Erstes Kapitel. Familienvermögen und Privatvermögen.
Der Leser denke sich ein mit allen Bedürfnissen und An- nehmlichkeiten des Lebens wohlversehenes Haus: Hausherr, Kinder, Dienstbothen an ihrer natürlichen Stelle. Das Ganze macht den Eindruck der Wohlhabenheit, des Reichthums; jedes einzelne Glied des Hauses, wie niedrig auch seine Func- tionen seyn mögen, genießt das Selbstgefühl des Ganzen. Setzen wir den Fall: der Hausherr sterbe, und das ganze bisherige Gemeinvermögen werde getheilt unter Kinder und Dienstbothen, in eben so viele Vermächtnisse und Legate. Jeder von uns wird sich eines solchen Falles erinnern, und (obgleich die Substanz des bisherigen Vermögens zwar getheilt, doch dieselbe geblieben) dennoch das Gefühl gehabt haben, als besässen nunmehr die einzelnen Nachgelassenen zusammen ge- nommen weniger, als alle vereinigt im Vaterhause besessen haben. Es wird uns vorkommen, als sey des Reichthums durch die Auseinandersetzung wirklich weniger geworden; und unser Gefühl hat Recht. Alle Familienglieder hatten im Va- terhause, außer ihrem besondern Besitz, noch eine Eigen- thums-Empfindung vom Ganzen; jetzt ist zwar ihre besondere Portion vermehrt, aber das Selbstgefühl im Reichthum des Ganzen ist dahin; jeder ist der Zahl nach reicher, dem Gefühl und dem Wesen nach, ärmer geworden. --
Erſtes Kapitel. Familienvermoͤgen und Privatvermoͤgen.
Der Leſer denke ſich ein mit allen Beduͤrfniſſen und An- nehmlichkeiten des Lebens wohlverſehenes Haus: Hausherr, Kinder, Dienſtbothen an ihrer natuͤrlichen Stelle. Das Ganze macht den Eindruck der Wohlhabenheit, des Reichthums; jedes einzelne Glied des Hauſes, wie niedrig auch ſeine Func- tionen ſeyn moͤgen, genießt das Selbſtgefuͤhl des Ganzen. Setzen wir den Fall: der Hausherr ſterbe, und das ganze bisherige Gemeinvermoͤgen werde getheilt unter Kinder und Dienſtbothen, in eben ſo viele Vermaͤchtniſſe und Legate. Jeder von uns wird ſich eines ſolchen Falles erinnern, und (obgleich die Subſtanz des bisherigen Vermoͤgens zwar getheilt, doch dieſelbe geblieben) dennoch das Gefuͤhl gehabt haben, als beſaͤſſen nunmehr die einzelnen Nachgelaſſenen zuſammen ge- nommen weniger, als alle vereinigt im Vaterhauſe beſeſſen haben. Es wird uns vorkommen, als ſey des Reichthums durch die Auseinanderſetzung wirklich weniger geworden; und unſer Gefuͤhl hat Recht. Alle Familienglieder hatten im Va- terhauſe, außer ihrem beſondern Beſitz, noch eine Eigen- thums-Empfindung vom Ganzen; jetzt iſt zwar ihre beſondere Portion vermehrt, aber das Selbſtgefuͤhl im Reichthum des Ganzen iſt dahin; jeder iſt der Zahl nach reicher, dem Gefuͤhl und dem Weſen nach, aͤrmer geworden. —
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Erſtes Kapitel.
Familienvermoͤgen und Privatvermoͤgen.
Der Leſer denke ſich ein mit allen Beduͤrfniſſen und An-
nehmlichkeiten des Lebens wohlverſehenes Haus: Hausherr,
Kinder, Dienſtbothen an ihrer natuͤrlichen Stelle. Das Ganze
macht den Eindruck der Wohlhabenheit, des Reichthums;
jedes einzelne Glied des Hauſes, wie niedrig auch ſeine Func-
tionen ſeyn moͤgen, genießt das Selbſtgefuͤhl des Ganzen.
Setzen wir den Fall: der Hausherr ſterbe, und das ganze
bisherige Gemeinvermoͤgen werde getheilt unter Kinder und
Dienſtbothen, in eben ſo viele Vermaͤchtniſſe und Legate. Jeder
von uns wird ſich eines ſolchen Falles erinnern, und (obgleich
die Subſtanz des bisherigen Vermoͤgens zwar getheilt, doch
dieſelbe geblieben) dennoch das Gefuͤhl gehabt haben, als
beſaͤſſen nunmehr die einzelnen Nachgelaſſenen zuſammen ge-
nommen weniger, als alle vereinigt im Vaterhauſe beſeſſen
haben. Es wird uns vorkommen, als ſey des Reichthums
durch die Auseinanderſetzung wirklich weniger geworden; und
unſer Gefuͤhl hat Recht. Alle Familienglieder hatten im Va-
terhauſe, außer ihrem beſondern Beſitz, noch eine Eigen-
thums-Empfindung vom Ganzen; jetzt iſt zwar ihre beſondere
Portion vermehrt, aber das Selbſtgefuͤhl im Reichthum des
Ganzen iſt dahin; jeder iſt der Zahl nach reicher, dem Gefuͤhl
und dem Weſen nach, aͤrmer geworden. —
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Müller, Adam Heinrich: Versuche einer neuen Theorie des Geldes mit besonderer Rücksicht auf Großbritannien. Leipzig u. a., 1816. , S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_geld_1816/20>, abgerufen am 21.11.2024.
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