419. Die Griechische Kunst ist in ihrem Wesen so1 sehr eine freie Produktion aus dem Innern heraus, und hängt in ihrer geschichtlichen Entwickelung so sehr mit Religion, Mythologie und Poesie zusammen, daß die Darstellung des äußern erfahrungsmäßigen Lebens im- mer nur eine untergeordnete Stelle in ihr einnehmen konnte. Und auch, wo das wirkliche Leben dem Künst- ler den Stoff giebt, sind Darstellungen allgemeiner Art weit gewöhnlicher als die einzelner Fakta. In Griechen-2 land gab das Zusammenfallen der Entwickelung der Mah- lerei mit den Perserkriegen, so wie der geringere Zusammen- hang derselben mit dem Cultus (§. 73, 1.), diesem Kunst- zweige mehr die Richtung auf Verherrlichung historischer Be- gebenheiten, siegreicher Kämpfe der Gegenwart (§. 135, 2. 140, 5.); auch das Leben der Weisen und Poeten wurde in diesen Kreis gezogen. In plastischen Kunstwerken3 sind, wenn man von der Andeutung geschichtlicher Ereig- nisse durch die Wahl der Mythen (§. 89, 3) absieht, hi- storische Darstellungen vor Alexander sehr selten. Häu-4 figer wurden sie bei den Römern, wo an Triumphbögen und Ehrensäulen große Kriegszüge der Kaiserzeit vollstän- dig entwickelt, und auf den Münzen, um der Eitelkeit der Geschlechter zu schmeicheln, auch Begebenheiten theils der königlichen theils der republikanischen Zeit in ziemli- cher Anzahl dargestellt werden; doch finden sich auch in5 Rom historische Gegenstände außer diesem Kreise von Denkmälern selten. Die Apotheosen kann man kaum zu den6 historischen Begebenheiten rechnen, sie bilden wenigstens
II. Bildende Kunſt. Gegenſtaͤnde.
II. Gegenſtaͤnde des wirklichen Lebens.
A. Individueller Art.
1. Hiſtoriſche Darſtellungen.
419. Die Griechiſche Kunſt iſt in ihrem Weſen ſo1 ſehr eine freie Produktion aus dem Innern heraus, und haͤngt in ihrer geſchichtlichen Entwickelung ſo ſehr mit Religion, Mythologie und Poeſie zuſammen, daß die Darſtellung des aͤußern erfahrungsmaͤßigen Lebens im- mer nur eine untergeordnete Stelle in ihr einnehmen konnte. Und auch, wo das wirkliche Leben dem Kuͤnſt- ler den Stoff giebt, ſind Darſtellungen allgemeiner Art weit gewoͤhnlicher als die einzelner Fakta. In Griechen-2 land gab das Zuſammenfallen der Entwickelung der Mah- lerei mit den Perſerkriegen, ſo wie der geringere Zuſammen- hang derſelben mit dem Cultus (§. 73, 1.), dieſem Kunſt- zweige mehr die Richtung auf Verherrlichung hiſtoriſcher Be- gebenheiten, ſiegreicher Kaͤmpfe der Gegenwart (§. 135, 2. 140, 5.); auch das Leben der Weiſen und Poeten wurde in dieſen Kreis gezogen. In plaſtiſchen Kunſtwerken3 ſind, wenn man von der Andeutung geſchichtlicher Ereig- niſſe durch die Wahl der Mythen (§. 89, 3) abſieht, hi- ſtoriſche Darſtellungen vor Alexander ſehr ſelten. Haͤu-4 figer wurden ſie bei den Roͤmern, wo an Triumphboͤgen und Ehrenſaͤulen große Kriegszuͤge der Kaiſerzeit vollſtaͤn- dig entwickelt, und auf den Muͤnzen, um der Eitelkeit der Geſchlechter zu ſchmeicheln, auch Begebenheiten theils der koͤniglichen theils der republikaniſchen Zeit in ziemli- cher Anzahl dargeſtellt werden; doch finden ſich auch in5 Rom hiſtoriſche Gegenſtaͤnde außer dieſem Kreiſe von Denkmaͤlern ſelten. Die Apotheoſen kann man kaum zu den6 hiſtoriſchen Begebenheiten rechnen, ſie bilden wenigſtens
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0603"n="581"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">II.</hi> Bildende Kunſt. Gegenſtaͤnde.</fw><lb/><divn="5"><head><hirendition="#b"><hirendition="#aq">II.</hi> Gegenſtaͤnde des wirklichen Lebens.</hi></head><lb/><divn="6"><head><hirendition="#aq">A.</hi> Individueller Art.</head><lb/><divn="7"><head>1. Hiſtoriſche Darſtellungen.</head><lb/><p>419. Die Griechiſche Kunſt iſt in ihrem Weſen ſo<noteplace="right">1</note><lb/>ſehr eine freie Produktion aus dem Innern heraus, und<lb/>
haͤngt in ihrer geſchichtlichen Entwickelung ſo ſehr mit<lb/>
Religion, Mythologie und Poeſie zuſammen, daß die<lb/>
Darſtellung des aͤußern erfahrungsmaͤßigen Lebens im-<lb/>
mer nur eine untergeordnete Stelle in ihr einnehmen<lb/>
konnte. Und auch, wo das wirkliche Leben dem Kuͤnſt-<lb/>
ler den Stoff giebt, ſind Darſtellungen allgemeiner Art<lb/>
weit gewoͤhnlicher als die einzelner Fakta. In Griechen-<noteplace="right">2</note><lb/>
land gab das Zuſammenfallen der Entwickelung der Mah-<lb/>
lerei mit den Perſerkriegen, ſo wie der geringere Zuſammen-<lb/>
hang derſelben mit dem Cultus (§. 73, 1.), dieſem Kunſt-<lb/>
zweige mehr die Richtung auf Verherrlichung hiſtoriſcher Be-<lb/>
gebenheiten, ſiegreicher Kaͤmpfe der Gegenwart (§. 135, 2.<lb/>
140, 5.); auch das Leben der Weiſen und Poeten wurde<lb/>
in dieſen Kreis gezogen. In plaſtiſchen Kunſtwerken<noteplace="right">3</note><lb/>ſind, wenn man von der Andeutung geſchichtlicher Ereig-<lb/>
niſſe durch die Wahl der Mythen (§. 89, 3) abſieht, hi-<lb/>ſtoriſche Darſtellungen vor Alexander ſehr ſelten. Haͤu-<noteplace="right">4</note><lb/>
figer wurden ſie bei den Roͤmern, wo an Triumphboͤgen<lb/>
und Ehrenſaͤulen große Kriegszuͤge der Kaiſerzeit vollſtaͤn-<lb/>
dig entwickelt, und auf den Muͤnzen, um der Eitelkeit<lb/>
der Geſchlechter zu ſchmeicheln, auch Begebenheiten theils<lb/>
der koͤniglichen theils der republikaniſchen Zeit in ziemli-<lb/>
cher Anzahl dargeſtellt werden; doch finden ſich auch in<noteplace="right">5</note><lb/>
Rom hiſtoriſche Gegenſtaͤnde außer dieſem Kreiſe von<lb/>
Denkmaͤlern ſelten. Die Apotheoſen kann man kaum zu den<noteplace="right">6</note><lb/>
hiſtoriſchen Begebenheiten rechnen, ſie bilden wenigſtens<lb/></p></div></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[581/0603]
II. Bildende Kunſt. Gegenſtaͤnde.
II. Gegenſtaͤnde des wirklichen Lebens.
A. Individueller Art.
1. Hiſtoriſche Darſtellungen.
419. Die Griechiſche Kunſt iſt in ihrem Weſen ſo
ſehr eine freie Produktion aus dem Innern heraus, und
haͤngt in ihrer geſchichtlichen Entwickelung ſo ſehr mit
Religion, Mythologie und Poeſie zuſammen, daß die
Darſtellung des aͤußern erfahrungsmaͤßigen Lebens im-
mer nur eine untergeordnete Stelle in ihr einnehmen
konnte. Und auch, wo das wirkliche Leben dem Kuͤnſt-
ler den Stoff giebt, ſind Darſtellungen allgemeiner Art
weit gewoͤhnlicher als die einzelner Fakta. In Griechen-
land gab das Zuſammenfallen der Entwickelung der Mah-
lerei mit den Perſerkriegen, ſo wie der geringere Zuſammen-
hang derſelben mit dem Cultus (§. 73, 1.), dieſem Kunſt-
zweige mehr die Richtung auf Verherrlichung hiſtoriſcher Be-
gebenheiten, ſiegreicher Kaͤmpfe der Gegenwart (§. 135, 2.
140, 5.); auch das Leben der Weiſen und Poeten wurde
in dieſen Kreis gezogen. In plaſtiſchen Kunſtwerken
ſind, wenn man von der Andeutung geſchichtlicher Ereig-
niſſe durch die Wahl der Mythen (§. 89, 3) abſieht, hi-
ſtoriſche Darſtellungen vor Alexander ſehr ſelten. Haͤu-
figer wurden ſie bei den Roͤmern, wo an Triumphboͤgen
und Ehrenſaͤulen große Kriegszuͤge der Kaiſerzeit vollſtaͤn-
dig entwickelt, und auf den Muͤnzen, um der Eitelkeit
der Geſchlechter zu ſchmeicheln, auch Begebenheiten theils
der koͤniglichen theils der republikaniſchen Zeit in ziemli-
cher Anzahl dargeſtellt werden; doch finden ſich auch in
Rom hiſtoriſche Gegenſtaͤnde außer dieſem Kreiſe von
Denkmaͤlern ſelten. Die Apotheoſen kann man kaum zu den
hiſtoriſchen Begebenheiten rechnen, ſie bilden wenigſtens
1
2
3
4
5
6
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 581. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/603>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.