Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 3. Berlin u. a., 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



"derlich sind, wenn Gottes Gnade nicht viel weiter
"gehet, als die Einsichten die ich aus seinem Worte
"schöpfen kann. Dieß getraue ich mir aber, nicht zu
"bestimmen. Sey also Gotte und deinem Gewissen
"überlassen. Und nun? Warum sollte ich dich nicht
"lieben, wenn du sonst Liebe verdienst? Jch sagte
"vorher, wenn mein Sohn, dessen Tod ich beweine,
"bloß verirrt wäre, und endlich wieder zu mir käme,
"würde ich ihm vergeben, und ihn zu bessern suchen.
"So denke ich auch gegen jeden verirrten Glaubens-
"bruder, so gewiß denke ich so, als ich wünsche, daß
"jeder Glaubensbruder, wenn ich mich verirre, ge-
"gen mich so denke. Auch dich, Freund! sehe ich als
"meinen Bruder an! Nicht dieser ganze Welttheil
"hat dich verstossen, hier ist noch ein Ort, und er ist
"hoffentlich nicht der einzige, wo Einfalt der Sitten,
"Eintracht und Gastfreundschaft herrschen. Bleib
"bey mir, mein Bruder! Mein Haus ist das dei-
"nige, und meinen Bissen theile ich mit dir, so lange
"ich selbst noch einen Bissen habe.'

Hiemit schloß er ihn in seine Arme, und Sebaldus,
seiner Uebereilung halber beschämt, vor freudigem Er-
staunen stumm, konnte nur durch Thränen antworten.

Der Prediger hielt redlich, was er versprochen hatte.
Er nahm den Sebaldus in sein Haus auf, er ver-

sahe



„derlich ſind, wenn Gottes Gnade nicht viel weiter
„gehet, als die Einſichten die ich aus ſeinem Worte
„ſchoͤpfen kann. Dieß getraue ich mir aber, nicht zu
„beſtimmen. Sey alſo Gotte und deinem Gewiſſen
„uͤberlaſſen. Und nun? Warum ſollte ich dich nicht
„lieben, wenn du ſonſt Liebe verdienſt? Jch ſagte
„vorher, wenn mein Sohn, deſſen Tod ich beweine,
„bloß verirrt waͤre, und endlich wieder zu mir kaͤme,
„wuͤrde ich ihm vergeben, und ihn zu beſſern ſuchen.
„So denke ich auch gegen jeden verirrten Glaubens-
„bruder, ſo gewiß denke ich ſo, als ich wuͤnſche, daß
„jeder Glaubensbruder, wenn ich mich verirre, ge-
„gen mich ſo denke. Auch dich, Freund! ſehe ich als
„meinen Bruder an! Nicht dieſer ganze Welttheil
„hat dich verſtoſſen, hier iſt noch ein Ort, und er iſt
„hoffentlich nicht der einzige, wo Einfalt der Sitten,
„Eintracht und Gaſtfreundſchaft herrſchen. Bleib
„bey mir, mein Bruder! Mein Haus iſt das dei-
„nige, und meinen Biſſen theile ich mit dir, ſo lange
„ich ſelbſt noch einen Biſſen habe.‛

Hiemit ſchloß er ihn in ſeine Arme, und Sebaldus,
ſeiner Uebereilung halber beſchaͤmt, vor freudigem Er-
ſtaunen ſtumm, konnte nur durch Thraͤnen antworten.

Der Prediger hielt redlich, was er verſprochen hatte.
Er nahm den Sebaldus in ſein Haus auf, er ver-

ſahe
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0022" n="14[13]"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
&#x201E;derlich &#x017F;ind, wenn Gottes Gnade nicht viel weiter<lb/>
&#x201E;gehet, als die Ein&#x017F;ichten die ich aus &#x017F;einem Worte<lb/>
&#x201E;&#x017F;cho&#x0364;pfen kann. Dieß getraue ich mir aber, nicht zu<lb/>
&#x201E;be&#x017F;timmen. Sey al&#x017F;o Gotte und deinem Gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
&#x201E;u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en. Und nun? Warum &#x017F;ollte ich dich nicht<lb/>
&#x201E;lieben, wenn du &#x017F;on&#x017F;t Liebe verdien&#x017F;t? Jch &#x017F;agte<lb/>
&#x201E;vorher, wenn mein Sohn, de&#x017F;&#x017F;en Tod ich beweine,<lb/>
&#x201E;bloß verirrt wa&#x0364;re, und endlich wieder zu mir ka&#x0364;me,<lb/>
&#x201E;wu&#x0364;rde ich ihm vergeben, und ihn zu be&#x017F;&#x017F;ern &#x017F;uchen.<lb/>
&#x201E;So denke ich auch gegen jeden verirrten Glaubens-<lb/>
&#x201E;bruder, &#x017F;o gewiß denke ich &#x017F;o, als ich wu&#x0364;n&#x017F;che, daß<lb/>
&#x201E;jeder Glaubensbruder, wenn ich mich verirre, ge-<lb/>
&#x201E;gen mich &#x017F;o denke. Auch dich, Freund! &#x017F;ehe ich als<lb/>
&#x201E;meinen Bruder an! Nicht die&#x017F;er ganze Welttheil<lb/>
&#x201E;hat dich ver&#x017F;to&#x017F;&#x017F;en, hier i&#x017F;t noch ein Ort, und er i&#x017F;t<lb/>
&#x201E;hoffentlich nicht der einzige, wo Einfalt der Sitten,<lb/>
&#x201E;Eintracht und Ga&#x017F;tfreund&#x017F;chaft herr&#x017F;chen. Bleib<lb/>
&#x201E;bey mir, mein Bruder! Mein Haus i&#x017F;t das dei-<lb/>
&#x201E;nige, und meinen Bi&#x017F;&#x017F;en theile ich mit dir, &#x017F;o lange<lb/>
&#x201E;ich &#x017F;elb&#x017F;t noch einen Bi&#x017F;&#x017F;en habe.&#x201B;</p><lb/>
          <p>Hiemit &#x017F;chloß er ihn in &#x017F;eine Arme, und <hi rendition="#fr">Sebaldus,</hi><lb/>
&#x017F;einer Uebereilung halber be&#x017F;cha&#x0364;mt, vor freudigem Er-<lb/>
&#x017F;taunen &#x017F;tumm, konnte nur durch Thra&#x0364;nen antworten.</p><lb/>
          <p>Der Prediger hielt redlich, was er ver&#x017F;prochen hatte.<lb/>
Er nahm den <hi rendition="#fr">Sebaldus</hi> in &#x017F;ein Haus auf, er ver-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ahe</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[14[13]/0022] „derlich ſind, wenn Gottes Gnade nicht viel weiter „gehet, als die Einſichten die ich aus ſeinem Worte „ſchoͤpfen kann. Dieß getraue ich mir aber, nicht zu „beſtimmen. Sey alſo Gotte und deinem Gewiſſen „uͤberlaſſen. Und nun? Warum ſollte ich dich nicht „lieben, wenn du ſonſt Liebe verdienſt? Jch ſagte „vorher, wenn mein Sohn, deſſen Tod ich beweine, „bloß verirrt waͤre, und endlich wieder zu mir kaͤme, „wuͤrde ich ihm vergeben, und ihn zu beſſern ſuchen. „So denke ich auch gegen jeden verirrten Glaubens- „bruder, ſo gewiß denke ich ſo, als ich wuͤnſche, daß „jeder Glaubensbruder, wenn ich mich verirre, ge- „gen mich ſo denke. Auch dich, Freund! ſehe ich als „meinen Bruder an! Nicht dieſer ganze Welttheil „hat dich verſtoſſen, hier iſt noch ein Ort, und er iſt „hoffentlich nicht der einzige, wo Einfalt der Sitten, „Eintracht und Gaſtfreundſchaft herrſchen. Bleib „bey mir, mein Bruder! Mein Haus iſt das dei- „nige, und meinen Biſſen theile ich mit dir, ſo lange „ich ſelbſt noch einen Biſſen habe.‛ Hiemit ſchloß er ihn in ſeine Arme, und Sebaldus, ſeiner Uebereilung halber beſchaͤmt, vor freudigem Er- ſtaunen ſtumm, konnte nur durch Thraͤnen antworten. Der Prediger hielt redlich, was er verſprochen hatte. Er nahm den Sebaldus in ſein Haus auf, er ver- ſahe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker03_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker03_1776/22
Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 3. Berlin u. a., 1776, S. 14[13]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker03_1776/22>, abgerufen am 26.04.2024.