Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite



Gebet bey Tische für eine christliche Pflicht, ob ich gleich
nicht abergläubisch darüber denke. Es ist nichts billiger, als
daß man auch bey dem Genusse der Speise und des Tranks
seine Gedanken auf den gütigen Geber dieser Bedürfnisse
mit Dankbarkeit richte. Jch habe es mir deswegen seit eini-
ger Zeit zum Gesetz gemacht bey Tische zu beten. Aber die
Gewalt meiner alten Gewohnheit ist noch so stark gewesen,
daß ich mehrentheils, wenn meine Mahlzeit gekommen ist
angefangen habe zu essen, ohne gebetet zu haben. Nun ist
es freylich an sich einerley, ob man vor dem ersten oder
beym dritten oder vierten Löffel der Suppe an Gott denkt:
aber es hat mich doch sehr auf mich und meine leichtsin-
nige Gewohnheit verdrossen, daß ich nicht aufmerksamer
auf das gewesen bin, was ich für meine Pflicht halte. --
Wie gefällt meinen Lesern diese Gewissenhaftigkeit des
Mannes, der sich sonst alles erlaubte, wozu ihn seine Be-
gierden trieben?

Sieben und dreißigste Unterredung, den
27sten April.

Jch fand ihn in aller der ungekünstelten Stille der Seele,
die ich seit verschiedenen Wochen bey ihm gewohnt war,
[die mir a]ber in dieser Nähe eines solchen Todes immer ehr-
würdiger ward. Wie preis ich Gott in meinem Herzen, der
an dem unglücklichen Manne so große Barmherzigkeit that!
Wie wünschte ich, daß ich doch nicht der einzige Sterbliche
seyn möchte, der ihn mit solcher Ruhe über seinen Tod
reden hörte!

Er hatte noch einen Brief an den Bruder seines mit
ihm unglücklichen Freundes, den Herrn Kammerherrn
von Brandt geschrieben, den er mir zustellte. Einige andre
Aufsätze von seiner Hand wurden in ein Couvert gelegt,
und in seiner Gegenwart von dem Herrn Commendanten,
der deswegen noch einmahl so gütig gewesen war zu uns zu
kommen, und von mir versiegelt. Die übrigen Papiere,

die
R 5



Gebet bey Tiſche fuͤr eine chriſtliche Pflicht, ob ich gleich
nicht aberglaͤubiſch daruͤber denke. Es iſt nichts billiger, als
daß man auch bey dem Genuſſe der Speiſe und des Tranks
ſeine Gedanken auf den guͤtigen Geber dieſer Beduͤrfniſſe
mit Dankbarkeit richte. Jch habe es mir deswegen ſeit eini-
ger Zeit zum Geſetz gemacht bey Tiſche zu beten. Aber die
Gewalt meiner alten Gewohnheit iſt noch ſo ſtark geweſen,
daß ich mehrentheils, wenn meine Mahlzeit gekommen iſt
angefangen habe zu eſſen, ohne gebetet zu haben. Nun iſt
es freylich an ſich einerley, ob man vor dem erſten oder
beym dritten oder vierten Loͤffel der Suppe an Gott denkt:
aber es hat mich doch ſehr auf mich und meine leichtſin-
nige Gewohnheit verdroſſen, daß ich nicht aufmerkſamer
auf das geweſen bin, was ich fuͤr meine Pflicht halte. —
Wie gefaͤllt meinen Leſern dieſe Gewiſſenhaftigkeit des
Mannes, der ſich ſonſt alles erlaubte, wozu ihn ſeine Be-
gierden trieben?

Sieben und dreißigſte Unterredung, den
27ſten April.

Jch fand ihn in aller der ungekuͤnſtelten Stille der Seele,
die ich ſeit verſchiedenen Wochen bey ihm gewohnt war,
[die mir a]ber in dieſer Naͤhe eines ſolchen Todes immer ehr-
wuͤrdiger ward. Wie preis ich Gott in meinem Herzen, der
an dem ungluͤcklichen Manne ſo große Barmherzigkeit that!
Wie wuͤnſchte ich, daß ich doch nicht der einzige Sterbliche
ſeyn moͤchte, der ihn mit ſolcher Ruhe uͤber ſeinen Tod
reden hoͤrte!

Er hatte noch einen Brief an den Bruder ſeines mit
ihm ungluͤcklichen Freundes, den Herrn Kammerherrn
von Brandt geſchrieben, den er mir zuſtellte. Einige andre
Aufſaͤtze von ſeiner Hand wurden in ein Couvert gelegt,
und in ſeiner Gegenwart von dem Herrn Commendanten,
der deswegen noch einmahl ſo guͤtig geweſen war zu uns zu
kommen, und von mir verſiegelt. Die uͤbrigen Papiere,

die
R 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0277" n="265"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Gebet bey Ti&#x017F;che fu&#x0364;r eine chri&#x017F;tliche Pflicht, ob ich gleich<lb/>
nicht abergla&#x0364;ubi&#x017F;ch daru&#x0364;ber denke. Es i&#x017F;t nichts billiger, als<lb/>
daß man auch bey dem Genu&#x017F;&#x017F;e der Spei&#x017F;e und des Tranks<lb/>
&#x017F;eine Gedanken auf den gu&#x0364;tigen Geber die&#x017F;er Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
mit Dankbarkeit richte. Jch habe es mir deswegen &#x017F;eit eini-<lb/>
ger Zeit zum Ge&#x017F;etz gemacht bey Ti&#x017F;che zu beten. Aber die<lb/>
Gewalt meiner alten Gewohnheit i&#x017F;t noch &#x017F;o &#x017F;tark gewe&#x017F;en,<lb/>
daß ich mehrentheils, wenn meine Mahlzeit gekommen i&#x017F;t<lb/>
angefangen habe zu e&#x017F;&#x017F;en, ohne gebetet zu haben. Nun i&#x017F;t<lb/>
es freylich an &#x017F;ich einerley, ob man vor dem er&#x017F;ten oder<lb/>
beym dritten oder vierten Lo&#x0364;ffel der Suppe an Gott denkt:<lb/>
aber es hat mich doch &#x017F;ehr auf mich und meine leicht&#x017F;in-<lb/>
nige Gewohnheit verdro&#x017F;&#x017F;en, daß ich nicht aufmerk&#x017F;amer<lb/>
auf das gewe&#x017F;en bin, was ich fu&#x0364;r meine Pflicht halte. &#x2014;<lb/>
Wie gefa&#x0364;llt meinen Le&#x017F;ern die&#x017F;e Gewi&#x017F;&#x017F;enhaftigkeit des<lb/>
Mannes, der &#x017F;ich &#x017F;on&#x017F;t alles erlaubte, wozu ihn &#x017F;eine Be-<lb/>
gierden trieben?</p>
      </div><lb/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">Sieben und dreißig&#x017F;te Unterredung, den<lb/>
27&#x017F;ten April.</hi> </head><lb/>
        <p><hi rendition="#in">J</hi>ch fand ihn in aller der ungeku&#x0364;n&#x017F;telten Stille der Seele,<lb/>
die ich &#x017F;eit ver&#x017F;chiedenen Wochen bey ihm gewohnt war,<lb/><supplied>die mir a</supplied>ber in die&#x017F;er Na&#x0364;he eines &#x017F;olchen Todes immer ehr-<lb/>
wu&#x0364;rdiger ward. Wie preis ich Gott in meinem Herzen, der<lb/>
an dem unglu&#x0364;cklichen Manne &#x017F;o große Barmherzigkeit that!<lb/>
Wie wu&#x0364;n&#x017F;chte ich, daß ich doch nicht der einzige Sterbliche<lb/>
&#x017F;eyn mo&#x0364;chte, der ihn mit &#x017F;olcher Ruhe u&#x0364;ber &#x017F;einen Tod<lb/>
reden ho&#x0364;rte!</p><lb/>
        <p>Er hatte noch einen Brief an den Bruder &#x017F;eines mit<lb/>
ihm unglu&#x0364;cklichen Freundes, den Herrn Kammerherrn<lb/>
von Brandt ge&#x017F;chrieben, den er mir zu&#x017F;tellte. Einige andre<lb/>
Auf&#x017F;a&#x0364;tze von &#x017F;einer Hand wurden in ein Couvert gelegt,<lb/>
und in &#x017F;einer Gegenwart von dem Herrn Commendanten,<lb/>
der deswegen noch einmahl &#x017F;o gu&#x0364;tig gewe&#x017F;en war zu uns zu<lb/>
kommen, und von mir ver&#x017F;iegelt. Die u&#x0364;brigen Papiere,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">R 5</fw><fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[265/0277] Gebet bey Tiſche fuͤr eine chriſtliche Pflicht, ob ich gleich nicht aberglaͤubiſch daruͤber denke. Es iſt nichts billiger, als daß man auch bey dem Genuſſe der Speiſe und des Tranks ſeine Gedanken auf den guͤtigen Geber dieſer Beduͤrfniſſe mit Dankbarkeit richte. Jch habe es mir deswegen ſeit eini- ger Zeit zum Geſetz gemacht bey Tiſche zu beten. Aber die Gewalt meiner alten Gewohnheit iſt noch ſo ſtark geweſen, daß ich mehrentheils, wenn meine Mahlzeit gekommen iſt angefangen habe zu eſſen, ohne gebetet zu haben. Nun iſt es freylich an ſich einerley, ob man vor dem erſten oder beym dritten oder vierten Loͤffel der Suppe an Gott denkt: aber es hat mich doch ſehr auf mich und meine leichtſin- nige Gewohnheit verdroſſen, daß ich nicht aufmerkſamer auf das geweſen bin, was ich fuͤr meine Pflicht halte. — Wie gefaͤllt meinen Leſern dieſe Gewiſſenhaftigkeit des Mannes, der ſich ſonſt alles erlaubte, wozu ihn ſeine Be- gierden trieben? Sieben und dreißigſte Unterredung, den 27ſten April. Jch fand ihn in aller der ungekuͤnſtelten Stille der Seele, die ich ſeit verſchiedenen Wochen bey ihm gewohnt war, die mir aber in dieſer Naͤhe eines ſolchen Todes immer ehr- wuͤrdiger ward. Wie preis ich Gott in meinem Herzen, der an dem ungluͤcklichen Manne ſo große Barmherzigkeit that! Wie wuͤnſchte ich, daß ich doch nicht der einzige Sterbliche ſeyn moͤchte, der ihn mit ſolcher Ruhe uͤber ſeinen Tod reden hoͤrte! Er hatte noch einen Brief an den Bruder ſeines mit ihm ungluͤcklichen Freundes, den Herrn Kammerherrn von Brandt geſchrieben, den er mir zuſtellte. Einige andre Aufſaͤtze von ſeiner Hand wurden in ein Couvert gelegt, und in ſeiner Gegenwart von dem Herrn Commendanten, der deswegen noch einmahl ſo guͤtig geweſen war zu uns zu kommen, und von mir verſiegelt. Die uͤbrigen Papiere, die R 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/277
Zitationshilfe: Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/277>, abgerufen am 21.12.2024.