Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.Möwenflug. Möwen sah um einen Felsen kreisen Ich in unermüdlich gleichen Gleisen, Auf gespannter Schwinge schweben bleibend, Eine schimmernd weiße Bahn beschreibend, Und zugleich in grünem Meeresspiegel Sah ich um die selben Felsenspitzen Eine helle Jagd gestreckter Flügel Unermüdlich durch die Tiefe blitzen. Und der Spiegel hatte solche Klarheit, Daß sich anders nicht die Flügel hoben Tief im Meer, als hoch in Lüften oben, Daß sich völlig glichen Trug und Wahrheit. Allgemach beschlich es mich wie Grauen, Schein und Wesen so verwandt zu schauen, Und ich fragte mich, am Strand verharrend, Ins gespenstische Geflatter starrend: Und du selber? Bist du ächt beflügelt? Oder nur gemalt und abgespiegelt? Gaukelst du im Kreis mit Fabeldingen? Oder hast du Blut in deinen Schwingen? Möwenflug. Möwen ſah um einen Felſen kreiſen Ich in unermüdlich gleichen Gleiſen, Auf geſpannter Schwinge ſchweben bleibend, Eine ſchimmernd weiße Bahn beſchreibend, Und zugleich in grünem Meeresſpiegel Sah ich um die ſelben Felſenſpitzen Eine helle Jagd geſtreckter Flügel Unermüdlich durch die Tiefe blitzen. Und der Spiegel hatte ſolche Klarheit, Daß ſich anders nicht die Flügel hoben Tief im Meer, als hoch in Lüften oben, Daß ſich völlig glichen Trug und Wahrheit. Allgemach beſchlich es mich wie Grauen, Schein und Weſen ſo verwandt zu ſchauen, Und ich fragte mich, am Strand verharrend, Ins geſpenſtiſche Geflatter ſtarrend: Und du ſelber? Biſt du ächt beflügelt? Oder nur gemalt und abgeſpiegelt? Gaukelſt du im Kreis mit Fabeldingen? Oder haſt du Blut in deinen Schwingen? <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb n="146" facs="#f0160"/> </div> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Möwenflug.</hi><lb/> </head> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Möwen ſah um einen Felſen kreiſen</l><lb/> <l>Ich in unermüdlich gleichen Gleiſen,</l><lb/> <l>Auf geſpannter Schwinge ſchweben bleibend,</l><lb/> <l>Eine ſchimmernd weiße Bahn beſchreibend,</l><lb/> <l>Und zugleich in grünem Meeresſpiegel</l><lb/> <l>Sah ich um die ſelben Felſenſpitzen</l><lb/> <l>Eine helle Jagd geſtreckter Flügel</l><lb/> <l>Unermüdlich durch die Tiefe blitzen.</l><lb/> <l>Und der Spiegel hatte ſolche Klarheit,</l><lb/> <l>Daß ſich anders nicht die Flügel hoben</l><lb/> <l>Tief im Meer, als hoch in Lüften oben,</l><lb/> <l>Daß ſich völlig glichen Trug und Wahrheit.</l><lb/> </lg> <lg n="2"> <l>Allgemach beſchlich es mich wie Grauen,</l><lb/> <l>Schein und Weſen ſo verwandt zu ſchauen,</l><lb/> <l>Und ich fragte mich, am Strand verharrend,</l><lb/> <l>Ins geſpenſtiſche Geflatter ſtarrend:</l><lb/> <l>Und du ſelber? Biſt du ächt beflügelt?</l><lb/> <l>Oder nur gemalt und abgeſpiegelt?</l><lb/> <l>Gaukelſt du im Kreis mit Fabeldingen?</l><lb/> <l>Oder haſt du Blut in deinen Schwingen?</l><lb/> </lg> </lg> <milestone unit="section" rendition="#hr"/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [146/0160]
Möwenflug.
Möwen ſah um einen Felſen kreiſen
Ich in unermüdlich gleichen Gleiſen,
Auf geſpannter Schwinge ſchweben bleibend,
Eine ſchimmernd weiße Bahn beſchreibend,
Und zugleich in grünem Meeresſpiegel
Sah ich um die ſelben Felſenſpitzen
Eine helle Jagd geſtreckter Flügel
Unermüdlich durch die Tiefe blitzen.
Und der Spiegel hatte ſolche Klarheit,
Daß ſich anders nicht die Flügel hoben
Tief im Meer, als hoch in Lüften oben,
Daß ſich völlig glichen Trug und Wahrheit.
Allgemach beſchlich es mich wie Grauen,
Schein und Weſen ſo verwandt zu ſchauen,
Und ich fragte mich, am Strand verharrend,
Ins geſpenſtiſche Geflatter ſtarrend:
Und du ſelber? Biſt du ächt beflügelt?
Oder nur gemalt und abgeſpiegelt?
Gaukelſt du im Kreis mit Fabeldingen?
Oder haſt du Blut in deinen Schwingen?
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Zitationshilfe: | Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/160>, abgerufen am 03.03.2025. |