1391. Wenn Eros in Tempelbildern als ein Knabe von entwickelter Schönheit, und sanfter Anmuth der Ge- berde dargestellt wurde (§. 127, 3), und die einzelnen 2Statuen des Gottes auch jetzt dies Alter zeigen: so zog eine jüngere Kunst, welche mit der tändelnden Poesie später Anakreontika und den epigrammatischen Scherzen der Anthologie verwandt war, zu solchen Zwecken die 3Kindergestalt vor. Als ein unentwickelter schlanker Knabe, voll Munterkeit und Beweglichkeit, zeigt er sich in den Nachahmungen eines ausgezeichneten Originals eifrig be- 4müht, die Sehne an den Bogen zu fügen; in ähnlicher Figur kömmt er auf Vasengemählden überall zur Be- 5zeichnung des Liebesverhältnisses vor. In blühender aber nie unangenehm weichgeformter Kindergestalt sieht man Eros, und häufiger Eroten, in zahllosen Re- liefs und Gemmen der Götter Insignien fortschlep- pen, zerbrechen, die wildesten Thiere schmeichelnd be- zwingen und zu Reit- und Zugthieren machen, unter Seeungeheuern kekk und muthwillig umherschwärmen, und alle möglichen Geschäfte der Menschen scherzend nachah- men, wobei die Kunst am Ende ganz in ein Spiel aus- 6artet und alle Bedeutung völlig aufgiebt: eine unüber- sehliche Zahl von Bildwerken, welche dadurch noch ver- mehrt wird, daß auch wirkliche Kinder gern als Eroten 7dargestellt wurden. Zusammengestellt sieht man Eros er- stens mit Anteros, einem Dämon, der Gegenliebe ge- 8bietet, verschmähte Liebe rächt; und dann in einer zahl- reichern und wichtigern Classe von Bildwerken, welche einer ihren ersten Anfängen nach wahrscheinlich aus Or- phischen Mysterien hervorgegangenen allegorischen Fabel angehören, mit Psyche, die als Jungfrau mit Schmet- terlingsflügeln oder gleichsam abbrevirt als Schmetterling
Syſtematiſcher Theil.
C. Neben- und Untergeordnete Gottheiten.
1. Kreis des Eros.
1391. Wenn Eros in Tempelbildern als ein Knabe von entwickelter Schoͤnheit, und ſanfter Anmuth der Ge- berde dargeſtellt wurde (§. 127, 3), und die einzelnen 2Statuen des Gottes auch jetzt dies Alter zeigen: ſo zog eine juͤngere Kunſt, welche mit der taͤndelnden Poeſie ſpaͤter Anakreontika und den epigrammatiſchen Scherzen der Anthologie verwandt war, zu ſolchen Zwecken die 3Kindergeſtalt vor. Als ein unentwickelter ſchlanker Knabe, voll Munterkeit und Beweglichkeit, zeigt er ſich in den Nachahmungen eines ausgezeichneten Originals eifrig be- 4muͤht, die Sehne an den Bogen zu fuͤgen; in aͤhnlicher Figur koͤmmt er auf Vaſengemaͤhlden uͤberall zur Be- 5zeichnung des Liebesverhaͤltniſſes vor. In bluͤhender aber nie unangenehm weichgeformter Kindergeſtalt ſieht man Eros, und haͤufiger Eroten, in zahlloſen Re- liefs und Gemmen der Goͤtter Inſignien fortſchlep- pen, zerbrechen, die wildeſten Thiere ſchmeichelnd be- zwingen und zu Reit- und Zugthieren machen, unter Seeungeheuern kekk und muthwillig umherſchwaͤrmen, und alle moͤglichen Geſchaͤfte der Menſchen ſcherzend nachah- men, wobei die Kunſt am Ende ganz in ein Spiel aus- 6artet und alle Bedeutung voͤllig aufgiebt: eine unuͤber- ſehliche Zahl von Bildwerken, welche dadurch noch ver- mehrt wird, daß auch wirkliche Kinder gern als Eroten 7dargeſtellt wurden. Zuſammengeſtellt ſieht man Eros er- ſtens mit Anteros, einem Daͤmon, der Gegenliebe ge- 8bietet, verſchmaͤhte Liebe raͤcht; und dann in einer zahl- reichern und wichtigern Claſſe von Bildwerken, welche einer ihren erſten Anfaͤngen nach wahrſcheinlich aus Or- phiſchen Myſterien hervorgegangenen allegoriſchen Fabel angehoͤren, mit Pſyche, die als Jungfrau mit Schmet- terlingsfluͤgeln oder gleichſam abbrevirt als Schmetterling
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Syſtematiſcher Theil.
C. Neben- und Untergeordnete Gottheiten.
1. Kreis des Eros.
391. Wenn Eros in Tempelbildern als ein Knabe
von entwickelter Schoͤnheit, und ſanfter Anmuth der Ge-
berde dargeſtellt wurde (§. 127, 3), und die einzelnen
Statuen des Gottes auch jetzt dies Alter zeigen: ſo zog
eine juͤngere Kunſt, welche mit der taͤndelnden Poeſie
ſpaͤter Anakreontika und den epigrammatiſchen Scherzen
der Anthologie verwandt war, zu ſolchen Zwecken die
Kindergeſtalt vor. Als ein unentwickelter ſchlanker Knabe,
voll Munterkeit und Beweglichkeit, zeigt er ſich in den
Nachahmungen eines ausgezeichneten Originals eifrig be-
muͤht, die Sehne an den Bogen zu fuͤgen; in aͤhnlicher
Figur koͤmmt er auf Vaſengemaͤhlden uͤberall zur Be-
zeichnung des Liebesverhaͤltniſſes vor. In bluͤhender
aber nie unangenehm weichgeformter Kindergeſtalt ſieht
man Eros, und haͤufiger Eroten, in zahlloſen Re-
liefs und Gemmen der Goͤtter Inſignien fortſchlep-
pen, zerbrechen, die wildeſten Thiere ſchmeichelnd be-
zwingen und zu Reit- und Zugthieren machen, unter
Seeungeheuern kekk und muthwillig umherſchwaͤrmen, und
alle moͤglichen Geſchaͤfte der Menſchen ſcherzend nachah-
men, wobei die Kunſt am Ende ganz in ein Spiel aus-
artet und alle Bedeutung voͤllig aufgiebt: eine unuͤber-
ſehliche Zahl von Bildwerken, welche dadurch noch ver-
mehrt wird, daß auch wirkliche Kinder gern als Eroten
dargeſtellt wurden. Zuſammengeſtellt ſieht man Eros er-
ſtens mit Anteros, einem Daͤmon, der Gegenliebe ge-
bietet, verſchmaͤhte Liebe raͤcht; und dann in einer zahl-
reichern und wichtigern Claſſe von Bildwerken, welche
einer ihren erſten Anfaͤngen nach wahrſcheinlich aus Or-
phiſchen Myſterien hervorgegangenen allegoriſchen Fabel
angehoͤren, mit Pſyche, die als Jungfrau mit Schmet-
terlingsfluͤgeln oder gleichſam abbrevirt als Schmetterling
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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 528. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/550>, abgerufen am 30.12.2024.
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