Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.Die Seitenwunde. Ueber ihre Thore statt der Muse Meißeln die Baglioni die Meduse Und an ihren grausen Hochzeitsfesten Kämpft der Bräutigam mit seinen Gästen. Heute liegen wieder sie wie Garben: Blutsgenossen, die sich würgend starben! Wo des Bruderhasses Fackel brannte, Sucht das Kind und findet's Atalante. Niederstarrend, auf das Knie gesunken, Hebt des Sohnes Haupt sie jammertrunken, Drüber hebt sie die geballte Rechte, Daß sie fluche diesem Mordgeschlechte ... Ihrem Knaben steht die Seite offen, Wo der Speer Longin's den Herrn getroffen, Ihres Knaben Haupt, ein blondes ist es, Wie das dorngekrönte Haupt des Christes ... Wie des Christes Haupt ist's ein erbleichtes, Auf die Schulter friedevoll geneigtes, Haß und Fluch erlischt auf ihrem Munde, Sie verehrt die heil'ge Seitenwunde ... 19*
Die Seitenwunde. Ueber ihre Thore ſtatt der Muſe Meißeln die Baglioni die Meduſe Und an ihren grauſen Hochzeitsfeſten Kämpft der Bräutigam mit ſeinen Gäſten. Heute liegen wieder ſie wie Garben: Blutsgenoſſen, die ſich würgend ſtarben! Wo des Bruderhaſſes Fackel brannte, Sucht das Kind und findet's Atalante. Niederſtarrend, auf das Knie geſunken, Hebt des Sohnes Haupt ſie jammertrunken, Drüber hebt ſie die geballte Rechte, Daß ſie fluche dieſem Mordgeſchlechte ... Ihrem Knaben ſteht die Seite offen, Wo der Speer Longin's den Herrn getroffen, Ihres Knaben Haupt, ein blondes iſt es, Wie das dorngekrönte Haupt des Chriſtes ... Wie des Chriſtes Haupt iſt's ein erbleichtes, Auf die Schulter friedevoll geneigtes, Haß und Fluch erliſcht auf ihrem Munde, Sie verehrt die heil'ge Seitenwunde ... 19*
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Die Seitenwunde.
Ueber ihre Thore ſtatt der Muſe
Meißeln die Baglioni die Meduſe
Und an ihren grauſen Hochzeitsfeſten
Kämpft der Bräutigam mit ſeinen Gäſten.
Heute liegen wieder ſie wie Garben:
Blutsgenoſſen, die ſich würgend ſtarben!
Wo des Bruderhaſſes Fackel brannte,
Sucht das Kind und findet's Atalante.
Niederſtarrend, auf das Knie geſunken,
Hebt des Sohnes Haupt ſie jammertrunken,
Drüber hebt ſie die geballte Rechte,
Daß ſie fluche dieſem Mordgeſchlechte ...
Ihrem Knaben ſteht die Seite offen,
Wo der Speer Longin's den Herrn getroffen,
Ihres Knaben Haupt, ein blondes iſt es,
Wie das dorngekrönte Haupt des Chriſtes ...
Wie des Chriſtes Haupt iſt's ein erbleichtes,
Auf die Schulter friedevoll geneigtes,
Haß und Fluch erliſcht auf ihrem Munde,
Sie verehrt die heil'ge Seitenwunde ...
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Zitationshilfe: | Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/305>, abgerufen am 16.07.2024. |