Wie fühl' ich heute deine Macht, Als ob sich deine Wimper schatte Vor mir auf diesem ampelhellen Blatte Um Mitternacht! Dein Auge sieht Begierig mein entstehend Lied.
Dein Wesen neigt sich meinem zu, Du bist's! Doch deine Lippen schweigen, Und liesest du ein Wort, das zart und eigen, Bist's wieder du, Dein Herzensblut, Indeß dein Staub im Grabe ruht.
Mir ist, wann mich dein Athem streift, Der ich erstarkt an Kampf und Wunden, Als seist in deinen stillen Grabestunden Auch du gereift An Liebeskraft, An Willen und an Leidenschaft.
Die Marmorurne setzten dir Die Deinen -- um dich zu vergessen, Sie erbten, bauten, freiten unterdessen, Du lebst in mir! Wozu beweint? Du lebst und fühlst mit mir vereint!
Einer Todten.
Wie fühl' ich heute deine Macht, Als ob ſich deine Wimper ſchatte Vor mir auf dieſem ampelhellen Blatte Um Mitternacht! Dein Auge ſieht Begierig mein entſtehend Lied.
Dein Weſen neigt ſich meinem zu, Du biſt's! Doch deine Lippen ſchweigen, Und lieſeſt du ein Wort, das zart und eigen, Biſt's wieder du, Dein Herzensblut, Indeß dein Staub im Grabe ruht.
Mir iſt, wann mich dein Athem ſtreift, Der ich erſtarkt an Kampf und Wunden, Als ſeiſt in deinen ſtillen Grabeſtunden Auch du gereift An Liebeskraft, An Willen und an Leidenſchaft.
Die Marmorurne ſetzten dir Die Deinen — um dich zu vergeſſen, Sie erbten, bauten, freiten unterdeſſen, Du lebſt in mir! Wozu beweint? Du lebſt und fühlſt mit mir vereint!
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Einer Todten.
Wie fühl' ich heute deine Macht,
Als ob ſich deine Wimper ſchatte
Vor mir auf dieſem ampelhellen Blatte
Um Mitternacht!
Dein Auge ſieht
Begierig mein entſtehend Lied.
Dein Weſen neigt ſich meinem zu,
Du biſt's! Doch deine Lippen ſchweigen,
Und lieſeſt du ein Wort, das zart und eigen,
Biſt's wieder du,
Dein Herzensblut,
Indeß dein Staub im Grabe ruht.
Mir iſt, wann mich dein Athem ſtreift,
Der ich erſtarkt an Kampf und Wunden,
Als ſeiſt in deinen ſtillen Grabeſtunden
Auch du gereift
An Liebeskraft,
An Willen und an Leidenſchaft.
Die Marmorurne ſetzten dir
Die Deinen — um dich zu vergeſſen,
Sie erbten, bauten, freiten unterdeſſen,
Du lebſt in mir!
Wozu beweint?
Du lebſt und fühlſt mit mir vereint!
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Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/185>, abgerufen am 03.03.2025.
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