Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.Die Narde. (Nach einem venezianischen Bilde.) Die brave Marthe that, was sie vermocht', Sie rupfte, spickte, briet und sott und kocht', Sie schob dem Herrn die braunsten Kuchen zu, Und: "Diesen", sagt' sie, "Herr, versuche Du!" Maria nahte, die den schlanken Krug, Gefüllt mit einer seltnen Narde, trug. Sie neigt' das Knie, den Krug. Die Narde floß. Sie neigt' das Herz, das strömend sich ergoß. In der beseelten Hand Mariens ruht' Der edle Fuß. Drauf quoll der Narde Flut. Ihn abzutrocknen löste sie des Haars Geschlungenen Knoten. Blond und seiden war's. Ein spitz Geflüster regte sich am Tisch, Wie der getretnen Viper scharf Gezisch: "Das duftet! Tausend oder mehr Denar Verduften mit! Ich wollt' wir hätten's baar! Bei Levi legten wir's auf Zins geschwind Und draus erzögen wir ein Waisenkind --" "Still," sagt' der Göttliche, "laß unentweiht, Judas! Wer liebt, verschwendet allezeit." Die Narde. (Nach einem venezianiſchen Bilde.) Die brave Marthe that, was ſie vermocht', Sie rupfte, ſpickte, briet und ſott und kocht', Sie ſchob dem Herrn die braunſten Kuchen zu, Und: „Dieſen“, ſagt' ſie, „Herr, verſuche Du!“ Maria nahte, die den ſchlanken Krug, Gefüllt mit einer ſeltnen Narde, trug. Sie neigt' das Knie, den Krug. Die Narde floß. Sie neigt' das Herz, das ſtrömend ſich ergoß. In der beſeelten Hand Mariens ruht' Der edle Fuß. Drauf quoll der Narde Flut. Ihn abzutrocknen löſte ſie des Haars Geſchlungenen Knoten. Blond und ſeiden war's. Ein ſpitz Geflüſter regte ſich am Tiſch, Wie der getretnen Viper ſcharf Geziſch: „Das duftet! Tauſend oder mehr Denar Verduften mit! Ich wollt' wir hätten's baar! Bei Levi legten wir's auf Zins geſchwind Und draus erzögen wir ein Waiſenkind —“ „Still,“ ſagt' der Göttliche, „laß unentweiht, Judas! Wer liebt, verſchwendet allezeit.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb n="121" facs="#f0135"/> </div> <div n="2"> <head>Die Narde.<lb/></head> <p rendition="#c">(Nach einem venezianiſchen Bilde.)</p><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Die brave Marthe that, was ſie vermocht',</l><lb/> <l>Sie rupfte, ſpickte, briet und ſott und kocht',</l><lb/> <l>Sie ſchob dem Herrn die braunſten Kuchen zu,</l><lb/> <l>Und: „Dieſen“, ſagt' ſie, „Herr, verſuche Du!“</l><lb/> </lg> <lg n="2"> <l>Maria nahte, die den ſchlanken Krug,</l><lb/> <l>Gefüllt mit einer ſeltnen Narde, trug.</l><lb/> <l>Sie neigt' das Knie, den Krug. Die Narde floß.</l><lb/> <l>Sie neigt' das Herz, das ſtrömend ſich ergoß.</l><lb/> </lg> <lg n="3"> <l>In der beſeelten Hand Mariens ruht'</l><lb/> <l>Der edle Fuß. Drauf quoll der Narde Flut.</l><lb/> <l>Ihn abzutrocknen löſte ſie des Haars</l><lb/> <l>Geſchlungenen Knoten. Blond und ſeiden war's.</l><lb/> </lg> <lg n="4"> <l>Ein ſpitz Geflüſter regte ſich am Tiſch,</l><lb/> <l>Wie der getretnen Viper ſcharf Geziſch:</l><lb/> <l>„Das duftet! Tauſend oder mehr Denar</l><lb/> <l>Verduften mit! Ich wollt' wir hätten's baar!</l><lb/> </lg> <lg n="5"> <l>Bei Levi legten wir's auf Zins geſchwind</l><lb/> <l>Und draus erzögen wir ein Waiſenkind —“</l><lb/> <l>„Still,“ ſagt' der Göttliche, „laß unentweiht,</l><lb/> <l>Judas! Wer liebt, verſchwendet allezeit.“</l><lb/> </lg> </lg> <milestone unit="section" rendition="#hr"/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [121/0135]
Die Narde.
(Nach einem venezianiſchen Bilde.)
Die brave Marthe that, was ſie vermocht',
Sie rupfte, ſpickte, briet und ſott und kocht',
Sie ſchob dem Herrn die braunſten Kuchen zu,
Und: „Dieſen“, ſagt' ſie, „Herr, verſuche Du!“
Maria nahte, die den ſchlanken Krug,
Gefüllt mit einer ſeltnen Narde, trug.
Sie neigt' das Knie, den Krug. Die Narde floß.
Sie neigt' das Herz, das ſtrömend ſich ergoß.
In der beſeelten Hand Mariens ruht'
Der edle Fuß. Drauf quoll der Narde Flut.
Ihn abzutrocknen löſte ſie des Haars
Geſchlungenen Knoten. Blond und ſeiden war's.
Ein ſpitz Geflüſter regte ſich am Tiſch,
Wie der getretnen Viper ſcharf Geziſch:
„Das duftet! Tauſend oder mehr Denar
Verduften mit! Ich wollt' wir hätten's baar!
Bei Levi legten wir's auf Zins geſchwind
Und draus erzögen wir ein Waiſenkind —“
„Still,“ ſagt' der Göttliche, „laß unentweiht,
Judas! Wer liebt, verſchwendet allezeit.“
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Zitationshilfe: | Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/135>, abgerufen am 03.03.2025. |