Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.7. Alle die bisher erörterten Kunstprincipien müssen wir 7. Alle die bisher erörterten Kunstprincipien müssen wir <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0043" n="30"/> </div> <div n="1"> <head>7.<lb/></head> <p>Alle die bisher erörterten Kunstprincipien müssen wir<lb/> jetzt zu Hülfe nehmen, um uns in dem Labyrinth zurecht<lb/> zu finden, als welches wir <hi rendition="#i">den Ursprung der griechischen<lb/> Tragödie</hi> bezeichnen müssen. Ich denke nichts Ungereimtes<lb/> zu behaupten, wenn ich sage, dass das Problem dieses Ur¬<lb/> sprungs bis jetzt noch nicht einmal ernsthaft aufgestellt, ge¬<lb/> schweige denn gelöst ist, so oft auch die zerflatternden Fetzen<lb/> der antiken Ueberlieferung schon combinatorisch an einander<lb/> genäht und wieder aus einander gerissen sind. Diese Ueber¬<lb/> lieferung sagt uns mit voller Entschiedenheit, <hi rendition="#i">dass die Tra¬<lb/> gödie aus dem tragischen Chore entstanden ist</hi> und ursprüng¬<lb/> lich nur Chor und nichts als Chor war: woher wir die Ver¬<lb/> pflichtung nehmen, diesem tragischen Chore als dem eigent¬<lb/> lichen Urdrama in's Herz zu sehen, ohne uns an den geläu¬<lb/> figen Kunstredensarten — dass er der idealische Zuschauer<lb/> sei oder das Volk gegenüber der fürstlichen Region der<lb/> Scene zu bedeuten habe — irgendwie genügen zu lassen.<lb/> Jener zuletzt erwähnte, für manchen Politiker erhaben klingende<lb/> Erläuterungsgedanke — als ob das unwandelbare Sittenge¬<lb/> setz von den demokratischen Athenern in dem Volkschore<lb/> dargestellt sei, der über die leidenschaftlichen Ausschreitungen<lb/> und Ausschweifungen der Könige hinaus immer Recht be¬<lb/> halte — mag noch so sehr durch ein Wort des Aristoteles<lb/> nahegelegt sein: auf die ursprüngliche Formation der Tra¬<lb/> gödie ist er ohne Einfluss, da von jenen rein religiösen Ur¬<lb/> sprüngen der ganze Gegensatz von Volk und Fürst, kurz<lb/> jegliche politisch-sociale Sphäre ausgeschlossen ist; aber wir<lb/> möchten es auch in Hinsicht auf die uns bekannte classische<lb/> Form des Chors bei Aeschylus und Sophokles für Blasphemie<lb/> erachten, hier von der Ahnung einer »constitutionellen Volks¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [30/0043]
7.
Alle die bisher erörterten Kunstprincipien müssen wir
jetzt zu Hülfe nehmen, um uns in dem Labyrinth zurecht
zu finden, als welches wir den Ursprung der griechischen
Tragödie bezeichnen müssen. Ich denke nichts Ungereimtes
zu behaupten, wenn ich sage, dass das Problem dieses Ur¬
sprungs bis jetzt noch nicht einmal ernsthaft aufgestellt, ge¬
schweige denn gelöst ist, so oft auch die zerflatternden Fetzen
der antiken Ueberlieferung schon combinatorisch an einander
genäht und wieder aus einander gerissen sind. Diese Ueber¬
lieferung sagt uns mit voller Entschiedenheit, dass die Tra¬
gödie aus dem tragischen Chore entstanden ist und ursprüng¬
lich nur Chor und nichts als Chor war: woher wir die Ver¬
pflichtung nehmen, diesem tragischen Chore als dem eigent¬
lichen Urdrama in's Herz zu sehen, ohne uns an den geläu¬
figen Kunstredensarten — dass er der idealische Zuschauer
sei oder das Volk gegenüber der fürstlichen Region der
Scene zu bedeuten habe — irgendwie genügen zu lassen.
Jener zuletzt erwähnte, für manchen Politiker erhaben klingende
Erläuterungsgedanke — als ob das unwandelbare Sittenge¬
setz von den demokratischen Athenern in dem Volkschore
dargestellt sei, der über die leidenschaftlichen Ausschreitungen
und Ausschweifungen der Könige hinaus immer Recht be¬
halte — mag noch so sehr durch ein Wort des Aristoteles
nahegelegt sein: auf die ursprüngliche Formation der Tra¬
gödie ist er ohne Einfluss, da von jenen rein religiösen Ur¬
sprüngen der ganze Gegensatz von Volk und Fürst, kurz
jegliche politisch-sociale Sphäre ausgeschlossen ist; aber wir
möchten es auch in Hinsicht auf die uns bekannte classische
Form des Chors bei Aeschylus und Sophokles für Blasphemie
erachten, hier von der Ahnung einer »constitutionellen Volks¬
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