Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Rath einer guten Tante
Theile wollten sie diese Abgaben am liebsten entrichten? Von
ihren Tugenden, oder von ihren Taubenflügeln? Am liebsten
von keinen. Aber wenn es nun nicht anders seyn könnte? ..
Küssen sie ihrer lieben Tante die Hand zur Dankbarkeit, so
oft sie sich über den Schnitt ihres Kleides aufhält, und denn
kommen sie zu mir: so wollen wir gemeinschaftlich überlegen,
ob wir den Schnitt ändern wollen oder nicht. Unser eigenes
Urtheil soll die Entscheidung verrichten; wir wollen nicht
strenge, aber auch keine solche Kinder seyn, die sich von jedem
Thoren am Gängelbändgen leiten lassen.



LIX.
Der Rath einer guten Tante an
ihre junge Niece.

Ihr Entschluß ist gefährlich meine liebe Niece bey so jungen
Jahren allen Frivoliteten abzusagen. Das einzige was
Sie dadurch gewinnen werden, ist dieses, daß sie die ganze
Gesellschaft in Erstaunen setzen; und im Vertrauen gesagt,
die Erstaunten erholen sich bald von dem ersten heftigen Anfall,
und lassen es hernach insgemein derjenigen entgelten, die ih-
nen diesen Paroxismus verursacht hat. Es ist auch für ein
junges Mädgen nicht gut, gar zu sehr in dem Rufe der Weiß-
heit und Tugend zu stehen. Die Welt glaubt doch sie spiele
nur eine Rolle, und das Rollenspielen, wenn es zu früh ge-
schieht, erweckt Nachdenken. Man übertreibt sie insgemein,
und nur eine Italiänerin von 14 Jahren ist im Stande, unter
der Maske der kindischen Unschuld, ihre von der schlauen
Mutter erlernte Kunst, auf eine glückliche Art in Uebung zu

setzen.

Der Rath einer guten Tante
Theile wollten ſie dieſe Abgaben am liebſten entrichten? Von
ihren Tugenden, oder von ihren Taubenfluͤgeln? Am liebſten
von keinen. Aber wenn es nun nicht anders ſeyn koͤnnte? ..
Kuͤſſen ſie ihrer lieben Tante die Hand zur Dankbarkeit, ſo
oft ſie ſich uͤber den Schnitt ihres Kleides aufhaͤlt, und denn
kommen ſie zu mir: ſo wollen wir gemeinſchaftlich uͤberlegen,
ob wir den Schnitt aͤndern wollen oder nicht. Unſer eigenes
Urtheil ſoll die Entſcheidung verrichten; wir wollen nicht
ſtrenge, aber auch keine ſolche Kinder ſeyn, die ſich von jedem
Thoren am Gaͤngelbaͤndgen leiten laſſen.



LIX.
Der Rath einer guten Tante an
ihre junge Niece.

Ihr Entſchluß iſt gefaͤhrlich meine liebe Niece bey ſo jungen
Jahren allen Frivoliteten abzuſagen. Das einzige was
Sie dadurch gewinnen werden, iſt dieſes, daß ſie die ganze
Geſellſchaft in Erſtaunen ſetzen; und im Vertrauen geſagt,
die Erſtaunten erholen ſich bald von dem erſten heftigen Anfall,
und laſſen es hernach insgemein derjenigen entgelten, die ih-
nen dieſen Paroxiſmus verurſacht hat. Es iſt auch fuͤr ein
junges Maͤdgen nicht gut, gar zu ſehr in dem Rufe der Weiß-
heit und Tugend zu ſtehen. Die Welt glaubt doch ſie ſpiele
nur eine Rolle, und das Rollenſpielen, wenn es zu fruͤh ge-
ſchieht, erweckt Nachdenken. Man uͤbertreibt ſie insgemein,
und nur eine Italiaͤnerin von 14 Jahren iſt im Stande, unter
der Maske der kindiſchen Unſchuld, ihre von der ſchlauen
Mutter erlernte Kunſt, auf eine gluͤckliche Art in Uebung zu

ſetzen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0378" n="360"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Der Rath einer guten Tante</hi></fw><lb/>
Theile wollten &#x017F;ie die&#x017F;e Abgaben am lieb&#x017F;ten entrichten? Von<lb/>
ihren Tugenden, oder von ihren Taubenflu&#x0364;geln? Am lieb&#x017F;ten<lb/>
von keinen. Aber wenn es nun nicht anders &#x017F;eyn ko&#x0364;nnte? ..<lb/>
Ku&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie ihrer lieben Tante die Hand zur Dankbarkeit, &#x017F;o<lb/>
oft &#x017F;ie &#x017F;ich u&#x0364;ber den Schnitt ihres Kleides aufha&#x0364;lt, und denn<lb/>
kommen &#x017F;ie zu mir: &#x017F;o wollen wir gemein&#x017F;chaftlich u&#x0364;berlegen,<lb/>
ob wir den Schnitt a&#x0364;ndern wollen oder nicht. Un&#x017F;er eigenes<lb/>
Urtheil &#x017F;oll die Ent&#x017F;cheidung verrichten; wir wollen nicht<lb/>
&#x017F;trenge, aber auch keine &#x017F;olche Kinder &#x017F;eyn, die &#x017F;ich von jedem<lb/>
Thoren am Ga&#x0364;ngelba&#x0364;ndgen leiten la&#x017F;&#x017F;en.</p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">LIX.</hi><lb/>
Der Rath einer guten Tante an<lb/>
ihre junge Niece.</hi> </head><lb/>
        <p>Ihr Ent&#x017F;chluß i&#x017F;t gefa&#x0364;hrlich meine liebe Niece bey &#x017F;o jungen<lb/>
Jahren allen Frivoliteten abzu&#x017F;agen. Das einzige was<lb/>
Sie dadurch gewinnen werden, i&#x017F;t die&#x017F;es, daß &#x017F;ie die ganze<lb/>
Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft in Er&#x017F;taunen &#x017F;etzen; und im Vertrauen ge&#x017F;agt,<lb/>
die Er&#x017F;taunten erholen &#x017F;ich bald von dem er&#x017F;ten heftigen Anfall,<lb/>
und la&#x017F;&#x017F;en es hernach insgemein derjenigen entgelten, die ih-<lb/>
nen die&#x017F;en Paroxi&#x017F;mus verur&#x017F;acht hat. Es i&#x017F;t auch fu&#x0364;r ein<lb/>
junges Ma&#x0364;dgen nicht gut, gar zu &#x017F;ehr in dem Rufe der Weiß-<lb/>
heit und Tugend zu &#x017F;tehen. Die Welt glaubt doch &#x017F;ie &#x017F;piele<lb/>
nur eine Rolle, und das Rollen&#x017F;pielen, wenn es zu fru&#x0364;h ge-<lb/>
&#x017F;chieht, erweckt Nachdenken. Man u&#x0364;bertreibt &#x017F;ie insgemein,<lb/>
und nur eine Italia&#x0364;nerin von 14 Jahren i&#x017F;t im Stande, unter<lb/>
der Maske der kindi&#x017F;chen Un&#x017F;chuld, ihre von der &#x017F;chlauen<lb/>
Mutter erlernte Kun&#x017F;t, auf eine glu&#x0364;ckliche Art in Uebung zu<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;etzen.</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[360/0378] Der Rath einer guten Tante Theile wollten ſie dieſe Abgaben am liebſten entrichten? Von ihren Tugenden, oder von ihren Taubenfluͤgeln? Am liebſten von keinen. Aber wenn es nun nicht anders ſeyn koͤnnte? .. Kuͤſſen ſie ihrer lieben Tante die Hand zur Dankbarkeit, ſo oft ſie ſich uͤber den Schnitt ihres Kleides aufhaͤlt, und denn kommen ſie zu mir: ſo wollen wir gemeinſchaftlich uͤberlegen, ob wir den Schnitt aͤndern wollen oder nicht. Unſer eigenes Urtheil ſoll die Entſcheidung verrichten; wir wollen nicht ſtrenge, aber auch keine ſolche Kinder ſeyn, die ſich von jedem Thoren am Gaͤngelbaͤndgen leiten laſſen. LIX. Der Rath einer guten Tante an ihre junge Niece. Ihr Entſchluß iſt gefaͤhrlich meine liebe Niece bey ſo jungen Jahren allen Frivoliteten abzuſagen. Das einzige was Sie dadurch gewinnen werden, iſt dieſes, daß ſie die ganze Geſellſchaft in Erſtaunen ſetzen; und im Vertrauen geſagt, die Erſtaunten erholen ſich bald von dem erſten heftigen Anfall, und laſſen es hernach insgemein derjenigen entgelten, die ih- nen dieſen Paroxiſmus verurſacht hat. Es iſt auch fuͤr ein junges Maͤdgen nicht gut, gar zu ſehr in dem Rufe der Weiß- heit und Tugend zu ſtehen. Die Welt glaubt doch ſie ſpiele nur eine Rolle, und das Rollenſpielen, wenn es zu fruͤh ge- ſchieht, erweckt Nachdenken. Man uͤbertreibt ſie insgemein, und nur eine Italiaͤnerin von 14 Jahren iſt im Stande, unter der Maske der kindiſchen Unſchuld, ihre von der ſchlauen Mutter erlernte Kunſt, auf eine gluͤckliche Art in Uebung zu ſetzen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/378
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/378>, abgerufen am 21.12.2024.