Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

Bild:
<< vorherige Seite
Sechstes Kapitel.

In einer vorgerückten Morgenstunde des folgenden
Tages saß der Provveditore Grimani in einem kleinen
behaglichen Gemache seines Palastes. Das einzige hohe
Fenster war von reichen bis auf den Fußboden herab¬
fließenden Falten grüner Seide halb verhüllt, doch
streifte ein voller Lichtstrahl die silberglänzende Frühstücks¬
tafel und verweilte, von den verlockend zarten Farben
angezogen, auf einer lebensgroßen Venus aus Tizians
Schule. Von der Sonne berührt schien die Göttin,
die auf mattem Hintergrunde wie frei über der breiten
Thüre ruhte, wonnevoll zu athmen und sich vorzubeu¬
gen, das stille Gemach mit blendender Schönheit er¬
füllend.

Dem Provveditore gegenüber saß sein ehrenwerther
Gast, Herr Heinrich Waser, diesmal mit sorgenbelasteter
Stirne. Er war nicht gestimmt auf die feine, über

Sechſtes Kapitel.

In einer vorgerückten Morgenſtunde des folgenden
Tages ſaß der Provveditore Grimani in einem kleinen
behaglichen Gemache ſeines Palaſtes. Das einzige hohe
Fenſter war von reichen bis auf den Fußboden herab¬
fließenden Falten grüner Seide halb verhüllt, doch
ſtreifte ein voller Lichtſtrahl die ſilberglänzende Frühſtücks¬
tafel und verweilte, von den verlockend zarten Farben
angezogen, auf einer lebensgroßen Venus aus Tizians
Schule. Von der Sonne berührt ſchien die Göttin,
die auf mattem Hintergrunde wie frei über der breiten
Thüre ruhte, wonnevoll zu athmen und ſich vorzubeu¬
gen, das ſtille Gemach mit blendender Schönheit er¬
füllend.

Dem Provveditore gegenüber ſaß ſein ehrenwerther
Gaſt, Herr Heinrich Waſer, diesmal mit ſorgenbelaſteter
Stirne. Er war nicht geſtimmt auf die feine, über

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0192"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b #fr">Sech&#x017F;tes Kapitel.</hi><lb/>
          </head>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>In einer vorgerückten Morgen&#x017F;tunde des folgenden<lb/>
Tages &#x017F;aß der Provveditore Grimani in einem kleinen<lb/>
behaglichen Gemache &#x017F;eines Pala&#x017F;tes. Das einzige hohe<lb/>
Fen&#x017F;ter war von reichen bis auf den Fußboden herab¬<lb/>
fließenden Falten grüner Seide halb verhüllt, doch<lb/>
&#x017F;treifte ein voller Licht&#x017F;trahl die &#x017F;ilberglänzende Früh&#x017F;tücks¬<lb/>
tafel und verweilte, von den verlockend zarten Farben<lb/>
angezogen, auf einer lebensgroßen Venus aus Tizians<lb/>
Schule. Von der Sonne berührt &#x017F;chien die Göttin,<lb/>
die auf mattem Hintergrunde wie frei über der breiten<lb/>
Thüre ruhte, wonnevoll zu athmen und &#x017F;ich vorzubeu¬<lb/>
gen, das &#x017F;tille Gemach mit blendender Schönheit er¬<lb/>
füllend.</p><lb/>
          <p>Dem Provveditore gegenüber &#x017F;&#x017F;ein ehrenwerther<lb/>
Ga&#x017F;t, Herr Heinrich Wa&#x017F;er, diesmal mit &#x017F;orgenbela&#x017F;teter<lb/>
Stirne. Er war nicht ge&#x017F;timmt auf die feine, über<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0192] Sechſtes Kapitel. In einer vorgerückten Morgenſtunde des folgenden Tages ſaß der Provveditore Grimani in einem kleinen behaglichen Gemache ſeines Palaſtes. Das einzige hohe Fenſter war von reichen bis auf den Fußboden herab¬ fließenden Falten grüner Seide halb verhüllt, doch ſtreifte ein voller Lichtſtrahl die ſilberglänzende Frühſtücks¬ tafel und verweilte, von den verlockend zarten Farben angezogen, auf einer lebensgroßen Venus aus Tizians Schule. Von der Sonne berührt ſchien die Göttin, die auf mattem Hintergrunde wie frei über der breiten Thüre ruhte, wonnevoll zu athmen und ſich vorzubeu¬ gen, das ſtille Gemach mit blendender Schönheit er¬ füllend. Dem Provveditore gegenüber ſaß ſein ehrenwerther Gaſt, Herr Heinrich Waſer, diesmal mit ſorgenbelaſteter Stirne. Er war nicht geſtimmt auf die feine, über

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/192
Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/192>, abgerufen am 03.12.2024.