Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite
sittlichen Gründen verletzt werden dürfe, und dann auch solle? Daß
dieß jeden Falles nur selten geschehen darf, ist allerdings schon dadurch be-
gründet, daß die rechtliche Ordnung des Staates die Grundlage und Vor-
bedingung der Erreichung menschlicher Lebenszwecke ist, und daß ein großer
Theil ihres Nutzens in der Zuverlässigkeit ihrer Aufrechterhaltung besteht.
Allein damit ist nicht bewiesen, daß es nicht wenigstens einzelne Verhältnisse
geben kann, in welchen es sittliche Pflicht ist, ein gesetzliches Gebot wissent-
lich und willentlich zu verletzen, weil dessen Vollstreckung entschieden unver-
nünftige Folgen hätte und großen unmittelbaren Schaden brächte. Unzwei-
felhaft ist die in einem solchen Falle obwaltende Collition der Pflichten einer
der schwierigsten, und es muß verlangt werden, daß nicht blos mit Rein-
heit des Gefühles und der Absicht, sondern auch mit möglichster Umsicht und
Sachkenntniß verfahren werde. Die für Verletzung des Gesetzes angedrohte
Strafe kann übrigens kein Entscheidungsgrund für die Beachtung des Ge-
setzes sein; vielmehr muß ihre Erstehung, auch wenn ihr mit Sicherheit
entgegen gesehen werden kann, als eine der Erfüllung der sittlichen Pflicht
zu bringendes weiteres Opfer betrachtet werden, und es erhöht noch die Aus-
sicht auf sie das sittliche Verdienst des Entschlusses. In wie ferne es dann
anderer Seits für die Staatsgewalt sittliche Pflicht sein kann, die rechtlich
verdiente Strafe durch Begnadigung zu beseitigen, ist eine zweite, ebenfalls
schwierige, Frage.
§ 78.
3. Die Methode.

Folgerichtig mit der Behandlung des philosophischen Staats-
rechtes und in Uebereinstimmung mit den so eben, § 76 und
77, erörterten Ansichten über die einer jeden Gattung und Art
der Staaten eigenthümlichen sittlichen Grundsätze, wäre wohl
die Darstellung der Staatssittenlehre zu zerlegen in so viele
einzelne in sich abgeschlossene Erörterungen, als es solche Be-
sonderheiten gibt. Da jedoch einer Seits die Wissenschaft bis
itzt zu einer solchen Durcharbeitung des Stoffes noch nicht
gelangt ist 1), anderer Seits die Nebeneinanderstellung der durch
die Verschiedenheit der Staaten hervorgerufenen Lehren auch
ihre unzweifelhaften Vortheile darbietet: so scheint es für die
durch eine Encyklopädie beabsichtigten Ueberschau zu genügen,

ſittlichen Gründen verletzt werden dürfe, und dann auch ſolle? Daß
dieß jeden Falles nur ſelten geſchehen darf, iſt allerdings ſchon dadurch be-
gründet, daß die rechtliche Ordnung des Staates die Grundlage und Vor-
bedingung der Erreichung menſchlicher Lebenszwecke iſt, und daß ein großer
Theil ihres Nutzens in der Zuverläſſigkeit ihrer Aufrechterhaltung beſteht.
Allein damit iſt nicht bewieſen, daß es nicht wenigſtens einzelne Verhältniſſe
geben kann, in welchen es ſittliche Pflicht iſt, ein geſetzliches Gebot wiſſent-
lich und willentlich zu verletzen, weil deſſen Vollſtreckung entſchieden unver-
nünftige Folgen hätte und großen unmittelbaren Schaden brächte. Unzwei-
felhaft iſt die in einem ſolchen Falle obwaltende Collition der Pflichten einer
der ſchwierigſten, und es muß verlangt werden, daß nicht blos mit Rein-
heit des Gefühles und der Abſicht, ſondern auch mit möglichſter Umſicht und
Sachkenntniß verfahren werde. Die für Verletzung des Geſetzes angedrohte
Strafe kann übrigens kein Entſcheidungsgrund für die Beachtung des Ge-
ſetzes ſein; vielmehr muß ihre Erſtehung, auch wenn ihr mit Sicherheit
entgegen geſehen werden kann, als eine der Erfüllung der ſittlichen Pflicht
zu bringendes weiteres Opfer betrachtet werden, und es erhöht noch die Aus-
ſicht auf ſie das ſittliche Verdienſt des Entſchluſſes. In wie ferne es dann
anderer Seits für die Staatsgewalt ſittliche Pflicht ſein kann, die rechtlich
verdiente Strafe durch Begnadigung zu beſeitigen, iſt eine zweite, ebenfalls
ſchwierige, Frage.
§ 78.
3. Die Methode.

Folgerichtig mit der Behandlung des philoſophiſchen Staats-
rechtes und in Uebereinſtimmung mit den ſo eben, § 76 und
77, erörterten Anſichten über die einer jeden Gattung und Art
der Staaten eigenthümlichen ſittlichen Grundſätze, wäre wohl
die Darſtellung der Staatsſittenlehre zu zerlegen in ſo viele
einzelne in ſich abgeſchloſſene Erörterungen, als es ſolche Be-
ſonderheiten gibt. Da jedoch einer Seits die Wiſſenſchaft bis
itzt zu einer ſolchen Durcharbeitung des Stoffes noch nicht
gelangt iſt 1), anderer Seits die Nebeneinanderſtellung der durch
die Verſchiedenheit der Staaten hervorgerufenen Lehren auch
ihre unzweifelhaften Vortheile darbietet: ſo ſcheint es für die
durch eine Encyklopädie beabſichtigten Ueberſchau zu genügen,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <note place="end" n="2)"><pb facs="#f0525" n="511"/><hi rendition="#g">&#x017F;ittlichen</hi> Gründen verletzt werden dürfe, und dann auch &#x017F;olle? Daß<lb/>
dieß jeden Falles nur &#x017F;elten ge&#x017F;chehen darf, i&#x017F;t allerdings &#x017F;chon dadurch be-<lb/>
gründet, daß die rechtliche Ordnung des Staates die Grundlage und Vor-<lb/>
bedingung der Erreichung men&#x017F;chlicher Lebenszwecke i&#x017F;t, und daß ein großer<lb/>
Theil ihres Nutzens in der Zuverlä&#x017F;&#x017F;igkeit ihrer Aufrechterhaltung be&#x017F;teht.<lb/>
Allein damit i&#x017F;t nicht bewie&#x017F;en, daß es nicht wenig&#x017F;tens einzelne Verhältni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
geben kann, in welchen es &#x017F;ittliche Pflicht i&#x017F;t, ein ge&#x017F;etzliches Gebot wi&#x017F;&#x017F;ent-<lb/>
lich und willentlich zu verletzen, weil de&#x017F;&#x017F;en Voll&#x017F;treckung ent&#x017F;chieden unver-<lb/>
nünftige Folgen hätte und großen unmittelbaren Schaden brächte. Unzwei-<lb/>
felhaft i&#x017F;t die in einem &#x017F;olchen Falle obwaltende Collition der Pflichten einer<lb/>
der &#x017F;chwierig&#x017F;ten, und es muß verlangt werden, daß nicht blos mit Rein-<lb/>
heit des Gefühles und der Ab&#x017F;icht, &#x017F;ondern auch mit möglich&#x017F;ter Um&#x017F;icht und<lb/>
Sachkenntniß verfahren werde. Die für Verletzung des Ge&#x017F;etzes angedrohte<lb/>
Strafe kann übrigens kein Ent&#x017F;cheidungsgrund für die Beachtung des Ge-<lb/>
&#x017F;etzes &#x017F;ein; vielmehr muß ihre Er&#x017F;tehung, auch wenn ihr mit Sicherheit<lb/>
entgegen ge&#x017F;ehen werden kann, als eine der Erfüllung der &#x017F;ittlichen Pflicht<lb/>
zu bringendes weiteres Opfer betrachtet werden, und es erhöht noch die Aus-<lb/>
&#x017F;icht auf &#x017F;ie das &#x017F;ittliche Verdien&#x017F;t des Ent&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;es. In wie ferne es dann<lb/>
anderer Seits für die Staatsgewalt &#x017F;ittliche Pflicht &#x017F;ein kann, die rechtlich<lb/>
verdiente Strafe durch Begnadigung zu be&#x017F;eitigen, i&#x017F;t eine zweite, ebenfalls<lb/>
&#x017F;chwierige, Frage.</note>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§ 78.<lb/><hi rendition="#b">3. Die Methode.</hi></head><lb/>
            <p>Folgerichtig mit der Behandlung des philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Staats-<lb/>
rechtes und in Ueberein&#x017F;timmung mit den &#x017F;o eben, § 76 und<lb/>
77, erörterten An&#x017F;ichten über die einer jeden Gattung und Art<lb/>
der Staaten eigenthümlichen &#x017F;ittlichen Grund&#x017F;ätze, wäre wohl<lb/>
die Dar&#x017F;tellung der Staats&#x017F;ittenlehre zu zerlegen in &#x017F;o viele<lb/>
einzelne in &#x017F;ich abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene Erörterungen, als es &#x017F;olche Be-<lb/>
&#x017F;onderheiten gibt. Da jedoch einer Seits die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft bis<lb/>
itzt zu einer &#x017F;olchen Durcharbeitung des Stoffes noch nicht<lb/>
gelangt i&#x017F;t <hi rendition="#sup">1</hi>), anderer Seits die Nebeneinander&#x017F;tellung der durch<lb/>
die Ver&#x017F;chiedenheit der Staaten hervorgerufenen Lehren auch<lb/>
ihre unzweifelhaften Vortheile darbietet: &#x017F;o &#x017F;cheint es für die<lb/>
durch eine Encyklopädie beab&#x017F;ichtigten Ueber&#x017F;chau zu genügen,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[511/0525] ²⁾ ſittlichen Gründen verletzt werden dürfe, und dann auch ſolle? Daß dieß jeden Falles nur ſelten geſchehen darf, iſt allerdings ſchon dadurch be- gründet, daß die rechtliche Ordnung des Staates die Grundlage und Vor- bedingung der Erreichung menſchlicher Lebenszwecke iſt, und daß ein großer Theil ihres Nutzens in der Zuverläſſigkeit ihrer Aufrechterhaltung beſteht. Allein damit iſt nicht bewieſen, daß es nicht wenigſtens einzelne Verhältniſſe geben kann, in welchen es ſittliche Pflicht iſt, ein geſetzliches Gebot wiſſent- lich und willentlich zu verletzen, weil deſſen Vollſtreckung entſchieden unver- nünftige Folgen hätte und großen unmittelbaren Schaden brächte. Unzwei- felhaft iſt die in einem ſolchen Falle obwaltende Collition der Pflichten einer der ſchwierigſten, und es muß verlangt werden, daß nicht blos mit Rein- heit des Gefühles und der Abſicht, ſondern auch mit möglichſter Umſicht und Sachkenntniß verfahren werde. Die für Verletzung des Geſetzes angedrohte Strafe kann übrigens kein Entſcheidungsgrund für die Beachtung des Ge- ſetzes ſein; vielmehr muß ihre Erſtehung, auch wenn ihr mit Sicherheit entgegen geſehen werden kann, als eine der Erfüllung der ſittlichen Pflicht zu bringendes weiteres Opfer betrachtet werden, und es erhöht noch die Aus- ſicht auf ſie das ſittliche Verdienſt des Entſchluſſes. In wie ferne es dann anderer Seits für die Staatsgewalt ſittliche Pflicht ſein kann, die rechtlich verdiente Strafe durch Begnadigung zu beſeitigen, iſt eine zweite, ebenfalls ſchwierige, Frage. § 78. 3. Die Methode. Folgerichtig mit der Behandlung des philoſophiſchen Staats- rechtes und in Uebereinſtimmung mit den ſo eben, § 76 und 77, erörterten Anſichten über die einer jeden Gattung und Art der Staaten eigenthümlichen ſittlichen Grundſätze, wäre wohl die Darſtellung der Staatsſittenlehre zu zerlegen in ſo viele einzelne in ſich abgeſchloſſene Erörterungen, als es ſolche Be- ſonderheiten gibt. Da jedoch einer Seits die Wiſſenſchaft bis itzt zu einer ſolchen Durcharbeitung des Stoffes noch nicht gelangt iſt 1), anderer Seits die Nebeneinanderſtellung der durch die Verſchiedenheit der Staaten hervorgerufenen Lehren auch ihre unzweifelhaften Vortheile darbietet: ſo ſcheint es für die durch eine Encyklopädie beabſichtigten Ueberſchau zu genügen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/525
Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/525>, abgerufen am 22.12.2024.