§ 106. Begriff und Nutzen der geschichtlichen Staatswissenschaften.
Ein vollständiges Verständniß des staatlichen Lebens er- fordert neben der theoretischen Lehre auch eine Kenntniß der Thatsachen, und zwar sowohl ihres Herganges, als ihres letzten Bestandes. In der allgemeinen Staatslehre wird der Begriff des Staates festgestellt und dessen Wesen in den hauptsächlich- sten Beziehungen erörtert. Die übrigen dogmatischen Staats- wissenschaften zeichnen vor, was mit dem Staate und in dem Staate zu geschehen hat, sei es vom Standpunkte des Rechtes aus, sei es von dem der Sittlichkeit, sei es endlich von dem der Zweckmäßigkeit. Allein hieraus ergibt sich noch nicht, wie das Leben im Staate in der Wirklichkeit war und ist. Dieses wird erst nachgewiesen durch die beiden geschichtlichen Staats- wissenschaften, nämlich durch die Staatsgeschichte und die Staatenkunde, deren erstere die genetische Entwickelung des gesammten staatlichen Lebens, so weit unsere Kenntniß reicht, die andere dagegen eine geordnete und vollständige Schilderung der staatlichen Zustände zu einer bestimmten Zeit, also das thatsächliche Ergebniß jenes Verlaufes mittheilt 1).
Die Nothwendigkeit und Ersprießlichkeit einer solchen Kenntniß der Thatsachen liegt sehr nahe, und zwar für mehr als ein Bedürfniß.
Einmal ist es schon in rein menschlicher Beziehung Bedürfniß, zu wissen, welche Schicksale unser Geschlecht in der
§ 106. Begriff und Nutzen der geſchichtlichen Staatswiſſenſchaften.
Ein vollſtändiges Verſtändniß des ſtaatlichen Lebens er- fordert neben der theoretiſchen Lehre auch eine Kenntniß der Thatſachen, und zwar ſowohl ihres Herganges, als ihres letzten Beſtandes. In der allgemeinen Staatslehre wird der Begriff des Staates feſtgeſtellt und deſſen Weſen in den hauptſächlich- ſten Beziehungen erörtert. Die übrigen dogmatiſchen Staats- wiſſenſchaften zeichnen vor, was mit dem Staate und in dem Staate zu geſchehen hat, ſei es vom Standpunkte des Rechtes aus, ſei es von dem der Sittlichkeit, ſei es endlich von dem der Zweckmäßigkeit. Allein hieraus ergibt ſich noch nicht, wie das Leben im Staate in der Wirklichkeit war und iſt. Dieſes wird erſt nachgewieſen durch die beiden geſchichtlichen Staats- wiſſenſchaften, nämlich durch die Staatsgeſchichte und die Staatenkunde, deren erſtere die genetiſche Entwickelung des geſammten ſtaatlichen Lebens, ſo weit unſere Kenntniß reicht, die andere dagegen eine geordnete und vollſtändige Schilderung der ſtaatlichen Zuſtände zu einer beſtimmten Zeit, alſo das thatſächliche Ergebniß jenes Verlaufes mittheilt 1).
Die Nothwendigkeit und Erſprießlichkeit einer ſolchen Kenntniß der Thatſachen liegt ſehr nahe, und zwar für mehr als ein Bedürfniß.
Einmal iſt es ſchon in rein menſchlicher Beziehung Bedürfniß, zu wiſſen, welche Schickſale unſer Geſchlecht in der
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0725"n="[711]"/><divn="2"><head>§ 106.<lb/><hirendition="#b">Begriff und Nutzen der geſchichtlichen Staatswiſſenſchaften.</hi></head><lb/><p>Ein vollſtändiges Verſtändniß des ſtaatlichen Lebens er-<lb/>
fordert neben der theoretiſchen Lehre auch eine Kenntniß der<lb/>
Thatſachen, und zwar ſowohl ihres Herganges, als ihres letzten<lb/>
Beſtandes. In der allgemeinen Staatslehre wird der Begriff<lb/>
des Staates feſtgeſtellt und deſſen Weſen in den hauptſächlich-<lb/>ſten Beziehungen erörtert. Die übrigen dogmatiſchen Staats-<lb/>
wiſſenſchaften zeichnen vor, was mit dem Staate und in dem<lb/>
Staate zu geſchehen hat, ſei es vom Standpunkte des Rechtes<lb/>
aus, ſei es von dem der Sittlichkeit, ſei es endlich von dem<lb/>
der Zweckmäßigkeit. Allein hieraus ergibt ſich noch nicht, wie<lb/>
das Leben im Staate in der Wirklichkeit war und iſt. Dieſes<lb/>
wird erſt nachgewieſen durch die beiden geſchichtlichen Staats-<lb/>
wiſſenſchaften, nämlich durch die <hirendition="#g">Staatsgeſchichte</hi> und die<lb/><hirendition="#g">Staatenkunde</hi>, deren erſtere die genetiſche Entwickelung des<lb/>
geſammten ſtaatlichen Lebens, ſo weit unſere Kenntniß reicht,<lb/>
die andere dagegen eine geordnete und vollſtändige Schilderung<lb/>
der ſtaatlichen Zuſtände zu einer beſtimmten Zeit, alſo das<lb/>
thatſächliche Ergebniß jenes Verlaufes mittheilt <hirendition="#sup">1</hi>).</p><lb/><p>Die Nothwendigkeit und Erſprießlichkeit einer ſolchen Kenntniß<lb/>
der Thatſachen liegt ſehr nahe, und zwar für mehr als ein<lb/>
Bedürfniß.</p><lb/><p>Einmal iſt es ſchon in <hirendition="#g">rein menſchlicher</hi> Beziehung<lb/>
Bedürfniß, zu wiſſen, welche Schickſale unſer Geſchlecht in der<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[711]/0725]
§ 106.
Begriff und Nutzen der geſchichtlichen Staatswiſſenſchaften.
Ein vollſtändiges Verſtändniß des ſtaatlichen Lebens er-
fordert neben der theoretiſchen Lehre auch eine Kenntniß der
Thatſachen, und zwar ſowohl ihres Herganges, als ihres letzten
Beſtandes. In der allgemeinen Staatslehre wird der Begriff
des Staates feſtgeſtellt und deſſen Weſen in den hauptſächlich-
ſten Beziehungen erörtert. Die übrigen dogmatiſchen Staats-
wiſſenſchaften zeichnen vor, was mit dem Staate und in dem
Staate zu geſchehen hat, ſei es vom Standpunkte des Rechtes
aus, ſei es von dem der Sittlichkeit, ſei es endlich von dem
der Zweckmäßigkeit. Allein hieraus ergibt ſich noch nicht, wie
das Leben im Staate in der Wirklichkeit war und iſt. Dieſes
wird erſt nachgewieſen durch die beiden geſchichtlichen Staats-
wiſſenſchaften, nämlich durch die Staatsgeſchichte und die
Staatenkunde, deren erſtere die genetiſche Entwickelung des
geſammten ſtaatlichen Lebens, ſo weit unſere Kenntniß reicht,
die andere dagegen eine geordnete und vollſtändige Schilderung
der ſtaatlichen Zuſtände zu einer beſtimmten Zeit, alſo das
thatſächliche Ergebniß jenes Verlaufes mittheilt 1).
Die Nothwendigkeit und Erſprießlichkeit einer ſolchen Kenntniß
der Thatſachen liegt ſehr nahe, und zwar für mehr als ein
Bedürfniß.
Einmal iſt es ſchon in rein menſchlicher Beziehung
Bedürfniß, zu wiſſen, welche Schickſale unſer Geſchlecht in der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. [711]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/725>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.