Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Seitenwunde.
Ueber ihre Thore statt der Muse
Meißeln die Baglioni die Meduse
Und an ihren grausen Hochzeitsfesten
Kämpft der Bräutigam mit seinen Gästen.
Heute liegen wieder sie wie Garben:
Blutsgenossen, die sich würgend starben!
Wo des Bruderhasses Fackel brannte,
Sucht das Kind und findet's Atalante.
Niederstarrend, auf das Knie gesunken,
Hebt des Sohnes Haupt sie jammertrunken,
Drüber hebt sie die geballte Rechte,
Daß sie fluche diesem Mordgeschlechte ...
Ihrem Knaben steht die Seite offen,
Wo der Speer Longin's den Herrn getroffen,
Ihres Knaben Haupt, ein blondes ist es,
Wie das dorngekrönte Haupt des Christes ...
Wie des Christes Haupt ist's ein erbleichtes,
Auf die Schulter friedevoll geneigtes,
Haß und Fluch erlischt auf ihrem Munde,
Sie verehrt die heil'ge Seitenwunde ...

19*
Die Seitenwunde.
Ueber ihre Thore ſtatt der Muſe
Meißeln die Baglioni die Meduſe
Und an ihren grauſen Hochzeitsfeſten
Kämpft der Bräutigam mit ſeinen Gäſten.
Heute liegen wieder ſie wie Garben:
Blutsgenoſſen, die ſich würgend ſtarben!
Wo des Bruderhaſſes Fackel brannte,
Sucht das Kind und findet's Atalante.
Niederſtarrend, auf das Knie geſunken,
Hebt des Sohnes Haupt ſie jammertrunken,
Drüber hebt ſie die geballte Rechte,
Daß ſie fluche dieſem Mordgeſchlechte ...
Ihrem Knaben ſteht die Seite offen,
Wo der Speer Longin's den Herrn getroffen,
Ihres Knaben Haupt, ein blondes iſt es,
Wie das dorngekrönte Haupt des Chriſtes ...
Wie des Chriſtes Haupt iſt's ein erbleichtes,
Auf die Schulter friedevoll geneigtes,
Haß und Fluch erliſcht auf ihrem Munde,
Sie verehrt die heil'ge Seitenwunde ...

19*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0305" n="291"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Die Seitenwunde.</hi><lb/>
          </head>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l>Ueber ihre Thore &#x017F;tatt der Mu&#x017F;e</l><lb/>
              <l>Meißeln die Baglioni die Medu&#x017F;e</l><lb/>
              <l>Und an ihren grau&#x017F;en Hochzeitsfe&#x017F;ten</l><lb/>
              <l>Kämpft der Bräutigam mit &#x017F;einen Gä&#x017F;ten.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="2">
              <l>Heute liegen wieder &#x017F;ie wie Garben:</l><lb/>
              <l>Blutsgeno&#x017F;&#x017F;en, die &#x017F;ich würgend &#x017F;tarben!</l><lb/>
              <l>Wo des Bruderha&#x017F;&#x017F;es Fackel brannte,</l><lb/>
              <l>Sucht das Kind und findet's Atalante.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="3">
              <l>Nieder&#x017F;tarrend, auf das Knie ge&#x017F;unken,</l><lb/>
              <l>Hebt des Sohnes Haupt &#x017F;ie jammertrunken,</l><lb/>
              <l>Drüber hebt &#x017F;ie die geballte Rechte,</l><lb/>
              <l>Daß &#x017F;ie fluche die&#x017F;em Mordge&#x017F;chlechte ...</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="4">
              <l>Ihrem Knaben &#x017F;teht die Seite offen,</l><lb/>
              <l>Wo der Speer Longin's den Herrn getroffen,</l><lb/>
              <l>Ihres Knaben Haupt, ein blondes i&#x017F;t es,</l><lb/>
              <l>Wie das dorngekrönte Haupt des Chri&#x017F;tes ...</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="5">
              <l>Wie des Chri&#x017F;tes Haupt i&#x017F;t's ein erbleichtes,</l><lb/>
              <l>Auf die Schulter friedevoll geneigtes,</l><lb/>
              <l>Haß und Fluch erli&#x017F;cht auf ihrem Munde,</l><lb/>
              <l>Sie verehrt die heil'ge Seitenwunde ...</l><lb/>
            </lg>
          </lg>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <fw place="bottom" type="sig">19*<lb/></fw>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[291/0305] Die Seitenwunde. Ueber ihre Thore ſtatt der Muſe Meißeln die Baglioni die Meduſe Und an ihren grauſen Hochzeitsfeſten Kämpft der Bräutigam mit ſeinen Gäſten. Heute liegen wieder ſie wie Garben: Blutsgenoſſen, die ſich würgend ſtarben! Wo des Bruderhaſſes Fackel brannte, Sucht das Kind und findet's Atalante. Niederſtarrend, auf das Knie geſunken, Hebt des Sohnes Haupt ſie jammertrunken, Drüber hebt ſie die geballte Rechte, Daß ſie fluche dieſem Mordgeſchlechte ... Ihrem Knaben ſteht die Seite offen, Wo der Speer Longin's den Herrn getroffen, Ihres Knaben Haupt, ein blondes iſt es, Wie das dorngekrönte Haupt des Chriſtes ... Wie des Chriſtes Haupt iſt's ein erbleichtes, Auf die Schulter friedevoll geneigtes, Haß und Fluch erliſcht auf ihrem Munde, Sie verehrt die heil'ge Seitenwunde ... 19*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/305
Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/305>, abgerufen am 22.12.2024.