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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786.

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seinen Hunger zu stillen sucht, wäre es bei ihm ge¬
than gewesen.

Der Stand des geringsten Lehrburschen eines
Handwerkers ist ehrenvoller, als der eines jun¬
gen Menschen, der um studieren zu können, von
Wohlthaten lebt, sobald ihm diese Wohlthaten auf
eine herabwürdigende Art erzeigt werden. Fühlt
sich ein solcher junger Mensch glücklich, so ist er
in Gefahr niederträchtig zu werden, und hat er
nicht die Anlage zur Niederträchtigkeit, so wird
es ihm wie Reisern gehen; er wird mißmüthig
und menschenfeindlich gesinnet werden, wie es
Reiser wirklich wurde, denn er fieng schon da¬
mals an, in der Einsamkeit sein größtes Ver¬
gnügen zu finden.

Einmal schickte ihn die Frau F... sogar mit
einem großen Stück Leinwand in des Prinzen
Haus, welches dort an die Leute zum Verkauf
vorgezeigt werden sollte -- Alles Sträuben da¬
gegen würde nichts geholfen haben -- denn der
Pastor M... hatte einmal der Frau eine unbe¬
schränkte Gewalt über Reisern ertheilet -- und
jede Weigerung würde ihm als ein unverzeihlicher
Stolz ausgelegt worden seyn. -- Es würde ihm

ſeinen Hunger zu ſtillen ſucht, waͤre es bei ihm ge¬
than geweſen.

Der Stand des geringſten Lehrburſchen eines
Handwerkers iſt ehrenvoller, als der eines jun¬
gen Menſchen, der um ſtudieren zu koͤnnen, von
Wohlthaten lebt, ſobald ihm dieſe Wohlthaten auf
eine herabwuͤrdigende Art erzeigt werden. Fuͤhlt
ſich ein ſolcher junger Menſch gluͤcklich, ſo iſt er
in Gefahr niedertraͤchtig zu werden, und hat er
nicht die Anlage zur Niedertraͤchtigkeit, ſo wird
es ihm wie Reiſern gehen; er wird mißmuͤthig
und menſchenfeindlich geſinnet werden, wie es
Reiſer wirklich wurde, denn er fieng ſchon da¬
mals an, in der Einſamkeit ſein groͤßtes Ver¬
gnuͤgen zu finden.

Einmal ſchickte ihn die Frau F... ſogar mit
einem großen Stuͤck Leinwand in des Prinzen
Haus, welches dort an die Leute zum Verkauf
vorgezeigt werden ſollte — Alles Straͤuben da¬
gegen wuͤrde nichts geholfen haben — denn der
Paſtor M... hatte einmal der Frau eine unbe¬
ſchraͤnkte Gewalt uͤber Reiſern ertheilet — und
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[72/0082] ſeinen Hunger zu ſtillen ſucht, waͤre es bei ihm ge¬ than geweſen. Der Stand des geringſten Lehrburſchen eines Handwerkers iſt ehrenvoller, als der eines jun¬ gen Menſchen, der um ſtudieren zu koͤnnen, von Wohlthaten lebt, ſobald ihm dieſe Wohlthaten auf eine herabwuͤrdigende Art erzeigt werden. Fuͤhlt ſich ein ſolcher junger Menſch gluͤcklich, ſo iſt er in Gefahr niedertraͤchtig zu werden, und hat er nicht die Anlage zur Niedertraͤchtigkeit, ſo wird es ihm wie Reiſern gehen; er wird mißmuͤthig und menſchenfeindlich geſinnet werden, wie es Reiſer wirklich wurde, denn er fieng ſchon da¬ mals an, in der Einſamkeit ſein groͤßtes Ver¬ gnuͤgen zu finden. Einmal ſchickte ihn die Frau F... ſogar mit einem großen Stuͤck Leinwand in des Prinzen Haus, welches dort an die Leute zum Verkauf vorgezeigt werden ſollte — Alles Straͤuben da¬ gegen wuͤrde nichts geholfen haben — denn der Paſtor M... hatte einmal der Frau eine unbe¬ ſchraͤnkte Gewalt uͤber Reiſern ertheilet — und jede Weigerung wuͤrde ihm als ein unverzeihlicher Stolz ausgelegt worden ſeyn. — Es wuͤrde ihm

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser02_1786/82>, abgerufen am 26.04.2024.