§ 76. 1. Begriff und Nothwendigkeit der Staats-Sittenlehre.
Die kategorischen Forderungen, welche zum Behufe einer grundsätzlichen Aufstellung und Durchführung der Staatsein- richtungen an sämmtliche Staatsgenossen gestellt werden, sind -- wie bereits oben, § 9, S. 49, ausgeführt ist, -- doppelter Art. Die eine, bisher besprochene, Gattung betrifft die Her- stellung der äußeren Ordnung und läßt sich auch durch äußere Mittel erzwingen; die andere dagegen verlangt einen vernünf- tigen Willen von jedem Einzelnen in Beziehung auf das Zu- sammenleben, und ihre Erfüllung hängt lediglich von dem Einflusse der Betreffenden ab. Die Forderungen der ersteren Art sind die des Rechtes, und zwar die des philosophischen, insoferne sie nur aus einer logischen Nothwendigkeit hervorgehen, oder des positiven, wenn sie durch eine zuständige Auctorität als Befehle ausgesprochen sind; die der zweiten Art aber sind die der Sittlichkeit, und sie beruhen ausschließlich auf dem Gewissen des Menschen.
Das Verhältniß der beiden Systeme von Forderungen zu einander liegt klar vor. -- Hinsichtlich des Gegenstandes sowohl, als des Umfanges der beabsichtigten Wirksamkeit stehen sie völlig gleich. Beide beziehen sich auf das einheitlich
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3. Staats-Sittenlehre.
§ 76. 1. Begriff und Nothwendigkeit der Staats-Sittenlehre.
Die kategoriſchen Forderungen, welche zum Behufe einer grundſätzlichen Aufſtellung und Durchführung der Staatsein- richtungen an ſämmtliche Staatsgenoſſen geſtellt werden, ſind — wie bereits oben, § 9, S. 49, ausgeführt iſt, — doppelter Art. Die eine, bisher beſprochene, Gattung betrifft die Her- ſtellung der äußeren Ordnung und läßt ſich auch durch äußere Mittel erzwingen; die andere dagegen verlangt einen vernünf- tigen Willen von jedem Einzelnen in Beziehung auf das Zu- ſammenleben, und ihre Erfüllung hängt lediglich von dem Einfluſſe der Betreffenden ab. Die Forderungen der erſteren Art ſind die des Rechtes, und zwar die des philoſophiſchen, inſoferne ſie nur aus einer logiſchen Nothwendigkeit hervorgehen, oder des poſitiven, wenn ſie durch eine zuſtändige Auctorität als Befehle ausgeſprochen ſind; die der zweiten Art aber ſind die der Sittlichkeit, und ſie beruhen ausſchließlich auf dem Gewiſſen des Menſchen.
Das Verhältniß der beiden Syſteme von Forderungen zu einander liegt klar vor. — Hinſichtlich des Gegenſtandes ſowohl, als des Umfanges der beabſichtigten Wirkſamkeit ſtehen ſie völlig gleich. Beide beziehen ſich auf das einheitlich
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3.
Staats-Sittenlehre.
§ 76.
1. Begriff und Nothwendigkeit der Staats-Sittenlehre.
Die kategoriſchen Forderungen, welche zum Behufe einer
grundſätzlichen Aufſtellung und Durchführung der Staatsein-
richtungen an ſämmtliche Staatsgenoſſen geſtellt werden, ſind
— wie bereits oben, § 9, S. 49, ausgeführt iſt, — doppelter
Art. Die eine, bisher beſprochene, Gattung betrifft die Her-
ſtellung der äußeren Ordnung und läßt ſich auch durch äußere
Mittel erzwingen; die andere dagegen verlangt einen vernünf-
tigen Willen von jedem Einzelnen in Beziehung auf das Zu-
ſammenleben, und ihre Erfüllung hängt lediglich von dem
Einfluſſe der Betreffenden ab. Die Forderungen der erſteren
Art ſind die des Rechtes, und zwar die des philoſophiſchen,
inſoferne ſie nur aus einer logiſchen Nothwendigkeit hervorgehen,
oder des poſitiven, wenn ſie durch eine zuſtändige Auctorität
als Befehle ausgeſprochen ſind; die der zweiten Art aber ſind
die der Sittlichkeit, und ſie beruhen ausſchließlich auf dem
Gewiſſen des Menſchen.
Das Verhältniß der beiden Syſteme von Forderungen zu
einander liegt klar vor. — Hinſichtlich des Gegenſtandes
ſowohl, als des Umfanges der beabſichtigten Wirkſamkeit
ſtehen ſie völlig gleich. Beide beziehen ſich auf das einheitlich
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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. [499]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/513>, abgerufen am 23.11.2024.
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