Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.Die Ketzerin. Fra Dolcin, der Ketzer, der von Dante In der Hölle neunten Kreis Gebannte, Hat ein Weib geliebt, von dem sie sagen, Daß kein schön'res lebt' in jenen Tagen. Kamen seine Jünger ihn zu grüßen, Saß die Blonde schon zu seinen Füßen, Segnet' er das Volk mit frevler Rechten, Neigte sie zuerst die goldnen Flechten; Dem Verfehmten folgte sie, dem Flieh'nden, Durch die Schluchten des Gebirges Zieh'nden -- Da er von den Schergen ward gefangen, Ist sie seinen Fesseln nachgegangen; Wo er in der Flamme sich gewunden, Steht auch sie am Marterpfahl gebunden. Lieblich ist, die Fra Dolcin verführte,
Wie noch nie ein Weib die Herzen rührte; Augen, unergründlich wunderbare, Schaun, als ob sie zu den Sel'gen fahre. Die sie richten, fragen sich mit Grauen: Kann die Hölle wie der Himmel schauen? Die Ketzerin. Fra Dolcin, der Ketzer, der von Dante In der Hölle neunten Kreis Gebannte, Hat ein Weib geliebt, von dem ſie ſagen, Daß kein ſchön'res lebt' in jenen Tagen. Kamen ſeine Jünger ihn zu grüßen, Saß die Blonde ſchon zu ſeinen Füßen, Segnet' er das Volk mit frevler Rechten, Neigte ſie zuerſt die goldnen Flechten; Dem Verfehmten folgte ſie, dem Flieh'nden, Durch die Schluchten des Gebirges Zieh'nden — Da er von den Schergen ward gefangen, Iſt ſie ſeinen Feſſeln nachgegangen; Wo er in der Flamme ſich gewunden, Steht auch ſie am Marterpfahl gebunden. Lieblich iſt, die Fra Dolcin verführte,
Wie noch nie ein Weib die Herzen rührte; Augen, unergründlich wunderbare, Schaun, als ob ſie zu den Sel'gen fahre. Die ſie richten, fragen ſich mit Grauen: Kann die Hölle wie der Himmel ſchauen? <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0261" n="247"/> </div> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Die Ketzerin.</hi><lb/> </head> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Fra Dolcin, der Ketzer, der von Dante</l><lb/> <l>In der Hölle neunten Kreis Gebannte,</l><lb/> <l>Hat ein Weib geliebt, von dem ſie ſagen,</l><lb/> <l>Daß kein ſchön'res lebt' in jenen Tagen.</l><lb/> <l>Kamen ſeine Jünger ihn zu grüßen,</l><lb/> <l>Saß die Blonde ſchon zu ſeinen Füßen,</l><lb/> <l>Segnet' er das Volk mit frevler Rechten,</l><lb/> <l>Neigte ſie zuerſt die goldnen Flechten;</l><lb/> <l>Dem Verfehmten folgte ſie, dem Flieh'nden,</l><lb/> <l>Durch die Schluchten des Gebirges Zieh'nden —</l><lb/> <l>Da er von den Schergen ward gefangen,</l><lb/> <l>Iſt ſie ſeinen Feſſeln nachgegangen;</l><lb/> <l>Wo er in der Flamme ſich gewunden,</l><lb/> <l>Steht auch ſie am Marterpfahl gebunden.</l><lb/> </lg> <lg n="2"> <l>Lieblich iſt, die Fra Dolcin verführte,</l><lb/> <l>Wie noch nie ein Weib die Herzen rührte;</l><lb/> <l>Augen, unergründlich wunderbare,</l><lb/> <l>Schaun, als ob ſie zu den Sel'gen fahre.</l><lb/> <l>Die ſie richten, fragen ſich mit Grauen:</l><lb/> <l>Kann die Hölle wie der Himmel ſchauen?</l><lb/> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [247/0261]
Die Ketzerin.
Fra Dolcin, der Ketzer, der von Dante
In der Hölle neunten Kreis Gebannte,
Hat ein Weib geliebt, von dem ſie ſagen,
Daß kein ſchön'res lebt' in jenen Tagen.
Kamen ſeine Jünger ihn zu grüßen,
Saß die Blonde ſchon zu ſeinen Füßen,
Segnet' er das Volk mit frevler Rechten,
Neigte ſie zuerſt die goldnen Flechten;
Dem Verfehmten folgte ſie, dem Flieh'nden,
Durch die Schluchten des Gebirges Zieh'nden —
Da er von den Schergen ward gefangen,
Iſt ſie ſeinen Feſſeln nachgegangen;
Wo er in der Flamme ſich gewunden,
Steht auch ſie am Marterpfahl gebunden.
Lieblich iſt, die Fra Dolcin verführte,
Wie noch nie ein Weib die Herzen rührte;
Augen, unergründlich wunderbare,
Schaun, als ob ſie zu den Sel'gen fahre.
Die ſie richten, fragen ſich mit Grauen:
Kann die Hölle wie der Himmel ſchauen?
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Zitationshilfe: | Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/261>, abgerufen am 22.12.2024. |