Wie sich das so artig gegen einander erklärt, mein Freund! wir sind beyde allein, und schreiben Ih- nen, was wir uns einander zu sagen haben! In der That ein sonderbarer Einfall. Aber nichts überwindet die Tu- gend eines siebzigjährigen Mannes, der an beyden Füssen gelähmt ist. Ich segne mein Alter und meine Gicht, die mir die unverdächtige Freyheit verschafft, meine geliebte Freundinn, wöchentlich zweymal zu sehen, und schmähle auf meinen Vetter, daß er so lange ausbleibt, um dem gu- ten Kinde das zu sagen, was ich ihm, wenn ich funfzig Jahre weniger hätte, gern selbst sagte.
Nun erwarte ich aber auch von Ihnen, daß Sie mei- ner Liebe Beyfall geben, und die Bewegungsgründe recht- fertigen, woraus ich handle. In unserm ganzen Leben haben wir keine getreuere Freunde als unsre Neigungen und Leidenschaften, und wer sein theures Selbst untersucht, wird finden, daß sie der Tugend die grösten Dienste leisten. Unter allen ist die Liebe als Leidenschaft diejenige, so unser Wohlwollen, unsre Großmuth und unsre Thätigkeit aufs angenehmste unterhält, und sich am besten zu einem gicht- brüchigen Körper schickt, den der Ehrgeiz zu sehr erschüt- tern und der Geiz auszehren würde. Sie führt die schmei- chelhaftesten Würkungen mit sich, und Schmeicheleyen sind unser Eigenliebe in jedem Alter willkommen. Unter dem Schutze der Achtung, welche uns ein liebenswürdiges Frauen- zimmer erzeigt, gehn wir in Gesellschaften noch so mit durch, und die Jugend muß uns ehren, wenn sie derjenigen gefal- len will, die uns ihrer vorzüglichen Aufmerksamkeit werth hält. Wie viel Bewegungsgründe um auch im Alter zu lieben! wie viel Bedürfnis! wie viel Klugheit! wie viele
gute
So mag man noch im Alter lieben.
Von Ihm.
Wie ſich das ſo artig gegen einander erklaͤrt, mein Freund! wir ſind beyde allein, und ſchreiben Ih- nen, was wir uns einander zu ſagen haben! In der That ein ſonderbarer Einfall. Aber nichts uͤberwindet die Tu- gend eines ſiebzigjaͤhrigen Mannes, der an beyden Fuͤſſen gelaͤhmt iſt. Ich ſegne mein Alter und meine Gicht, die mir die unverdaͤchtige Freyheit verſchafft, meine geliebte Freundinn, woͤchentlich zweymal zu ſehen, und ſchmaͤhle auf meinen Vetter, daß er ſo lange ausbleibt, um dem gu- ten Kinde das zu ſagen, was ich ihm, wenn ich funfzig Jahre weniger haͤtte, gern ſelbſt ſagte.
Nun erwarte ich aber auch von Ihnen, daß Sie mei- ner Liebe Beyfall geben, und die Bewegungsgruͤnde recht- fertigen, woraus ich handle. In unſerm ganzen Leben haben wir keine getreuere Freunde als unſre Neigungen und Leidenſchaften, und wer ſein theures Selbſt unterſucht, wird finden, daß ſie der Tugend die groͤſten Dienſte leiſten. Unter allen iſt die Liebe als Leidenſchaft diejenige, ſo unſer Wohlwollen, unſre Großmuth und unſre Thaͤtigkeit aufs angenehmſte unterhaͤlt, und ſich am beſten zu einem gicht- bruͤchigen Koͤrper ſchickt, den der Ehrgeiz zu ſehr erſchuͤt- tern und der Geiz auszehren wuͤrde. Sie fuͤhrt die ſchmei- chelhafteſten Wuͤrkungen mit ſich, und Schmeicheleyen ſind unſer Eigenliebe in jedem Alter willkommen. Unter dem Schutze der Achtung, welche uns ein liebenswuͤrdiges Frauen- zimmer erzeigt, gehn wir in Geſellſchaften noch ſo mit durch, und die Jugend muß uns ehren, wenn ſie derjenigen gefal- len will, die uns ihrer vorzuͤglichen Aufmerkſamkeit werth haͤlt. Wie viel Bewegungsgruͤnde um auch im Alter zu lieben! wie viel Beduͤrfnis! wie viel Klugheit! wie viele
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So mag man noch im Alter lieben.
Von Ihm.
Wie ſich das ſo artig gegen einander erklaͤrt, mein
Freund! wir ſind beyde allein, und ſchreiben Ih-
nen, was wir uns einander zu ſagen haben! In der That
ein ſonderbarer Einfall. Aber nichts uͤberwindet die Tu-
gend eines ſiebzigjaͤhrigen Mannes, der an beyden Fuͤſſen
gelaͤhmt iſt. Ich ſegne mein Alter und meine Gicht, die
mir die unverdaͤchtige Freyheit verſchafft, meine geliebte
Freundinn, woͤchentlich zweymal zu ſehen, und ſchmaͤhle
auf meinen Vetter, daß er ſo lange ausbleibt, um dem gu-
ten Kinde das zu ſagen, was ich ihm, wenn ich funfzig
Jahre weniger haͤtte, gern ſelbſt ſagte.
Nun erwarte ich aber auch von Ihnen, daß Sie mei-
ner Liebe Beyfall geben, und die Bewegungsgruͤnde recht-
fertigen, woraus ich handle. In unſerm ganzen Leben
haben wir keine getreuere Freunde als unſre Neigungen
und Leidenſchaften, und wer ſein theures Selbſt unterſucht,
wird finden, daß ſie der Tugend die groͤſten Dienſte leiſten.
Unter allen iſt die Liebe als Leidenſchaft diejenige, ſo unſer
Wohlwollen, unſre Großmuth und unſre Thaͤtigkeit aufs
angenehmſte unterhaͤlt, und ſich am beſten zu einem gicht-
bruͤchigen Koͤrper ſchickt, den der Ehrgeiz zu ſehr erſchuͤt-
tern und der Geiz auszehren wuͤrde. Sie fuͤhrt die ſchmei-
chelhafteſten Wuͤrkungen mit ſich, und Schmeicheleyen ſind
unſer Eigenliebe in jedem Alter willkommen. Unter dem
Schutze der Achtung, welche uns ein liebenswuͤrdiges Frauen-
zimmer erzeigt, gehn wir in Geſellſchaften noch ſo mit durch,
und die Jugend muß uns ehren, wenn ſie derjenigen gefal-
len will, die uns ihrer vorzuͤglichen Aufmerkſamkeit werth
haͤlt. Wie viel Bewegungsgruͤnde um auch im Alter zu
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Für das DTA wurde die „Neue verbesserte und verme… [mehr]
Für das DTA wurde die „Neue verbesserte und vermehrte Auflage“ des 3. Teils von Justus Mösers „Patriotischen Phantasien“ zur Digitalisierung ausgewählt. Sie erschien 1778, also im selben Jahr wie die Erstauflage dieses Bandes, und ist bis S. 260 seitenidentisch mit dieser. Die Abschnitte LX („Gedanken über den westphälischen Leibeigenthum“) bis LXVIII („Gedanken über den Stillestand der Leibeignen“) sind Ergänzungen gegenüber der ersten Auflage.
Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/72>, abgerufen am 03.12.2024.
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