LXV. Von der Neigung der Menschen, eher das Gute als das Böse von andern zu glauben.
Die Neigung der Menschen, eher das Böse als das Gute von andern zu glauben, ist unlängst sehr angefochten, und als eine Tochter des Stolzes und des Neides verabscheuet worden. Unsere Großmütter dachten aber ganz anders, als z. E. wenn ein lediges Frauenzimmer auf öffentlichen Plätzen allein spatzierte: so glaubten sie gleich, es geschähe um ein gutes Ebentheuer zu suchen. Gieng sie mit einer Mannsperson allein, so hieß es: die Vögel zögen zu Neste. Gieng einer mit schlechten Leuten um: so hatte gleich und gleich sich gesellet; machte ein Bedienter oder eine Bedientin zu großen Aufwand: so gieng das nicht von rechten Dingen zu, der Mann muste Rips Raps und die Frau sonst was gemacht haben. Kurz, sie legten jeden zweydeutigen Schein böse aus, glaubten, daß alle, die sich einer Versuchung freywillig blos stelleten, leicht darin umkämen, und dachten, Gelegenheit mache Diebe. Durch diese practische Maximen nöthigten sie sowol junge als alte, nicht allein allen bösen Schein, sondern auch alle Versu- chung und Gelegenheit zu fliehen.
Der Rechtsgelehrte hält jeden für einen ehrlichen Mann bis das Gegentheil erwiesen ist. Dies gilt von äusserlichen Handlungen, welche der Richter zu bestrafen hat. Die Sit- tenlehre hält alle Menschen für arme Sünder, um sie zu nö- thigen, durch eine beständige Thätigkeit in guten Handlungen zum allgemeinen Besten das Gegentheil zu zeigen. Er sieht
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LXV. Von der Neigung der Menſchen, eher das Gute als das Boͤſe von andern zu glauben.
Die Neigung der Menſchen, eher das Boͤſe als das Gute von andern zu glauben, iſt unlaͤngſt ſehr angefochten, und als eine Tochter des Stolzes und des Neides verabſcheuet worden. Unſere Großmuͤtter dachten aber ganz anders, als z. E. wenn ein lediges Frauenzimmer auf oͤffentlichen Plaͤtzen allein ſpatzierte: ſo glaubten ſie gleich, es geſchaͤhe um ein gutes Ebentheuer zu ſuchen. Gieng ſie mit einer Mannsperſon allein, ſo hieß es: die Voͤgel zoͤgen zu Neſte. Gieng einer mit ſchlechten Leuten um: ſo hatte gleich und gleich ſich geſellet; machte ein Bedienter oder eine Bedientin zu großen Aufwand: ſo gieng das nicht von rechten Dingen zu, der Mann muſte Rips Raps und die Frau ſonſt was gemacht haben. Kurz, ſie legten jeden zweydeutigen Schein boͤſe aus, glaubten, daß alle, die ſich einer Verſuchung freywillig blos ſtelleten, leicht darin umkaͤmen, und dachten, Gelegenheit mache Diebe. Durch dieſe practiſche Maximen noͤthigten ſie ſowol junge als alte, nicht allein allen boͤſen Schein, ſondern auch alle Verſu- chung und Gelegenheit zu fliehen.
Der Rechtsgelehrte haͤlt jeden fuͤr einen ehrlichen Mann bis das Gegentheil erwieſen iſt. Dies gilt von aͤuſſerlichen Handlungen, welche der Richter zu beſtrafen hat. Die Sit- tenlehre haͤlt alle Menſchen fuͤr arme Suͤnder, um ſie zu noͤ- thigen, durch eine beſtaͤndige Thaͤtigkeit in guten Handlungen zum allgemeinen Beſten das Gegentheil zu zeigen. Er ſieht
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LXV.
Von der Neigung der Menſchen, eher das Gute
als das Boͤſe von andern zu glauben.
Die Neigung der Menſchen, eher das Boͤſe als das Gute
von andern zu glauben, iſt unlaͤngſt ſehr angefochten,
und als eine Tochter des Stolzes und des Neides verabſcheuet
worden. Unſere Großmuͤtter dachten aber ganz anders, als z. E.
wenn ein lediges Frauenzimmer auf oͤffentlichen Plaͤtzen allein
ſpatzierte: ſo glaubten ſie gleich, es geſchaͤhe um ein gutes
Ebentheuer zu ſuchen. Gieng ſie mit einer Mannsperſon
allein, ſo hieß es: die Voͤgel zoͤgen zu Neſte. Gieng einer
mit ſchlechten Leuten um: ſo hatte gleich und gleich ſich geſellet;
machte ein Bedienter oder eine Bedientin zu großen Aufwand:
ſo gieng das nicht von rechten Dingen zu, der Mann muſte
Rips Raps und die Frau ſonſt was gemacht haben. Kurz,
ſie legten jeden zweydeutigen Schein boͤſe aus, glaubten, daß
alle, die ſich einer Verſuchung freywillig blos ſtelleten, leicht
darin umkaͤmen, und dachten, Gelegenheit mache Diebe.
Durch dieſe practiſche Maximen noͤthigten ſie ſowol junge als
alte, nicht allein allen boͤſen Schein, ſondern auch alle Verſu-
chung und Gelegenheit zu fliehen.
Der Rechtsgelehrte haͤlt jeden fuͤr einen ehrlichen Mann
bis das Gegentheil erwieſen iſt. Dies gilt von aͤuſſerlichen
Handlungen, welche der Richter zu beſtrafen hat. Die Sit-
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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/385>, abgerufen am 23.11.2024.
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