410. In der höchsten Potenz erscheint das Heroen-Ideal1 ausgeprägt in Herakles, der vor allen Hellenischer Na- tionalheld war. Durch Anstrengung gestählte und be- währte Kraft ist der Hauptzug. Schon in den oft2 überaus edlen und anmuthigen Bildungen des jugendli- chen Herakles meldet sich diese in der gewaltigen Stärke der Nackenmuskeln (§. 331, 2), den dichten kurzen Locken des kleinen Hauptes (§. 330, 2.), den verhältnißmäßig kleinen Augen, der vorgedrängten mächtigen Unterstirn, und der Form sämmtlicher Gliedmaßen. Deutlicher3 aber tritt der Charakter des Vollenders ungeheurer Kämpfe, des mühbeladnen (aerumnosus) Heros in der gereiften Gestalt hervor, wie sie besonders Lysippos (§. 129.) ausbil- dete, in den aufgehügelten durch unendliche Arbeit hervorge- triebnen Muskel-Lagen, den mächtigen Schenkeln, Schul- tern, Armen, Brust und Rücken, so wie in den ernsten Zügen des zusammengedrängten Antlitzes, in denen der Eindruck, welchen Mühe und Arbeit gemacht, auch durch eine vorübergehende Ruhe nicht aufgehoben wird. Beide4 Gestalten lassen sich nun in einem fast unübersehbaren Cyklus von Abentheuern und Kämpfen nachweisen, und die Entwickelung des Heros von dem schlangenbändigenden Kinde aus durch alle Ereignisse des Lebens hindurch ver- folgen. Für die besonders viel gebildeten Zwölfkämpfe, deren Zahl sich indeß erst spät und deren Bestand sich nie völlig gleichmäßig feststellte, bildeten sich zeitig gewisse beliebte Darstellungsweisen, doch für manche mehrere, nach Gegenden und Zeiten verschieden gebrauchte. Von der5 Unzahl anderer Thaten findet man die Giganten-Erle- gung besonders auf Vasen alten Styls; von dem mehr- fach wiederkehrenden Kentaurenkampf kommen hier auch we- niger bekannte Sagengestalten vor. Die eigentlichen6 Kriegsthaten wurden weniger Gegenstand der bildenden Kunst als der ältern Poesie; daher auch von dem Hesio-
II. Bildende Kunſt. Gegenſtaͤnde.
1. Herakles.
410. In der hoͤchſten Potenz erſcheint das Heroen-Ideal1 ausgepraͤgt in Herakles, der vor allen Helleniſcher Na- tionalheld war. Durch Anſtrengung geſtaͤhlte und be- waͤhrte Kraft iſt der Hauptzug. Schon in den oft2 uͤberaus edlen und anmuthigen Bildungen des jugendli- chen Herakles meldet ſich dieſe in der gewaltigen Staͤrke der Nackenmuskeln (§. 331, 2), den dichten kurzen Locken des kleinen Hauptes (§. 330, 2.), den verhaͤltnißmaͤßig kleinen Augen, der vorgedraͤngten maͤchtigen Unterſtirn, und der Form ſaͤmmtlicher Gliedmaßen. Deutlicher3 aber tritt der Charakter des Vollenders ungeheurer Kaͤmpfe, des muͤhbeladnen (aerumnosus) Heros in der gereiften Geſtalt hervor, wie ſie beſonders Lyſippos (§. 129.) ausbil- dete, in den aufgehuͤgelten durch unendliche Arbeit hervorge- triebnen Muskel-Lagen, den maͤchtigen Schenkeln, Schul- tern, Armen, Bruſt und Ruͤcken, ſo wie in den ernſten Zuͤgen des zuſammengedraͤngten Antlitzes, in denen der Eindruck, welchen Muͤhe und Arbeit gemacht, auch durch eine voruͤbergehende Ruhe nicht aufgehoben wird. Beide4 Geſtalten laſſen ſich nun in einem faſt unuͤberſehbaren Cyklus von Abentheuern und Kaͤmpfen nachweiſen, und die Entwickelung des Heros von dem ſchlangenbaͤndigenden Kinde aus durch alle Ereigniſſe des Lebens hindurch ver- folgen. Fuͤr die beſonders viel gebildeten Zwoͤlfkaͤmpfe, deren Zahl ſich indeß erſt ſpaͤt und deren Beſtand ſich nie voͤllig gleichmaͤßig feſtſtellte, bildeten ſich zeitig gewiſſe beliebte Darſtellungsweiſen, doch fuͤr manche mehrere, nach Gegenden und Zeiten verſchieden gebrauchte. Von der5 Unzahl anderer Thaten findet man die Giganten-Erle- gung beſonders auf Vaſen alten Styls; von dem mehr- fach wiederkehrenden Kentaurenkampf kommen hier auch we- niger bekannte Sagengeſtalten vor. Die eigentlichen6 Kriegsthaten wurden weniger Gegenſtand der bildenden Kunſt als der aͤltern Poeſie; daher auch von dem Heſio-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><pbfacs="#f0581"n="559"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">II.</hi> Bildende Kunſt. Gegenſtaͤnde.</fw><lb/><divn="7"><head>1. Herakles.</head><lb/><p>410. In der hoͤchſten Potenz erſcheint das Heroen-Ideal<noteplace="right">1</note><lb/>
ausgepraͤgt in Herakles, der vor allen Helleniſcher Na-<lb/>
tionalheld war. Durch Anſtrengung geſtaͤhlte und be-<lb/>
waͤhrte Kraft iſt der Hauptzug. Schon in den oft<noteplace="right">2</note><lb/>
uͤberaus edlen und anmuthigen Bildungen des jugendli-<lb/>
chen Herakles meldet ſich dieſe in der gewaltigen Staͤrke<lb/>
der Nackenmuskeln (§. 331, 2), den dichten kurzen Locken<lb/>
des kleinen Hauptes (§. 330, 2.), den verhaͤltnißmaͤßig<lb/>
kleinen Augen, der vorgedraͤngten maͤchtigen Unterſtirn,<lb/>
und der Form ſaͤmmtlicher Gliedmaßen. Deutlicher<noteplace="right">3</note><lb/>
aber tritt der Charakter des Vollenders ungeheurer Kaͤmpfe,<lb/>
des muͤhbeladnen <hirendition="#aq">(aerumnosus)</hi> Heros in der gereiften<lb/>
Geſtalt hervor, wie ſie beſonders Lyſippos (§. 129.) ausbil-<lb/>
dete, in den aufgehuͤgelten durch unendliche Arbeit hervorge-<lb/>
triebnen Muskel-Lagen, den maͤchtigen Schenkeln, Schul-<lb/>
tern, Armen, Bruſt und Ruͤcken, ſo wie in den ernſten<lb/>
Zuͤgen des zuſammengedraͤngten Antlitzes, in denen der<lb/>
Eindruck, welchen Muͤhe und Arbeit gemacht, auch durch<lb/>
eine voruͤbergehende Ruhe nicht aufgehoben wird. Beide<noteplace="right">4</note><lb/>
Geſtalten laſſen ſich nun in einem faſt unuͤberſehbaren<lb/>
Cyklus von Abentheuern und Kaͤmpfen nachweiſen, und<lb/>
die Entwickelung des Heros von dem ſchlangenbaͤndigenden<lb/>
Kinde aus durch alle Ereigniſſe des Lebens hindurch ver-<lb/>
folgen. Fuͤr die beſonders viel gebildeten Zwoͤlfkaͤmpfe,<lb/>
deren Zahl ſich indeß erſt ſpaͤt und deren Beſtand ſich<lb/>
nie voͤllig gleichmaͤßig feſtſtellte, bildeten ſich zeitig gewiſſe<lb/>
beliebte Darſtellungsweiſen, doch fuͤr manche mehrere, nach<lb/>
Gegenden und Zeiten verſchieden gebrauchte. Von der<noteplace="right">5</note><lb/>
Unzahl anderer Thaten findet man die Giganten-Erle-<lb/>
gung beſonders auf Vaſen alten Styls; von dem mehr-<lb/>
fach wiederkehrenden Kentaurenkampf kommen hier auch we-<lb/>
niger bekannte Sagengeſtalten vor. Die eigentlichen<noteplace="right">6</note><lb/>
Kriegsthaten wurden weniger Gegenſtand der bildenden<lb/>
Kunſt als der aͤltern Poeſie; daher auch von dem Heſio-<lb/></p></div></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[559/0581]
II. Bildende Kunſt. Gegenſtaͤnde.
1. Herakles.
410. In der hoͤchſten Potenz erſcheint das Heroen-Ideal
ausgepraͤgt in Herakles, der vor allen Helleniſcher Na-
tionalheld war. Durch Anſtrengung geſtaͤhlte und be-
waͤhrte Kraft iſt der Hauptzug. Schon in den oft
uͤberaus edlen und anmuthigen Bildungen des jugendli-
chen Herakles meldet ſich dieſe in der gewaltigen Staͤrke
der Nackenmuskeln (§. 331, 2), den dichten kurzen Locken
des kleinen Hauptes (§. 330, 2.), den verhaͤltnißmaͤßig
kleinen Augen, der vorgedraͤngten maͤchtigen Unterſtirn,
und der Form ſaͤmmtlicher Gliedmaßen. Deutlicher
aber tritt der Charakter des Vollenders ungeheurer Kaͤmpfe,
des muͤhbeladnen (aerumnosus) Heros in der gereiften
Geſtalt hervor, wie ſie beſonders Lyſippos (§. 129.) ausbil-
dete, in den aufgehuͤgelten durch unendliche Arbeit hervorge-
triebnen Muskel-Lagen, den maͤchtigen Schenkeln, Schul-
tern, Armen, Bruſt und Ruͤcken, ſo wie in den ernſten
Zuͤgen des zuſammengedraͤngten Antlitzes, in denen der
Eindruck, welchen Muͤhe und Arbeit gemacht, auch durch
eine voruͤbergehende Ruhe nicht aufgehoben wird. Beide
Geſtalten laſſen ſich nun in einem faſt unuͤberſehbaren
Cyklus von Abentheuern und Kaͤmpfen nachweiſen, und
die Entwickelung des Heros von dem ſchlangenbaͤndigenden
Kinde aus durch alle Ereigniſſe des Lebens hindurch ver-
folgen. Fuͤr die beſonders viel gebildeten Zwoͤlfkaͤmpfe,
deren Zahl ſich indeß erſt ſpaͤt und deren Beſtand ſich
nie voͤllig gleichmaͤßig feſtſtellte, bildeten ſich zeitig gewiſſe
beliebte Darſtellungsweiſen, doch fuͤr manche mehrere, nach
Gegenden und Zeiten verſchieden gebrauchte. Von der
Unzahl anderer Thaten findet man die Giganten-Erle-
gung beſonders auf Vaſen alten Styls; von dem mehr-
fach wiederkehrenden Kentaurenkampf kommen hier auch we-
niger bekannte Sagengeſtalten vor. Die eigentlichen
Kriegsthaten wurden weniger Gegenſtand der bildenden
Kunſt als der aͤltern Poeſie; daher auch von dem Heſio-
1
2
3
4
5
6
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 559. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/581>, abgerufen am 18.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.