Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite
An Clara.
Höre das lieblichste Wunder, das ich fürwahr nicht er¬
dichte,

Auch erdichtet wär' es wohl schön, doch sah ich's mit
Augen.

Unter dem blühenden Apfelbaum saß ich auf dem be¬
moosten

Mäuerchen, still in Gedanken vertieft; es ruhte das neue
Testament mir halbgeöffnet zwischen den Fingern,
Klein und zierlich gebunden: (es kam vom treuesten
Herzen --

Ach, du ruhest nun auch, mir unvergessen, im Grabe!)
Lange saß ich und blickte nicht auf; mit Einem so läßt sich
Mir ein Schmetterling nieder auf's Buch, er hebet und
senket

Dunkle Flügel mit schillerndem Blau, er dreht sich und
wandelt

Hin und her auf dem Rande. Was suchst du, reizender
Sylphe?

Lockte die blaue Decke dich an, der glänzende Goldschnitt?
Sahst du, getäuscht, im Büchlein die herrlichste Wunder¬
blume?

Oder zogen geheim dich himmlische Kräfte hernieder
Des lebendigen Worts? Ich muß es glauben, denn
immer

Weilest du noch, wie gebannt und scheinst wie trunken,
ich staune!

An Clara.
Hoͤre das lieblichſte Wunder, das ich fuͤrwahr nicht er¬
dichte,

Auch erdichtet waͤr' es wohl ſchoͤn, doch ſah ich's mit
Augen.

Unter dem bluͤhenden Apfelbaum ſaß ich auf dem be¬
mooſten

Maͤuerchen, ſtill in Gedanken vertieft; es ruhte das neue
Teſtament mir halbgeoͤffnet zwiſchen den Fingern,
Klein und zierlich gebunden: (es kam vom treueſten
Herzen —

Ach, du ruheſt nun auch, mir unvergeſſen, im Grabe!)
Lange ſaß ich und blickte nicht auf; mit Einem ſo laͤßt ſich
Mir ein Schmetterling nieder auf's Buch, er hebet und
ſenket

Dunkle Fluͤgel mit ſchillerndem Blau, er dreht ſich und
wandelt

Hin und her auf dem Rande. Was ſuchſt du, reizender
Sylphe?

Lockte die blaue Decke dich an, der glaͤnzende Goldſchnitt?
Sahſt du, getaͤuſcht, im Buͤchlein die herrlichſte Wunder¬
blume?

Oder zogen geheim dich himmliſche Kraͤfte hernieder
Des lebendigen Worts? Ich muß es glauben, denn
immer

Weileſt du noch, wie gebannt und ſcheinſt wie trunken,
ich ſtaune!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0126" n="110"/>
      </div>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b #g">An Clara.</hi><lb/>
        </head>
        <lg type="poem">
          <l>Ho&#x0364;re das lieblich&#x017F;te Wunder, das ich fu&#x0364;rwahr nicht er¬<lb/><hi rendition="#et">dichte,</hi></l><lb/>
          <l>Auch erdichtet wa&#x0364;r' es wohl &#x017F;cho&#x0364;n, doch &#x017F;ah ich's mit<lb/><hi rendition="#et">Augen.</hi></l><lb/>
          <l>Unter dem blu&#x0364;henden Apfelbaum &#x017F;aß ich auf dem be¬<lb/><hi rendition="#et">moo&#x017F;ten</hi></l><lb/>
          <l>Ma&#x0364;uerchen, &#x017F;till in Gedanken vertieft; es ruhte das neue</l><lb/>
          <l>Te&#x017F;tament mir halbgeo&#x0364;ffnet zwi&#x017F;chen den Fingern,</l><lb/>
          <l>Klein und zierlich gebunden: (es kam vom treue&#x017F;ten<lb/><hi rendition="#et">Herzen &#x2014;</hi></l><lb/>
          <l>Ach, du ruhe&#x017F;t nun auch, mir unverge&#x017F;&#x017F;en, im Grabe!)</l><lb/>
          <l>Lange &#x017F;aß ich und blickte nicht auf; mit Einem &#x017F;o la&#x0364;ßt &#x017F;ich</l><lb/>
          <l>Mir ein Schmetterling nieder auf's Buch, er hebet und<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;enket</hi></l><lb/>
          <l>Dunkle Flu&#x0364;gel mit &#x017F;chillerndem Blau, er dreht &#x017F;ich und<lb/><hi rendition="#et">wandelt</hi></l><lb/>
          <l>Hin und her auf dem Rande. Was &#x017F;uch&#x017F;t du, reizender<lb/><hi rendition="#et">Sylphe?</hi></l><lb/>
          <l>Lockte die blaue Decke dich an, der gla&#x0364;nzende Gold&#x017F;chnitt?</l><lb/>
          <l>Sah&#x017F;t du, geta&#x0364;u&#x017F;cht, im Bu&#x0364;chlein die herrlich&#x017F;te Wunder¬<lb/><hi rendition="#et">blume?</hi></l><lb/>
          <l>Oder zogen geheim dich himmli&#x017F;che Kra&#x0364;fte hernieder</l><lb/>
          <l>Des lebendigen Worts? Ich muß es glauben, denn<lb/><hi rendition="#et">immer</hi></l><lb/>
          <l>Weile&#x017F;t du noch, wie gebannt und &#x017F;chein&#x017F;t wie trunken,<lb/><hi rendition="#et">ich &#x017F;taune!</hi></l><lb/>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[110/0126] An Clara. Hoͤre das lieblichſte Wunder, das ich fuͤrwahr nicht er¬ dichte, Auch erdichtet waͤr' es wohl ſchoͤn, doch ſah ich's mit Augen. Unter dem bluͤhenden Apfelbaum ſaß ich auf dem be¬ mooſten Maͤuerchen, ſtill in Gedanken vertieft; es ruhte das neue Teſtament mir halbgeoͤffnet zwiſchen den Fingern, Klein und zierlich gebunden: (es kam vom treueſten Herzen — Ach, du ruheſt nun auch, mir unvergeſſen, im Grabe!) Lange ſaß ich und blickte nicht auf; mit Einem ſo laͤßt ſich Mir ein Schmetterling nieder auf's Buch, er hebet und ſenket Dunkle Fluͤgel mit ſchillerndem Blau, er dreht ſich und wandelt Hin und her auf dem Rande. Was ſuchſt du, reizender Sylphe? Lockte die blaue Decke dich an, der glaͤnzende Goldſchnitt? Sahſt du, getaͤuſcht, im Buͤchlein die herrlichſte Wunder¬ blume? Oder zogen geheim dich himmliſche Kraͤfte hernieder Des lebendigen Worts? Ich muß es glauben, denn immer Weileſt du noch, wie gebannt und ſcheinſt wie trunken, ich ſtaune!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_gedichte_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_gedichte_1838/126
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_gedichte_1838/126>, abgerufen am 22.12.2024.