Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite
5) Es ist ganz unverständig, über Unduldsamkeit und Verfinsterungs-
sucht der christlichen Theokratie zu klagen und etwa als schlagendes Beispiel
Galliläi anzuführen. Eine Theokratie beruht nun einmal auf unbedingtem
Glauben; dieser aber hat keinen größeren Feind, als ein Wissen, welches
unvorsichtig aufgestellte Erzählungen oder Lehrsätze der heiligen Bücher oder
der späteren Kirche als unmöglich nachweist. Das Verbot eines solchen
Wissens mag ein verzweifeltes Mittel sein; aber es ist in der That das
einzige, wenn überhaupt die Theokratie erhalten werden will.
6) Ein Kriegsgott erleichterte die Einrichtung der bewaffneten Macht
in der muhamedanischen, der mexikanischen und der peruanischen Theokratie;
zu eigenen Kriegerkasten entschloß man sich in Indien und Egypten, freilich
mit großen Opfern und beständiger innerer Gefahr; am schwächsten war die
Einrichtung der christlichen Theokratie, welche unverbunden und selbstständig
ein weltliches Schwert neben das geistliche stellte.
§ 43.
4. Der klassische Staat.

Vollkommen verschieden von allen anderen Auffassungen
des organischen Zusammenlebens war die der klassischen Völker
des Alterthums, d. h. der Griechen und Römer. Da dieselbe
aber eine vernünftige Grundlage hat, so ist sie nicht etwa blos
bei einer vollständigen Uebersicht der geschichtlich ins Leben ge-
tretenen Staatseinrichtungen ins Auge zu fassen, sondern sie
kann und muß auch in ihrer wissenschaftlichen Allgemeinheit
behandelt werden und bildet so, unter der Benennung des
klassischen (oder des antiken) Staates einen Theil des
philosophischen Staatsrechts 1).

Der Grundgedanke dieser Staatsgattung ist ein möglichst
vollkommenes Gemeinleben
, in welchem die einzelne
Persönlichkeit ihre Befriedigung findet, aber auch vollkommen
aufgeht. Im Uebrigen mag die Richtung dieses Gemeinlebens,
und der Zweck, welchen sich dasselbe setzt, je nach der Ge-
sittigung und den äußeren Verhältnissen des Volkes verschieden
sein: Krieg und Herrschaft; Wissenschaft und Kunst; Gewerbe
und Handel.

5) Es iſt ganz unverſtändig, über Unduldſamkeit und Verfinſterungs-
ſucht der chriſtlichen Theokratie zu klagen und etwa als ſchlagendes Beiſpiel
Galliläi anzuführen. Eine Theokratie beruht nun einmal auf unbedingtem
Glauben; dieſer aber hat keinen größeren Feind, als ein Wiſſen, welches
unvorſichtig aufgeſtellte Erzählungen oder Lehrſätze der heiligen Bücher oder
der ſpäteren Kirche als unmöglich nachweiſt. Das Verbot eines ſolchen
Wiſſens mag ein verzweifeltes Mittel ſein; aber es iſt in der That das
einzige, wenn überhaupt die Theokratie erhalten werden will.
6) Ein Kriegsgott erleichterte die Einrichtung der bewaffneten Macht
in der muhamedaniſchen, der mexikaniſchen und der peruaniſchen Theokratie;
zu eigenen Kriegerkaſten entſchloß man ſich in Indien und Egypten, freilich
mit großen Opfern und beſtändiger innerer Gefahr; am ſchwächſten war die
Einrichtung der chriſtlichen Theokratie, welche unverbunden und ſelbſtſtändig
ein weltliches Schwert neben das geiſtliche ſtellte.
§ 43.
4. Der klaſſiſche Staat.

Vollkommen verſchieden von allen anderen Auffaſſungen
des organiſchen Zuſammenlebens war die der klaſſiſchen Völker
des Alterthums, d. h. der Griechen und Römer. Da dieſelbe
aber eine vernünftige Grundlage hat, ſo iſt ſie nicht etwa blos
bei einer vollſtändigen Ueberſicht der geſchichtlich ins Leben ge-
tretenen Staatseinrichtungen ins Auge zu faſſen, ſondern ſie
kann und muß auch in ihrer wiſſenſchaftlichen Allgemeinheit
behandelt werden und bildet ſo, unter der Benennung des
klaſſiſchen (oder des antiken) Staates einen Theil des
philoſophiſchen Staatsrechts 1).

Der Grundgedanke dieſer Staatsgattung iſt ein möglichſt
vollkommenes Gemeinleben
, in welchem die einzelne
Perſönlichkeit ihre Befriedigung findet, aber auch vollkommen
aufgeht. Im Uebrigen mag die Richtung dieſes Gemeinlebens,
und der Zweck, welchen ſich daſſelbe ſetzt, je nach der Ge-
ſittigung und den äußeren Verhältniſſen des Volkes verſchieden
ſein: Krieg und Herrſchaft; Wiſſenſchaft und Kunſt; Gewerbe
und Handel.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <pb facs="#f0332" n="318"/>
                  <note place="end" n="5)">Es i&#x017F;t ganz unver&#x017F;tändig, über Unduld&#x017F;amkeit und Verfin&#x017F;terungs-<lb/>
&#x017F;ucht der chri&#x017F;tlichen Theokratie zu klagen und etwa als &#x017F;chlagendes Bei&#x017F;piel<lb/>
Galliläi anzuführen. Eine Theokratie beruht nun einmal auf unbedingtem<lb/>
Glauben; die&#x017F;er aber hat keinen größeren Feind, als ein Wi&#x017F;&#x017F;en, welches<lb/>
unvor&#x017F;ichtig aufge&#x017F;tellte Erzählungen oder Lehr&#x017F;ätze der heiligen Bücher oder<lb/>
der &#x017F;päteren Kirche als unmöglich nachwei&#x017F;t. Das Verbot eines &#x017F;olchen<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;ens mag ein verzweifeltes Mittel &#x017F;ein; aber es i&#x017F;t in der That das<lb/>
einzige, wenn überhaupt die Theokratie erhalten werden will.</note><lb/>
                  <note place="end" n="6)">Ein Kriegsgott erleichterte die Einrichtung der bewaffneten Macht<lb/>
in der muhamedani&#x017F;chen, der mexikani&#x017F;chen und der peruani&#x017F;chen Theokratie;<lb/>
zu eigenen Kriegerka&#x017F;ten ent&#x017F;chloß man &#x017F;ich in Indien und Egypten, freilich<lb/>
mit großen Opfern und be&#x017F;tändiger innerer Gefahr; am &#x017F;chwäch&#x017F;ten war die<lb/>
Einrichtung der chri&#x017F;tlichen Theokratie, welche unverbunden und &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tändig<lb/>
ein weltliches Schwert neben das gei&#x017F;tliche &#x017F;tellte.</note>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§ 43.<lb/><hi rendition="#b">4. Der kla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Staat.</hi></head><lb/>
                  <p>Vollkommen ver&#x017F;chieden von allen anderen Auffa&#x017F;&#x017F;ungen<lb/>
des organi&#x017F;chen Zu&#x017F;ammenlebens war die der kla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Völker<lb/>
des Alterthums, d. h. der Griechen und Römer. Da die&#x017F;elbe<lb/>
aber eine vernünftige Grundlage hat, &#x017F;o i&#x017F;t &#x017F;ie nicht etwa blos<lb/>
bei einer voll&#x017F;tändigen Ueber&#x017F;icht der ge&#x017F;chichtlich ins Leben ge-<lb/>
tretenen Staatseinrichtungen ins Auge zu fa&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ondern &#x017F;ie<lb/>
kann und muß auch in ihrer wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Allgemeinheit<lb/>
behandelt werden und bildet &#x017F;o, unter der Benennung des<lb/><hi rendition="#g">kla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen</hi> (oder des <hi rendition="#g">antiken</hi>) Staates einen Theil des<lb/>
philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Staatsrechts <hi rendition="#sup">1</hi>).</p><lb/>
                  <p>Der Grundgedanke die&#x017F;er Staatsgattung i&#x017F;t ein <hi rendition="#g">möglich&#x017F;t<lb/>
vollkommenes Gemeinleben</hi>, in welchem die einzelne<lb/>
Per&#x017F;önlichkeit ihre Befriedigung findet, aber auch vollkommen<lb/>
aufgeht. Im Uebrigen mag die Richtung die&#x017F;es Gemeinlebens,<lb/>
und der Zweck, welchen &#x017F;ich da&#x017F;&#x017F;elbe &#x017F;etzt, je nach der Ge-<lb/>
&#x017F;ittigung und den äußeren Verhältni&#x017F;&#x017F;en des Volkes ver&#x017F;chieden<lb/>
&#x017F;ein: Krieg und Herr&#x017F;chaft; Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft und Kun&#x017F;t; Gewerbe<lb/>
und Handel.</p><lb/>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[318/0332] ⁵⁾ Es iſt ganz unverſtändig, über Unduldſamkeit und Verfinſterungs- ſucht der chriſtlichen Theokratie zu klagen und etwa als ſchlagendes Beiſpiel Galliläi anzuführen. Eine Theokratie beruht nun einmal auf unbedingtem Glauben; dieſer aber hat keinen größeren Feind, als ein Wiſſen, welches unvorſichtig aufgeſtellte Erzählungen oder Lehrſätze der heiligen Bücher oder der ſpäteren Kirche als unmöglich nachweiſt. Das Verbot eines ſolchen Wiſſens mag ein verzweifeltes Mittel ſein; aber es iſt in der That das einzige, wenn überhaupt die Theokratie erhalten werden will. ⁶⁾ Ein Kriegsgott erleichterte die Einrichtung der bewaffneten Macht in der muhamedaniſchen, der mexikaniſchen und der peruaniſchen Theokratie; zu eigenen Kriegerkaſten entſchloß man ſich in Indien und Egypten, freilich mit großen Opfern und beſtändiger innerer Gefahr; am ſchwächſten war die Einrichtung der chriſtlichen Theokratie, welche unverbunden und ſelbſtſtändig ein weltliches Schwert neben das geiſtliche ſtellte. § 43. 4. Der klaſſiſche Staat. Vollkommen verſchieden von allen anderen Auffaſſungen des organiſchen Zuſammenlebens war die der klaſſiſchen Völker des Alterthums, d. h. der Griechen und Römer. Da dieſelbe aber eine vernünftige Grundlage hat, ſo iſt ſie nicht etwa blos bei einer vollſtändigen Ueberſicht der geſchichtlich ins Leben ge- tretenen Staatseinrichtungen ins Auge zu faſſen, ſondern ſie kann und muß auch in ihrer wiſſenſchaftlichen Allgemeinheit behandelt werden und bildet ſo, unter der Benennung des klaſſiſchen (oder des antiken) Staates einen Theil des philoſophiſchen Staatsrechts 1). Der Grundgedanke dieſer Staatsgattung iſt ein möglichſt vollkommenes Gemeinleben, in welchem die einzelne Perſönlichkeit ihre Befriedigung findet, aber auch vollkommen aufgeht. Im Uebrigen mag die Richtung dieſes Gemeinlebens, und der Zweck, welchen ſich daſſelbe ſetzt, je nach der Ge- ſittigung und den äußeren Verhältniſſen des Volkes verſchieden ſein: Krieg und Herrſchaft; Wiſſenſchaft und Kunſt; Gewerbe und Handel.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/332
Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/332>, abgerufen am 21.11.2024.