Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite
Die gezeichnete Stirne.
"Weib, verrathe mir, von wem gerufen
Du zur Leidgesellin dich gegeben?
Wer herunter dieses Kerkers Stufen
Dich gezogen, du mein süßes Leben?"
-- König Enzio, keine Menschen haben
Mich vermocht im Kerker zu verbleichen!
Nein, ein Schicksal war mir eingegraben,
Meine junge Stirne trug ein Zeichen.
Unsre Väter nahmen dich gefangen
Und wir Kinder hatten's bald erfahren,
Daß du nimmer wirst ans Licht gelangen,
König Enzio mit den Ringelhaaren!
Daß du nimmer tragen eine helle
Rüstung wirst, wo die Drommeten klingen,
Daß du nimmer rauschen Wald und Quelle
Hörst, noch einen freien Vogel singen!
Und wir Kinder lauschten sachte, sachte
Durch das Gitter in des Kerkers Tiefe,
Leis und heftig streitend, ob Er wachte
Schwerbekümmert oder ob Er schliefe --
C. F. Meyer, Gedichte. 16
Die gezeichnete Stirne.
„Weib, verrathe mir, von wem gerufen
Du zur Leidgeſellin dich gegeben?
Wer herunter dieſes Kerkers Stufen
Dich gezogen, du mein ſüßes Leben?“
— König Enzio, keine Menſchen haben
Mich vermocht im Kerker zu verbleichen!
Nein, ein Schickſal war mir eingegraben,
Meine junge Stirne trug ein Zeichen.
Unſre Väter nahmen dich gefangen
Und wir Kinder hatten's bald erfahren,
Daß du nimmer wirſt ans Licht gelangen,
König Enzio mit den Ringelhaaren!
Daß du nimmer tragen eine helle
Rüſtung wirſt, wo die Drommeten klingen,
Daß du nimmer rauſchen Wald und Quelle
Hörſt, noch einen freien Vogel ſingen!
Und wir Kinder lauſchten ſachte, ſachte
Durch das Gitter in des Kerkers Tiefe,
Leis und heftig ſtreitend, ob Er wachte
Schwerbekümmert oder ob Er ſchliefe —
C. F. Meyer, Gedichte. 16
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0255" n="241"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head>Die gezeichnete Stirne.<lb/></head>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l>&#x201E;Weib, verrathe mir, von wem gerufen</l><lb/>
              <l>Du zur Leidge&#x017F;ellin dich gegeben?</l><lb/>
              <l>Wer herunter die&#x017F;es Kerkers Stufen</l><lb/>
              <l>Dich gezogen, du mein &#x017F;üßes Leben?&#x201C;</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="2">
              <l>&#x2014; König Enzio, keine Men&#x017F;chen haben</l><lb/>
              <l>Mich vermocht im Kerker zu verbleichen!</l><lb/>
              <l>Nein, ein Schick&#x017F;al war mir eingegraben,</l><lb/>
              <l>Meine junge Stirne trug ein Zeichen.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="3">
              <l>Un&#x017F;re Väter nahmen dich gefangen</l><lb/>
              <l>Und wir Kinder hatten's bald erfahren,</l><lb/>
              <l>Daß du nimmer wir&#x017F;t ans Licht gelangen,</l><lb/>
              <l>König Enzio mit den Ringelhaaren!</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="4">
              <l>Daß du nimmer tragen eine helle</l><lb/>
              <l>&#x017F;tung wir&#x017F;t, wo die Drommeten klingen,</l><lb/>
              <l>Daß du nimmer rau&#x017F;chen Wald und Quelle</l><lb/>
              <l>Hör&#x017F;t, noch einen freien Vogel &#x017F;ingen!</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="5">
              <l>Und wir Kinder lau&#x017F;chten &#x017F;achte, &#x017F;achte</l><lb/>
              <l>Durch das Gitter in des Kerkers Tiefe,</l><lb/>
              <l>Leis und heftig &#x017F;treitend, ob Er wachte</l><lb/>
              <l>Schwerbekümmert oder ob Er &#x017F;chliefe &#x2014;</l><lb/>
            </lg>
            <fw place="bottom" type="sig">C. F. <hi rendition="#g">Meyer</hi>, Gedichte. 16<lb/></fw>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[241/0255] Die gezeichnete Stirne. „Weib, verrathe mir, von wem gerufen Du zur Leidgeſellin dich gegeben? Wer herunter dieſes Kerkers Stufen Dich gezogen, du mein ſüßes Leben?“ — König Enzio, keine Menſchen haben Mich vermocht im Kerker zu verbleichen! Nein, ein Schickſal war mir eingegraben, Meine junge Stirne trug ein Zeichen. Unſre Väter nahmen dich gefangen Und wir Kinder hatten's bald erfahren, Daß du nimmer wirſt ans Licht gelangen, König Enzio mit den Ringelhaaren! Daß du nimmer tragen eine helle Rüſtung wirſt, wo die Drommeten klingen, Daß du nimmer rauſchen Wald und Quelle Hörſt, noch einen freien Vogel ſingen! Und wir Kinder lauſchten ſachte, ſachte Durch das Gitter in des Kerkers Tiefe, Leis und heftig ſtreitend, ob Er wachte Schwerbekümmert oder ob Er ſchliefe — C. F. Meyer, Gedichte. 16

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/255
Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/255>, abgerufen am 22.12.2024.