Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.vor seinen Consequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht 19. Man kann den innersten Gehalt dieser sokratischen Cultur vor seinen Consequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht 19. Man kann den innersten Gehalt dieser sokratischen Cultur <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0117" n="104"/> vor seinen Consequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht<lb/> mehr wagt sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzu¬<lb/> vertrauen: ängstlich läuft er am Ufer auf und ab. Er will<lb/> nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der natürlichen<lb/> Grausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das optimistische<lb/> Betrachten verzärtelt. Dazu fühlt er, wie eine Cultur, die<lb/> auf dem Princip der Wissenschaft aufgebaut ist, zu Grunde<lb/> gehen muss, wenn sie anfängt, <hi rendition="#i">unlogisch</hi> zu werden d. h.<lb/> vor ihren Consequenzen zurück zu fliehen. Unsere Kunst<lb/> offenbart diese allgemeine Noth: umsonst dass man sich an<lb/> alle grossen productiven Perioden und Naturen imitatorisch<lb/> anlehnt, umsonst dass man die ganze »Weltlitteratur« zum<lb/> Troste des modernen Menschen um ihn versammelt und ihn<lb/> mitten unter die Kunststile und Künstler aller Zeiten hinstellt,<lb/> damit er ihnen, wie Adam den Thieren, einen Namen gebe:<lb/> er bleibt doch der ewig Hungernde, der »Kritiker« ohne Lust<lb/> und Kraft, der alexandrinische Mensch, der im Grunde Biblio¬<lb/> thekar und Corrector ist und an Bücherstaub und Druckfehlern<lb/> elend erblindet.</p><lb/> </div> <div n="1"> <head>19.<lb/></head> <p>Man kann den innersten Gehalt dieser sokratischen Cultur<lb/> nicht schärfer bezeichnen als wenn man sie <hi rendition="#i">die Cultur der Oper</hi><lb/> nennt: denn auf diesem Gebiete hat sich diese Cultur mit<lb/> eigener Naivetät über ihr Wollen und Erkennen ausgesprochen,<lb/> zu unserer Verwunderung, wenn wir die Genesis der Oper<lb/> und die Thatsachen der Opernentwicklung mit den ewigen<lb/> Wahrheiten des Apollinischen und des Dionysischen zusam¬<lb/> menhalten. Ich erinnere zunächst an die Entstehung des<lb/> stilo rappresentativo und des Recitativs. Ist es glaublich, dass<lb/> diese gänzlich veräusserlichte, der Andacht unfähige Musik<lb/> der Oper von einer Zeit mit schwärmerischer Gunst, gleich¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [104/0117]
vor seinen Consequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht
mehr wagt sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzu¬
vertrauen: ängstlich läuft er am Ufer auf und ab. Er will
nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der natürlichen
Grausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das optimistische
Betrachten verzärtelt. Dazu fühlt er, wie eine Cultur, die
auf dem Princip der Wissenschaft aufgebaut ist, zu Grunde
gehen muss, wenn sie anfängt, unlogisch zu werden d. h.
vor ihren Consequenzen zurück zu fliehen. Unsere Kunst
offenbart diese allgemeine Noth: umsonst dass man sich an
alle grossen productiven Perioden und Naturen imitatorisch
anlehnt, umsonst dass man die ganze »Weltlitteratur« zum
Troste des modernen Menschen um ihn versammelt und ihn
mitten unter die Kunststile und Künstler aller Zeiten hinstellt,
damit er ihnen, wie Adam den Thieren, einen Namen gebe:
er bleibt doch der ewig Hungernde, der »Kritiker« ohne Lust
und Kraft, der alexandrinische Mensch, der im Grunde Biblio¬
thekar und Corrector ist und an Bücherstaub und Druckfehlern
elend erblindet.
19.
Man kann den innersten Gehalt dieser sokratischen Cultur
nicht schärfer bezeichnen als wenn man sie die Cultur der Oper
nennt: denn auf diesem Gebiete hat sich diese Cultur mit
eigener Naivetät über ihr Wollen und Erkennen ausgesprochen,
zu unserer Verwunderung, wenn wir die Genesis der Oper
und die Thatsachen der Opernentwicklung mit den ewigen
Wahrheiten des Apollinischen und des Dionysischen zusam¬
menhalten. Ich erinnere zunächst an die Entstehung des
stilo rappresentativo und des Recitativs. Ist es glaublich, dass
diese gänzlich veräusserlichte, der Andacht unfähige Musik
der Oper von einer Zeit mit schwärmerischer Gunst, gleich¬
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