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Allgemeine Zeitung, Nr. 17, 2. Mai 1920.

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Allgemeine Zeitung 2. Mai 1920
[Spaltenumbruch] "Trauert nicht, wir leben, wir sind im Glück". Hat man je
von solcher Botschaft aus den Gefilden der Seligen gehört?
Auf Traumesflügeln kommt sie vielleicht dem einen oder
andern, aber dann wird das Erwachen zum schmerzlichsten
Abschied, stirbt der Gestorbene nochmals den beweinten Tod.
Einem wachen Sterblichen ist solche Kunde noch nie ge-
worden, und dieses "Nie", Pharro, läßt mich an deinem
Nirwana zweifeln.

Pharro: Du machst, Salmonides, deinem Lehrer Ehre,
aber erlaube, daß er dich noch einmal belehrt. Ich könnte
dich mit deinen eigenen Waffen schlagen, Freund. Es gibt
Gaben, deren Herkunft man nicht kennt. Eine solche ist
dem Trauernden das wohltätige Wunder des Vergessens.
Doch das überlasse ich dir zum weiteren Bedenken. Ich greife
tiefer. Was sind denn "Freude", "Glück", "Seligkeit", von
denen du sprichst? Alles Begriffe von engster irdischer Ge-
bundenheit, ganz und gar in unserer menschlichen Mentali-
tät verwurzelt, durch sie dimensional und qualitativ bedingt
und begrenzt. Das Nirwana darf, um wirklich ein solches
zu sein, diese Schranken nicht kennen, in ihm müßten an-
dere -- ungeahnte und unserem Verstande nicht ahnbare --
Glücksmöglichkeiten erblühen. Von dort fließt wohl man-
ches in unser irdisches Dasein herüber, das wir nicht als
Glück oder Freude erkennen und das dennoch tiefstes Glück
und innerste Freude ist. Ich habe Schwereres erlebt, als
du, Erechtheus, und doch sind meine greisenden Tage von
freundlicher Zufriedenheit erhellt. Warte nur eine Weile,
Jüngling, so wird auch dir Tröstung werden, und im Augen-
blick, da du sie erfährst, wirst du vielleicht auch verspüren,
von wannen sie dir kommt. Vom Vater und Bruder oder
von der toten Mutter? Ja und nein. Ihr Sein ist aufge-
gangen in dem großen Nirwana, dem Born des Glücks,
daraus die Menschheit schöpft. Ob sie dich noch sehen und
kennen, grüble darüber nicht. Genug, sie leben in einem
Glück, das alle uns vorstellbaren Glücksmöglichkeiten über-
trifft. Man sagt, daß die Besten fallen -- vielleicht braucht
der Glücksborn, der ja zugleich Born alles Guten ist, diese
Besten zu seiner Speisung und Erneuerung; doch das ist
nur eine menschlich-mangelhafte Vorstellungsform, an die
wir uns nicht klammern wollen. An eines haltet euch: an
das höhere Glück der Verstorbenen. Es werden in späterer
Zeit Propheten und Religionsstifter kommen, die der
Menschheit den Glauben an einen einzigen Gott und an ein
Glück im Unsichtbaren, im Jenseits, im Nirwana verkünden
werden. Solchen Glauben pflanze ich in dich, Erechtheus,
aus ihm magst du Trost schöpfen in deiner Leid-
geschlagenheit.

Erechtheus: Ich danke dir. Ich will es versuchen.



Gestalt, Rewegung und Wille.
Wolkenskizzen
6. Schnee.

Ueber Felsenkämme wirbelt weißer Staub. Mit wütenden
Stößen treibt der Sturm graue Schatten um ihre Felsentürme
und Kälte und Nässe dringen in ihren innersten Kern ein. Das
Gebirge sieht aus wie ein ungeheures Wogenfeld; aber seine
Wogen sind nicht starr; es beugen sich Wälder unter den Schlägen
des Sturmes, schwere Massen dunkler Gestalten ergießen sich
über Bergeshänge tief hinab zur Tiefe und trübe Wasser brausen
im Katarakt zum Tal hin. Und seine Stäubchen von Regen
peitscht der Sturm gegen Baum und Fels.

Und immer dunkler wird es im Tal, immer höher schwillt
der breite Strom der grauen Schattengestalten, hohe Felstürme
streben scheinbar aus ihrem Grunde empor und zu Eis erstarrt
fluten im Strombette des Sturmes die Massen des schwebenden
Wasserstaubes weithin, daß es aussicht, als reckten die aus der
Tiefe wachsenden Giganten ihre haargeschmückten Arme über
den Himmel in unendliche Fernen hin. Ganz weit draußen in
der Höhe aber treibt fein wie der Sand am Meere in ganz
feinen Wogen gefaltet der Schleier des Himmels, in welchen der
Sonnenschein seine Krone von buntem Lichte flicht. Drunten
aber, im Schoße der schweren grauen Wogen erwacht das nach
[Spaltenumbruch] Wachstum sehnsuchtsvolle Leben, und es schwillt und steigt em-
por, und der unendliche Reichtum der Gestalt und der Masse
wird zur Tat. Es strömt des Regens schwere Woge ins finstere
Tal und hart schlagen seine Tropfen gegen Felsen und Ströme
schwarzen Blutes rinnen in den Adern des Berges zu Tal. Droben
aber erheben sich schwere Massen und ihre Bahn wird sichtbar
durch ihres Mundes eisigen Hauch. Gestalten, finstere, drohende,
mit wild flatterndem Haarbusch, aber auch Bergeshäupter von
erhabener Schönheit, umweht von zartesten Schleiern, erheben
sich aus finsterem Grunde. Das gewaltigste Haupt unter ihnen
aber thront auf einem weiten Höhenrücken; unaufhörlich quillt
und wächst es hier empor, Terrassen werden nach den Seiten
ausgestoßen und haarbuschflatternde Arme recken sich von
Gipfel zu Gipsel in den weiten Raum hin bis in unendliche
Fernen. Hier aber im Herzen des Gipfelmassives, wo die ge-
waltigste Erhebung erreicht wird und wo Gestalt und Bewegung
durch den Willen der Massen ihre höchste Entfaltung erfahren,
hier, wo die kleine Bewegung des einzelnen zur großen des Gan-
zen wird, hier werden die Massen kalt und der Strom der quel-
lenden Tropfen, die zur Höhe hin schweben, erstarrt zu hartem
Korn; und ihre Scharen stürzen aus dem finsteren Balle des
Sturmes zur Tiefe hin, es prasselt gegen Felswände und Wälder
rauschen unter ihrem eisigen Schlage. In der Tiefe des Tales
aber zittert noch die Wärme in ruhenden Massen und zerbricht
den eisigen Bann ihrer Härte. Nur wenige erreichen hart und
ungelöst des Tales Sohle.

Doch der Bann der Kälte schlägt die Massen in seine Feffeln;
drohender ballen sich über dem Tale die Massen der Wolken,
dichter die Schwärme der fallenden Körner; jetzt bricht mit plötz-
licher Gewalt die ganze Woge des Hagelschlages zur Tiefe.
Felsennischen füllen sich mit Eis, es schimmert der weiche Wald-
boden von einem seltsamen, kalten Lichte, welches bald heller
strahlt, bald schwindet, je nachdem der Sturm mit besonderer
Gewalt die Massen zu Boden schleudert. Inmitten dieser stürmen-
den, rauschenden, wirbelnden Schwärme aber weht etwas
Weiches, eine ganz kleine weiße Feder, in anmutigem Spiel
gleitet sie zu Boden, wo sie alsbald verschwindet. Aber es folgen
mehrere, viele, und plötzlich ist der grobe, prallende Hagel ver-
schwunden; es weht die weiße Jagd durch die Luft, weht um
Felsenklippen und über Wälder dahin, langsam und zögernd
lassen sich die weißen Körper zur feindlichen Erde nieder. Hier
und da bedeckt des Hagels harte Masse den Boden, dazwischen
breiten sich Tümpel, Bäche und Eisschlamm aus. Ganz dunkel ist
es geworden; die Sonne ist fern ins Reich des Unsichtbaren
hinabgetaucht, kein Blick hat der Täler tiefsten Grund erreicht.
Noch schimmern droben im freien Raume die Häupter der luft-
erzeugten Bergketten und ihre weithinausschwebenden Haar-
büsche im roten Lichte der Scheidenden, drunten aber unter dem
wogenden Meere der Wolken ist Finsternis. Und immer dichter
wirbeln die Schwärme, das leichte und doch schwerlastende Ge-
fieder, schon haftet es wassergedrängt an Vorsprüngen des Fel-
sens, da wo des Sturmes Gewalt am stärksten anpackt und die
Erregung der Wärme ersterben läßt.

Größer und größer werden die wirbelnden Federn, immer
dichter und hastiger schlagen ihre Schwärme auf den eisigen und
nassen Boden; schon tragen Felsen und Tannen schwere Polster,
aus denen Wasser tropft, und Wasser und Schnee ringen um den
Besitz des Bodens. Doch die Masse des fallenden Eises verschlingt
nun die iriefenden Bäche, und auch Erde und Wald bezwingt der
Bann der ruhenden Masse; furchtbar treffen des Sturmes Schläge
den haftenden Schnee, und zwischen letzten schwebenden Tropfen
des fließenden Wassers stäuben wilde Schneewirbel; die Luft des
Tales ist Finsternis, Schnee, Wasserstaub schlagende Tannenarme
und grauer Fels, die Grenze zwischen dem Ruhenden und dem
Bewegten schwindet. Aber die Dunkelheit ist lichter geworden.
Aus dem wehenden Staube strahlt die gebannte Kraft, und ein
ganz feines, aber durchdringendes Licht strahlt durch den wir-
belnden Sturm. Auf dem Grunde des Tales liegt es wie ein
See von schimmerndem Lichte; nur hier und da windet sich der
Lauf eines Baches durch die Flur, von den Wänden der Felsen
aber rauschen in wirbelnden Chaos die Gießbäche, die nimmer
verrinnenden.

Alles ist hier Bewegung, strahlende, schimmernde, kalte Fin-
sternis, und doch ist es wie eine große, bannende Stille; nicht
mehr das Plätschern der Regenbäche, nicht mehr das harte

Allgemeine Zeitung 2. Mai 1920
[Spaltenumbruch] „Trauert nicht, wir leben, wir ſind im Glück“. Hat man je
von ſolcher Botſchaft aus den Gefilden der Seligen gehört?
Auf Traumesflügeln kommt ſie vielleicht dem einen oder
andern, aber dann wird das Erwachen zum ſchmerzlichſten
Abſchied, ſtirbt der Geſtorbene nochmals den beweinten Tod.
Einem wachen Sterblichen iſt ſolche Kunde noch nie ge-
worden, und dieſes „Nie“, Pharro, läßt mich an deinem
Nirwana zweifeln.

Pharro: Du machſt, Salmonides, deinem Lehrer Ehre,
aber erlaube, daß er dich noch einmal belehrt. Ich könnte
dich mit deinen eigenen Waffen ſchlagen, Freund. Es gibt
Gaben, deren Herkunft man nicht kennt. Eine ſolche iſt
dem Trauernden das wohltätige Wunder des Vergeſſens.
Doch das überlaſſe ich dir zum weiteren Bedenken. Ich greife
tiefer. Was ſind denn „Freude“, „Glück“, „Seligkeit“, von
denen du ſprichſt? Alles Begriffe von engſter irdiſcher Ge-
bundenheit, ganz und gar in unſerer menſchlichen Mentali-
tät verwurzelt, durch ſie dimenſional und qualitativ bedingt
und begrenzt. Das Nirwana darf, um wirklich ein ſolches
zu ſein, dieſe Schranken nicht kennen, in ihm müßten an-
dere — ungeahnte und unſerem Verſtande nicht ahnbare —
Glücksmöglichkeiten erblühen. Von dort fließt wohl man-
ches in unſer irdiſches Daſein herüber, das wir nicht als
Glück oder Freude erkennen und das dennoch tiefſtes Glück
und innerſte Freude iſt. Ich habe Schwereres erlebt, als
du, Erechtheus, und doch ſind meine greiſenden Tage von
freundlicher Zufriedenheit erhellt. Warte nur eine Weile,
Jüngling, ſo wird auch dir Tröſtung werden, und im Augen-
blick, da du ſie erfährſt, wirſt du vielleicht auch verſpüren,
von wannen ſie dir kommt. Vom Vater und Bruder oder
von der toten Mutter? Ja und nein. Ihr Sein iſt aufge-
gangen in dem großen Nirwana, dem Born des Glücks,
daraus die Menſchheit ſchöpft. Ob ſie dich noch ſehen und
kennen, grüble darüber nicht. Genug, ſie leben in einem
Glück, das alle uns vorſtellbaren Glücksmöglichkeiten über-
trifft. Man ſagt, daß die Beſten fallen — vielleicht braucht
der Glücksborn, der ja zugleich Born alles Guten iſt, dieſe
Beſten zu ſeiner Speiſung und Erneuerung; doch das iſt
nur eine menſchlich-mangelhafte Vorſtellungsform, an die
wir uns nicht klammern wollen. An eines haltet euch: an
das höhere Glück der Verſtorbenen. Es werden in ſpäterer
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Menſchheit den Glauben an einen einzigen Gott und an ein
Glück im Unſichtbaren, im Jenſeits, im Nirwana verkünden
werden. Solchen Glauben pflanze ich in dich, Erechtheus,
aus ihm magſt du Troſt ſchöpfen in deiner Leid-
geſchlagenheit.

Erechtheus: Ich danke dir. Ich will es verſuchen.



Geſtalt, Rewegung und Wille.
Wolkenſkizzen
6. Schnee.

Ueber Felſenkämme wirbelt weißer Staub. Mit wütenden
Stößen treibt der Sturm graue Schatten um ihre Felſentürme
und Kälte und Näſſe dringen in ihren innerſten Kern ein. Das
Gebirge ſieht aus wie ein ungeheures Wogenfeld; aber ſeine
Wogen ſind nicht ſtarr; es beugen ſich Wälder unter den Schlägen
des Sturmes, ſchwere Maſſen dunkler Geſtalten ergießen ſich
über Bergeshänge tief hinab zur Tiefe und trübe Waſſer brauſen
im Katarakt zum Tal hin. Und ſeine Stäubchen von Regen
peitſcht der Sturm gegen Baum und Fels.

Und immer dunkler wird es im Tal, immer höher ſchwillt
der breite Strom der grauen Schattengeſtalten, hohe Felstürme
ſtreben ſcheinbar aus ihrem Grunde empor und zu Eis erſtarrt
fluten im Strombette des Sturmes die Maſſen des ſchwebenden
Waſſerſtaubes weithin, daß es ausſicht, als reckten die aus der
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den Himmel in unendliche Fernen hin. Ganz weit draußen in
der Höhe aber treibt fein wie der Sand am Meere in ganz
feinen Wogen gefaltet der Schleier des Himmels, in welchen der
Sonnenſchein ſeine Krone von buntem Lichte flicht. Drunten
aber, im Schoße der ſchweren grauen Wogen erwacht das nach
[Spaltenumbruch] Wachstum ſehnſuchtsvolle Leben, und es ſchwillt und ſteigt em-
por, und der unendliche Reichtum der Geſtalt und der Maſſe
wird zur Tat. Es ſtrömt des Regens ſchwere Woge ins finſtere
Tal und hart ſchlagen ſeine Tropfen gegen Felſen und Ströme
ſchwarzen Blutes rinnen in den Adern des Berges zu Tal. Droben
aber erheben ſich ſchwere Maſſen und ihre Bahn wird ſichtbar
durch ihres Mundes eiſigen Hauch. Geſtalten, finſtere, drohende,
mit wild flatterndem Haarbuſch, aber auch Bergeshäupter von
erhabener Schönheit, umweht von zarteſten Schleiern, erheben
ſich aus finſterem Grunde. Das gewaltigſte Haupt unter ihnen
aber thront auf einem weiten Höhenrücken; unaufhörlich quillt
und wächſt es hier empor, Terraſſen werden nach den Seiten
ausgeſtoßen und haarbuſchflatternde Arme recken ſich von
Gipfel zu Gipſel in den weiten Raum hin bis in unendliche
Fernen. Hier aber im Herzen des Gipfelmaſſives, wo die ge-
waltigſte Erhebung erreicht wird und wo Geſtalt und Bewegung
durch den Willen der Maſſen ihre höchſte Entfaltung erfahren,
hier, wo die kleine Bewegung des einzelnen zur großen des Gan-
zen wird, hier werden die Maſſen kalt und der Strom der quel-
lenden Tropfen, die zur Höhe hin ſchweben, erſtarrt zu hartem
Korn; und ihre Scharen ſtürzen aus dem finſteren Balle des
Sturmes zur Tiefe hin, es praſſelt gegen Felswände und Wälder
rauſchen unter ihrem eiſigen Schlage. In der Tiefe des Tales
aber zittert noch die Wärme in ruhenden Maſſen und zerbricht
den eiſigen Bann ihrer Härte. Nur wenige erreichen hart und
ungelöſt des Tales Sohle.

Doch der Bann der Kälte ſchlägt die Maſſen in ſeine Feffeln;
drohender ballen ſich über dem Tale die Maſſen der Wolken,
dichter die Schwärme der fallenden Körner; jetzt bricht mit plötz-
licher Gewalt die ganze Woge des Hagelſchlages zur Tiefe.
Felſenniſchen füllen ſich mit Eis, es ſchimmert der weiche Wald-
boden von einem ſeltſamen, kalten Lichte, welches bald heller
ſtrahlt, bald ſchwindet, je nachdem der Sturm mit beſonderer
Gewalt die Maſſen zu Boden ſchleudert. Inmitten dieſer ſtürmen-
den, rauſchenden, wirbelnden Schwärme aber weht etwas
Weiches, eine ganz kleine weiße Feder, in anmutigem Spiel
gleitet ſie zu Boden, wo ſie alsbald verſchwindet. Aber es folgen
mehrere, viele, und plötzlich iſt der grobe, prallende Hagel ver-
ſchwunden; es weht die weiße Jagd durch die Luft, weht um
Felſenklippen und über Wälder dahin, langſam und zögernd
laſſen ſich die weißen Körper zur feindlichen Erde nieder. Hier
und da bedeckt des Hagels harte Maſſe den Boden, dazwiſchen
breiten ſich Tümpel, Bäche und Eisſchlamm aus. Ganz dunkel iſt
es geworden; die Sonne iſt fern ins Reich des Unſichtbaren
hinabgetaucht, kein Blick hat der Täler tiefſten Grund erreicht.
Noch ſchimmern droben im freien Raume die Häupter der luft-
erzeugten Bergketten und ihre weithinausſchwebenden Haar-
büſche im roten Lichte der Scheidenden, drunten aber unter dem
wogenden Meere der Wolken iſt Finſternis. Und immer dichter
wirbeln die Schwärme, das leichte und doch ſchwerlaſtende Ge-
fieder, ſchon haftet es waſſergedrängt an Vorſprüngen des Fel-
ſens, da wo des Sturmes Gewalt am ſtärkſten anpackt und die
Erregung der Wärme erſterben läßt.

Größer und größer werden die wirbelnden Federn, immer
dichter und haſtiger ſchlagen ihre Schwärme auf den eiſigen und
naſſen Boden; ſchon tragen Felſen und Tannen ſchwere Polſter,
aus denen Waſſer tropft, und Waſſer und Schnee ringen um den
Beſitz des Bodens. Doch die Maſſe des fallenden Eiſes verſchlingt
nun die iriefenden Bäche, und auch Erde und Wald bezwingt der
Bann der ruhenden Maſſe; furchtbar treffen des Sturmes Schläge
den haftenden Schnee, und zwiſchen letzten ſchwebenden Tropfen
des fließenden Waſſers ſtäuben wilde Schneewirbel; die Luft des
Tales iſt Finſternis, Schnee, Waſſerſtaub ſchlagende Tannenarme
und grauer Fels, die Grenze zwiſchen dem Ruhenden und dem
Bewegten ſchwindet. Aber die Dunkelheit iſt lichter geworden.
Aus dem wehenden Staube ſtrahlt die gebannte Kraft, und ein
ganz feines, aber durchdringendes Licht ſtrahlt durch den wir-
belnden Sturm. Auf dem Grunde des Tales liegt es wie ein
See von ſchimmerndem Lichte; nur hier und da windet ſich der
Lauf eines Baches durch die Flur, von den Wänden der Felſen
aber rauſchen in wirbelnden Chaos die Gießbäche, die nimmer
verrinnenden.

Alles iſt hier Bewegung, ſtrahlende, ſchimmernde, kalte Fin-
ſternis, und doch iſt es wie eine große, bannende Stille; nicht
mehr das Plätſchern der Regenbäche, nicht mehr das harte

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[Seite 170[170]/0012] Allgemeine Zeitung 2. Mai 1920 „Trauert nicht, wir leben, wir ſind im Glück“. Hat man je von ſolcher Botſchaft aus den Gefilden der Seligen gehört? Auf Traumesflügeln kommt ſie vielleicht dem einen oder andern, aber dann wird das Erwachen zum ſchmerzlichſten Abſchied, ſtirbt der Geſtorbene nochmals den beweinten Tod. Einem wachen Sterblichen iſt ſolche Kunde noch nie ge- worden, und dieſes „Nie“, Pharro, läßt mich an deinem Nirwana zweifeln. Pharro: Du machſt, Salmonides, deinem Lehrer Ehre, aber erlaube, daß er dich noch einmal belehrt. Ich könnte dich mit deinen eigenen Waffen ſchlagen, Freund. Es gibt Gaben, deren Herkunft man nicht kennt. Eine ſolche iſt dem Trauernden das wohltätige Wunder des Vergeſſens. Doch das überlaſſe ich dir zum weiteren Bedenken. Ich greife tiefer. Was ſind denn „Freude“, „Glück“, „Seligkeit“, von denen du ſprichſt? Alles Begriffe von engſter irdiſcher Ge- bundenheit, ganz und gar in unſerer menſchlichen Mentali- tät verwurzelt, durch ſie dimenſional und qualitativ bedingt und begrenzt. Das Nirwana darf, um wirklich ein ſolches zu ſein, dieſe Schranken nicht kennen, in ihm müßten an- dere — ungeahnte und unſerem Verſtande nicht ahnbare — Glücksmöglichkeiten erblühen. Von dort fließt wohl man- ches in unſer irdiſches Daſein herüber, das wir nicht als Glück oder Freude erkennen und das dennoch tiefſtes Glück und innerſte Freude iſt. Ich habe Schwereres erlebt, als du, Erechtheus, und doch ſind meine greiſenden Tage von freundlicher Zufriedenheit erhellt. Warte nur eine Weile, Jüngling, ſo wird auch dir Tröſtung werden, und im Augen- blick, da du ſie erfährſt, wirſt du vielleicht auch verſpüren, von wannen ſie dir kommt. Vom Vater und Bruder oder von der toten Mutter? Ja und nein. Ihr Sein iſt aufge- gangen in dem großen Nirwana, dem Born des Glücks, daraus die Menſchheit ſchöpft. Ob ſie dich noch ſehen und kennen, grüble darüber nicht. Genug, ſie leben in einem Glück, das alle uns vorſtellbaren Glücksmöglichkeiten über- trifft. Man ſagt, daß die Beſten fallen — vielleicht braucht der Glücksborn, der ja zugleich Born alles Guten iſt, dieſe Beſten zu ſeiner Speiſung und Erneuerung; doch das iſt nur eine menſchlich-mangelhafte Vorſtellungsform, an die wir uns nicht klammern wollen. An eines haltet euch: an das höhere Glück der Verſtorbenen. Es werden in ſpäterer Zeit Propheten und Religionsſtifter kommen, die der Menſchheit den Glauben an einen einzigen Gott und an ein Glück im Unſichtbaren, im Jenſeits, im Nirwana verkünden werden. Solchen Glauben pflanze ich in dich, Erechtheus, aus ihm magſt du Troſt ſchöpfen in deiner Leid- geſchlagenheit. Erechtheus: Ich danke dir. Ich will es verſuchen. Geſtalt, Rewegung und Wille. Wolkenſkizzenvon Johannes Dreis. 6. Schnee. Ueber Felſenkämme wirbelt weißer Staub. Mit wütenden Stößen treibt der Sturm graue Schatten um ihre Felſentürme und Kälte und Näſſe dringen in ihren innerſten Kern ein. Das Gebirge ſieht aus wie ein ungeheures Wogenfeld; aber ſeine Wogen ſind nicht ſtarr; es beugen ſich Wälder unter den Schlägen des Sturmes, ſchwere Maſſen dunkler Geſtalten ergießen ſich über Bergeshänge tief hinab zur Tiefe und trübe Waſſer brauſen im Katarakt zum Tal hin. Und ſeine Stäubchen von Regen peitſcht der Sturm gegen Baum und Fels. Und immer dunkler wird es im Tal, immer höher ſchwillt der breite Strom der grauen Schattengeſtalten, hohe Felstürme ſtreben ſcheinbar aus ihrem Grunde empor und zu Eis erſtarrt fluten im Strombette des Sturmes die Maſſen des ſchwebenden Waſſerſtaubes weithin, daß es ausſicht, als reckten die aus der Tiefe wachſenden Giganten ihre haargeſchmückten Arme über den Himmel in unendliche Fernen hin. Ganz weit draußen in der Höhe aber treibt fein wie der Sand am Meere in ganz feinen Wogen gefaltet der Schleier des Himmels, in welchen der Sonnenſchein ſeine Krone von buntem Lichte flicht. Drunten aber, im Schoße der ſchweren grauen Wogen erwacht das nach Wachstum ſehnſuchtsvolle Leben, und es ſchwillt und ſteigt em- por, und der unendliche Reichtum der Geſtalt und der Maſſe wird zur Tat. Es ſtrömt des Regens ſchwere Woge ins finſtere Tal und hart ſchlagen ſeine Tropfen gegen Felſen und Ströme ſchwarzen Blutes rinnen in den Adern des Berges zu Tal. Droben aber erheben ſich ſchwere Maſſen und ihre Bahn wird ſichtbar durch ihres Mundes eiſigen Hauch. Geſtalten, finſtere, drohende, mit wild flatterndem Haarbuſch, aber auch Bergeshäupter von erhabener Schönheit, umweht von zarteſten Schleiern, erheben ſich aus finſterem Grunde. Das gewaltigſte Haupt unter ihnen aber thront auf einem weiten Höhenrücken; unaufhörlich quillt und wächſt es hier empor, Terraſſen werden nach den Seiten ausgeſtoßen und haarbuſchflatternde Arme recken ſich von Gipfel zu Gipſel in den weiten Raum hin bis in unendliche Fernen. Hier aber im Herzen des Gipfelmaſſives, wo die ge- waltigſte Erhebung erreicht wird und wo Geſtalt und Bewegung durch den Willen der Maſſen ihre höchſte Entfaltung erfahren, hier, wo die kleine Bewegung des einzelnen zur großen des Gan- zen wird, hier werden die Maſſen kalt und der Strom der quel- lenden Tropfen, die zur Höhe hin ſchweben, erſtarrt zu hartem Korn; und ihre Scharen ſtürzen aus dem finſteren Balle des Sturmes zur Tiefe hin, es praſſelt gegen Felswände und Wälder rauſchen unter ihrem eiſigen Schlage. In der Tiefe des Tales aber zittert noch die Wärme in ruhenden Maſſen und zerbricht den eiſigen Bann ihrer Härte. Nur wenige erreichen hart und ungelöſt des Tales Sohle. Doch der Bann der Kälte ſchlägt die Maſſen in ſeine Feffeln; drohender ballen ſich über dem Tale die Maſſen der Wolken, dichter die Schwärme der fallenden Körner; jetzt bricht mit plötz- licher Gewalt die ganze Woge des Hagelſchlages zur Tiefe. Felſenniſchen füllen ſich mit Eis, es ſchimmert der weiche Wald- boden von einem ſeltſamen, kalten Lichte, welches bald heller ſtrahlt, bald ſchwindet, je nachdem der Sturm mit beſonderer Gewalt die Maſſen zu Boden ſchleudert. Inmitten dieſer ſtürmen- den, rauſchenden, wirbelnden Schwärme aber weht etwas Weiches, eine ganz kleine weiße Feder, in anmutigem Spiel gleitet ſie zu Boden, wo ſie alsbald verſchwindet. Aber es folgen mehrere, viele, und plötzlich iſt der grobe, prallende Hagel ver- ſchwunden; es weht die weiße Jagd durch die Luft, weht um Felſenklippen und über Wälder dahin, langſam und zögernd laſſen ſich die weißen Körper zur feindlichen Erde nieder. Hier und da bedeckt des Hagels harte Maſſe den Boden, dazwiſchen breiten ſich Tümpel, Bäche und Eisſchlamm aus. Ganz dunkel iſt es geworden; die Sonne iſt fern ins Reich des Unſichtbaren hinabgetaucht, kein Blick hat der Täler tiefſten Grund erreicht. Noch ſchimmern droben im freien Raume die Häupter der luft- erzeugten Bergketten und ihre weithinausſchwebenden Haar- büſche im roten Lichte der Scheidenden, drunten aber unter dem wogenden Meere der Wolken iſt Finſternis. Und immer dichter wirbeln die Schwärme, das leichte und doch ſchwerlaſtende Ge- fieder, ſchon haftet es waſſergedrängt an Vorſprüngen des Fel- ſens, da wo des Sturmes Gewalt am ſtärkſten anpackt und die Erregung der Wärme erſterben läßt. Größer und größer werden die wirbelnden Federn, immer dichter und haſtiger ſchlagen ihre Schwärme auf den eiſigen und naſſen Boden; ſchon tragen Felſen und Tannen ſchwere Polſter, aus denen Waſſer tropft, und Waſſer und Schnee ringen um den Beſitz des Bodens. Doch die Maſſe des fallenden Eiſes verſchlingt nun die iriefenden Bäche, und auch Erde und Wald bezwingt der Bann der ruhenden Maſſe; furchtbar treffen des Sturmes Schläge den haftenden Schnee, und zwiſchen letzten ſchwebenden Tropfen des fließenden Waſſers ſtäuben wilde Schneewirbel; die Luft des Tales iſt Finſternis, Schnee, Waſſerſtaub ſchlagende Tannenarme und grauer Fels, die Grenze zwiſchen dem Ruhenden und dem Bewegten ſchwindet. Aber die Dunkelheit iſt lichter geworden. Aus dem wehenden Staube ſtrahlt die gebannte Kraft, und ein ganz feines, aber durchdringendes Licht ſtrahlt durch den wir- belnden Sturm. Auf dem Grunde des Tales liegt es wie ein See von ſchimmerndem Lichte; nur hier und da windet ſich der Lauf eines Baches durch die Flur, von den Wänden der Felſen aber rauſchen in wirbelnden Chaos die Gießbäche, die nimmer verrinnenden. Alles iſt hier Bewegung, ſtrahlende, ſchimmernde, kalte Fin- ſternis, und doch iſt es wie eine große, bannende Stille; nicht mehr das Plätſchern der Regenbäche, nicht mehr das harte

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 17, 2. Mai 1920, S. Seite 170[170]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine17_1920/12>, abgerufen am 21.11.2024.