, ſtehen als ehr-
würdige Zeugen alten Verkehrs noch die römiſchen Meilen-
ſteine. Auch im Innern der Alpen „blühte neues Leben aus
den Ruinen“, d. h. nach jener Verödung hob ſich der Ver-
kehr wieder. Im frühen Mittelalter muß der von den
Römern noch nicht beſchrittene Gotthard wegſam gemacht
worden ſein. Die Römer hatten die Päſſe auf weitere
Strecken militäriſch beſetzt, die deutſchen Kaiſer mußten ſich
wegen der Verbindung Deutſchlands mit Italien den Ueber-
gang über das Hochgebirge jederzeit ſichern. Ihre Römer-
züge erweckten die von Norden nach Süden führenden Alpen-
ſtraßen zu neuem Leben und trugen zu politiſcher Aus-
nutzung der Verkehrsmöglichkeiten der Päſſe bei. Im Wandel
der Zeiten fanden die Alpenvölker manche neue Wege und
vergaßen darüber alte. Oft waren örtliche Verhältniſſe die
Urſache ſolcher Verkehrsänderungen. Der Gotthard, der
Fernpaß, der Stefelder Sattel, der Jaufen gewannen aus
dieſem Grunde ſchon frühzeitig bedeutenderen Anteil am
Verkehr; der Simplon im Weſten und der Semmering im
Oſten gewannen ſeit dem Erſtehen neuer Alpenſtraßen im
18. Jahrhundert den Vorrang über ihre Nachbarpäſſe. Im
allgemeinen ziehen beſtimmte Päſſe, dank der Gunſt ihrer
Lage, immer mehr den Verkehr an ſich, ſchon beim Ver-
halten der mit ſicherem militäriſchen Blick begabten Römer
kann man dieſe Wahrnehmung machen. Welchen Wandel
des Verkehrs und welche geſchichtliche Wirkung der mit Be-
nützung von Päſſen ausgeführte Bau großer Alpenbahnen
mit ſich brachte, bedarf hier keiner Erörterung.

Die Päſſe gewähren den Alpenbewohnern nicht nur die
Möglichkeit von einem Fuß des Gebirges zum andern zu
gelangen, nein, ſie erwecken und nähren das Leben in den
Bergen ſelbſt. Wo Leben iſt, entwickelt ſich aber auch Ge-
ſchichte. Menſchliche Siedlungen und Ackerbau klimmen an
[Spaltenumbruch] den Hochgebirgsübergängen in Höhen empor, die ohne den
Verkehr zu Anſiedlung und Anbau nicht benützt würden.
So war für das als liebliche Kulturſtätte in die Felskämme
zwiſchen Gotthard und Vorderrhein eingebettete Urſerntal
— „Tal der Freude“ nennt es Schiller — die Erſchließung
des Gotthardpaſſes die Vorbedingung ſeiner Beſiedelung,
für das bei Diſentis liegende Medelſertal ſein Verkehr mit
dem Lukmanier, ferner mit dem Blegnotal und nach
Italien. Aehnliche Verhältniſſe kann man bei manchen an-
deren mit Päſſen in Verbindung ſtehenden Hochtälern
wahrnehmen.

***

Man könnte glauben, Ausführungen über die Be-
ziehungen der Alpen zur Geſchichte hätten nur für die
wiſſenſchaftliche Forſchung oder für wißbegierige Alpen-
bewohner und Alpenwanderer Wert. Doch iſt dem nicht ſo.
Auch für das Verſtändnis der deutſchen Geſchichte und für
klare Einſicht in die Notwendigkeiten der Zukunft iſt die
Kenntnis der Vergangenheit der Alpenländer von großer
Bedeutung. Aus manchen im vorſtehenden dargelegten Tat-
ſachen erhellt die Wahrheit dieſer Behauptung. Konſtantin
Frantz, der in unſeren Tagen wieder zu Ehren kommende
Großdeutſche, ſpende uns auch einige Gedanken als Bei-
trag! („Das neue Deutſchland“, 4. Brief „Natürl. Be-
dingungen deutſcher Entwicklung.“ 1871) „Wer die Alpen
nicht kennt, kennt Deutſchland nicht. Erſt der Anblick der
Alpen erhebt den Geiſt zur Höhe der Betrachtung, wie ſie
für das Verſtändnis eines ſo großen und reichgegliederten
Landes erforderlich iſt. Und wer erinnert ſich nicht — ich
bitte, dies nicht als Zwiſchenbemerkung anzuſehen! — daß
es die Zeit der deutſchen Größe war, wo das ganze Alpen-
gebiet zum deutſchen Reiche gehörte, bis mit der Abtren-
nung der Schweiz der Rückgang unſerer Macht begann.“ —
„Die Alpen und das Meer ſind das Alpha und Omega, von
wo alle Betrachtung ausgehen und wohin ſie zurückkehren
muß.“ — „Wären dieſe Bergrieſen nicht, ſo wäre es ja
wirklich denkbar, daß Deutſchland von der Spree aus ſich
beherrſchen ließe, gerade wie Frankreich von der Seine aus.
Aber die Alpen leidens nicht, „dies Haus der Freiheit hat
uns Gott gegründet“, wie der Dichter ſagt, und ich meine,
das Wort paßt auch an dieſer Stelle. Denn in demſelben
Maße wie die Alpen die deutſche Einheit (übertrieben
Vereinheitlichung) erſchweren, befördern ſie die deutſche
Freiheit.

Kunſt und kiteratur
Wolfram von Eſchenbach.
(Zu ſeinem 700jährigen Todesjahre.)

Am glänzenden Himmel der deutſchen Literatur ſtrahlt
Wolfram von Eſchenbach als Stern erſter Größe. Mag auch
ſein ruhiges Leuchten in all dem verwirrenden Meer der
flammenden Funken vielfach überſehen werden, zumal
jederzeit Meteore mit trügeriſchem Glanz das Auge blen-
den, immer wieder kommen Zeiten, wo er und die wenigen
anderen ſeinesgleichen hoch vom Zenith mit wunderſamem
Licht in dunkle Tiefen dringen. In dunkle Tiefe ſieht ſich
heute das deutſche Volk geworfen und bitter tut es ihm
not, ſich an den ewigen Sternen zu orientieren, auf daß ſie
ihm wieder zum rechten Weg verhelfen. Einen ſolchen
Tröſter und Helfer dürfen wir in jenem armen fränkiſchen
Ritter ſehen, der, verhältnismäßig jung mit einer Fülle
unausgeführter Pläne ins Grab ſinkend, doch einem
Werke die Vollendung gab, das ſeinen Namen an die Un-
ſterblichkeit knüpft. Es iſt der Parzifal.

Wolfram gehört zu jenen Heroen der Weltliteratur,
deren außerordentliche Perſönlichkeit allein aus dem Werk,
das ſie hinterlaſſen, erſchließbar iſt. Wie über Homer, wie
über dem Dichter der Nibelungen, der Kudrun, wie über

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[Seite 166[166]/0008] Allgemeine Zeitung 2. Mai 1920 Kunſt und kiteratur mit den anſtoßenden Landſchaften gehabt hätten. Bern und Zürich mußten ſich die zu den genannten Kantonen führen- den Päſſe ſichern, um ihre Macht ausdehnen zu können. Gerade durch die ſchon berührte Lage zwiſchen dem Mittel- meer und Mitteleuropa erlangten die quer durch die Alpen führenden Päſſe einen Einfluß auf die Geſchichte der ſie inne- habenden Staaten, der weit über das Gebirge hinaus- reicht. Ein Abſchnitt des Hochgebirges hat größeren oder geringeren politiſchen Wert, je nachdem er mehr oder weniger wegſam iſt Wegen des Reichtums an Päſſen, die in wertvolle Gebiete führten, mußten z. B. die Römer auf die Beherrſchung der Cottiſchen Alpen im Weſten und der Juli- ſchen Alpen im Oſten großes Gewicht legen. Den Wert des Wallis erhöhten gute Paßverbindungen, dagegen minderten ſie die Abgeſchiedenheit Rätiens und des Oberinntals. Je bedeutender ein Paß iſt, deſto reicheres Leben entfaltet ſich im umliegenden Bergland. Hat ſich nicht Tirol am und um den Brenner entwickelt? Wäre die Geſchichte dieſes Landes denkbar ohne dieſen beherrſchenden Paß? Vom Gotthard ſagt Goethe, er habe „den Rang eines könig- lichen Gebirges über alle anderen, weil die größten Ge- birgsketten bei ihm zuſammenlaufen und ſich an ihn lehnen“. Nicht bloß für den Bau der Mittelalpen kommt dem Gotthardpaß dieſer Rang zu, ſondern auch für die Aus- nutzung der durch ihn gebotenen Verkehrsmöglichkeiten. Für eine geſchichtliche Würdigung des Verkehrs über die Alpen- päſſe muß man auf die vorrömiſche Zeit zurückgehen. Wohl in allen Teilen der Alpen läßt ſich ein vorrömiſcher Paß- verkehr nachweiſen, ſo im Weſten über den Großen und den Kleinen St. Bernhard, weiter nach Oſten über den Flüelapaß und andere Uebergänge Graubündens, über den Brenner uſw. An die aus früherer Zeit ſtammenden Alpenwege ſchloſſen die Römer die ihrigen an, die aber nicht etwa Saumwege blieben, ſondern zu Straßen ausgeſtaltet wurden und mit der Zeit ein ganzes Alpenſtraßennetz, eine der größten Leiſtungen des Eroberervolkes bildeten. An die Paßſtraßen ſchloſſen die Siedler in ſtiller und unermüdlicher Tätigkeit ihre Bergpfade an, die Tal mit Tal verbanden und Leben in die abgelegenſten Gebirgswinkel trugen. Viel- fach lockte ſie der Erzreichtum eines Gebietes an. Im frühen Mittelalter verödete ein Teil der Römerſtraßen, doch ihr feſter Bau erhielt ſich bis in unſere Tage; an manchen Straßenzügen, z. B. am Radſtädter Tauern, ſtehen als ehr- würdige Zeugen alten Verkehrs noch die römiſchen Meilen- ſteine. Auch im Innern der Alpen „blühte neues Leben aus den Ruinen“, d. h. nach jener Verödung hob ſich der Ver- kehr wieder. Im frühen Mittelalter muß der von den Römern noch nicht beſchrittene Gotthard wegſam gemacht worden ſein. Die Römer hatten die Päſſe auf weitere Strecken militäriſch beſetzt, die deutſchen Kaiſer mußten ſich wegen der Verbindung Deutſchlands mit Italien den Ueber- gang über das Hochgebirge jederzeit ſichern. Ihre Römer- züge erweckten die von Norden nach Süden führenden Alpen- ſtraßen zu neuem Leben und trugen zu politiſcher Aus- nutzung der Verkehrsmöglichkeiten der Päſſe bei. Im Wandel der Zeiten fanden die Alpenvölker manche neue Wege und vergaßen darüber alte. Oft waren örtliche Verhältniſſe die Urſache ſolcher Verkehrsänderungen. Der Gotthard, der Fernpaß, der Stefelder Sattel, der Jaufen gewannen aus dieſem Grunde ſchon frühzeitig bedeutenderen Anteil am Verkehr; der Simplon im Weſten und der Semmering im Oſten gewannen ſeit dem Erſtehen neuer Alpenſtraßen im 18. Jahrhundert den Vorrang über ihre Nachbarpäſſe. Im allgemeinen ziehen beſtimmte Päſſe, dank der Gunſt ihrer Lage, immer mehr den Verkehr an ſich, ſchon beim Ver- halten der mit ſicherem militäriſchen Blick begabten Römer kann man dieſe Wahrnehmung machen. Welchen Wandel des Verkehrs und welche geſchichtliche Wirkung der mit Be- nützung von Päſſen ausgeführte Bau großer Alpenbahnen mit ſich brachte, bedarf hier keiner Erörterung. Die Päſſe gewähren den Alpenbewohnern nicht nur die Möglichkeit von einem Fuß des Gebirges zum andern zu gelangen, nein, ſie erwecken und nähren das Leben in den Bergen ſelbſt. Wo Leben iſt, entwickelt ſich aber auch Ge- ſchichte. Menſchliche Siedlungen und Ackerbau klimmen an den Hochgebirgsübergängen in Höhen empor, die ohne den Verkehr zu Anſiedlung und Anbau nicht benützt würden. So war für das als liebliche Kulturſtätte in die Felskämme zwiſchen Gotthard und Vorderrhein eingebettete Urſerntal — „Tal der Freude“ nennt es Schiller — die Erſchließung des Gotthardpaſſes die Vorbedingung ſeiner Beſiedelung, für das bei Diſentis liegende Medelſertal ſein Verkehr mit dem Lukmanier, ferner mit dem Blegnotal und nach Italien. Aehnliche Verhältniſſe kann man bei manchen an- deren mit Päſſen in Verbindung ſtehenden Hochtälern wahrnehmen. *** Man könnte glauben, Ausführungen über die Be- ziehungen der Alpen zur Geſchichte hätten nur für die wiſſenſchaftliche Forſchung oder für wißbegierige Alpen- bewohner und Alpenwanderer Wert. Doch iſt dem nicht ſo. Auch für das Verſtändnis der deutſchen Geſchichte und für klare Einſicht in die Notwendigkeiten der Zukunft iſt die Kenntnis der Vergangenheit der Alpenländer von großer Bedeutung. Aus manchen im vorſtehenden dargelegten Tat- ſachen erhellt die Wahrheit dieſer Behauptung. Konſtantin Frantz, der in unſeren Tagen wieder zu Ehren kommende Großdeutſche, ſpende uns auch einige Gedanken als Bei- trag! („Das neue Deutſchland“, 4. Brief „Natürl. Be- dingungen deutſcher Entwicklung.“ 1871) „Wer die Alpen nicht kennt, kennt Deutſchland nicht. Erſt der Anblick der Alpen erhebt den Geiſt zur Höhe der Betrachtung, wie ſie für das Verſtändnis eines ſo großen und reichgegliederten Landes erforderlich iſt. Und wer erinnert ſich nicht — ich bitte, dies nicht als Zwiſchenbemerkung anzuſehen! — daß es die Zeit der deutſchen Größe war, wo das ganze Alpen- gebiet zum deutſchen Reiche gehörte, bis mit der Abtren- nung der Schweiz der Rückgang unſerer Macht begann.“ — „Die Alpen und das Meer ſind das Alpha und Omega, von wo alle Betrachtung ausgehen und wohin ſie zurückkehren muß.“ — „Wären dieſe Bergrieſen nicht, ſo wäre es ja wirklich denkbar, daß Deutſchland von der Spree aus ſich beherrſchen ließe, gerade wie Frankreich von der Seine aus. Aber die Alpen leidens nicht, „dies Haus der Freiheit hat uns Gott gegründet“, wie der Dichter ſagt, und ich meine, das Wort paßt auch an dieſer Stelle. Denn in demſelben Maße wie die Alpen die deutſche Einheit (übertrieben Vereinheitlichung) erſchweren, befördern ſie die deutſche Freiheit.“ Wolfram von Eſchenbach. (Zu ſeinem 700jährigen Todesjahre.) Von Wolfgang Kraemer. Am glänzenden Himmel der deutſchen Literatur ſtrahlt Wolfram von Eſchenbach als Stern erſter Größe. Mag auch ſein ruhiges Leuchten in all dem verwirrenden Meer der flammenden Funken vielfach überſehen werden, zumal jederzeit Meteore mit trügeriſchem Glanz das Auge blen- den, immer wieder kommen Zeiten, wo er und die wenigen anderen ſeinesgleichen hoch vom Zenith mit wunderſamem Licht in dunkle Tiefen dringen. In dunkle Tiefe ſieht ſich heute das deutſche Volk geworfen und bitter tut es ihm not, ſich an den ewigen Sternen zu orientieren, auf daß ſie ihm wieder zum rechten Weg verhelfen. Einen ſolchen Tröſter und Helfer dürfen wir in jenem armen fränkiſchen Ritter ſehen, der, verhältnismäßig jung mit einer Fülle unausgeführter Pläne ins Grab ſinkend, doch einem Werke die Vollendung gab, das ſeinen Namen an die Un- ſterblichkeit knüpft. Es iſt der Parzifal. Wolfram gehört zu jenen Heroen der Weltliteratur, deren außerordentliche Perſönlichkeit allein aus dem Werk, das ſie hinterlaſſen, erſchließbar iſt. Wie über Homer, wie über dem Dichter der Nibelungen, der Kudrun, wie über

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2020-10-02T09:49:36Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 17, 2. Mai 1920, S. Seite 166[166]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine17_1920/8>, abgerufen am 03.12.2024.