Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.Auf dem Canal grande. Eine glückgefüllte Gondel gleitet auf dem Canal grande, An Giorgione lehnt die Blonde mit dem rothen Sammtgewande. "Giorgio, deiner Laute Saiten hör' ich leise, leise klingen" -- "Julia Vendramin, Erlauchte, was befiehlst du mir zu singen?" "Nichts von schönen Augen, Giorgio! Solches Thema sollst du lassen! Singe, wie dem Meer entstiegen diese wunderbaren Gassen! Fessle kränzend keine Locken, die sich ringeln los und ledig! Giorgio, singe mir von meinem unvergleichlichen Venedig!" "Meine süße Muse will es! Es geschieht!" Er präludierte. "Weiland, eh' des heil'gen Marcus Flagge dieses Meer regierte, Drüben dort, wo duftverschleiert Istriens schöne Berge blauen, Sank vor ungezählten Jahren eine Dämm'rung voller Grauen. Durch das Dunkel huschen Larven, angstgeschreckte Hunde winseln,
Schreie gellen, Stimmen warnen: "Löst die Böte! Nach den Inseln!" In den Lüften haucht ein Odem, wie es in den Gräbern modert -- Schaurig tagen Meer und Himmel! Aquileja brennt und lodert! Auf dem Canal grande. Eine glückgefüllte Gondel gleitet auf dem Canal grande, An Giorgione lehnt die Blonde mit dem rothen Sammtgewande. „Giorgio, deiner Laute Saiten hör' ich leiſe, leiſe klingen“ — „Julia Vendramin, Erlauchte, was befiehlſt du mir zu ſingen?“ „Nichts von ſchönen Augen, Giorgio! Solches Thema ſollſt du laſſen! Singe, wie dem Meer entſtiegen dieſe wunderbaren Gaſſen! Feſſle kränzend keine Locken, die ſich ringeln los und ledig! Giorgio, ſinge mir von meinem unvergleichlichen Venedig!“ „Meine ſüße Muſe will es! Es geſchieht!“ Er präludierte. „Weiland, eh' des heil'gen Marcus Flagge dieſes Meer regierte, Drüben dort, wo duftverſchleiert Iſtriens ſchöne Berge blauen, Sank vor ungezählten Jahren eine Dämm'rung voller Grauen. Durch das Dunkel huſchen Larven, angſtgeſchreckte Hunde winſeln,
Schreie gellen, Stimmen warnen: „Löſt die Böte! Nach den Inſeln!“ In den Lüften haucht ein Odem, wie es in den Gräbern modert — Schaurig tagen Meer und Himmel! Aquileja brennt und lodert! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0130" n="116"/> </div> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Auf dem Canal grande.</hi><lb/> </head> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Eine glückgefüllte Gondel gleitet auf dem Canal grande,</l><lb/> <l>An Giorgione lehnt die Blonde mit dem rothen Sammtgewande.</l><lb/> <l>„Giorgio, deiner Laute Saiten hör' ich leiſe, leiſe klingen“ —</l><lb/> <l>„Julia Vendramin, Erlauchte, was befiehlſt du mir zu ſingen?“</l><lb/> </lg> <lg n="2"> <l>„Nichts von ſchönen Augen, Giorgio! Solches Thema ſollſt du<lb/> laſſen!</l><lb/> <l>Singe, wie dem Meer entſtiegen dieſe wunderbaren Gaſſen!</l><lb/> <l>Feſſle kränzend keine Locken, die ſich ringeln los und ledig!</l><lb/> <l>Giorgio, ſinge mir von meinem unvergleichlichen Venedig!“</l><lb/> </lg> <lg n="3"> <l>„Meine ſüße Muſe will es! Es geſchieht!“ Er präludierte.</l><lb/> <l>„Weiland, eh' des heil'gen Marcus Flagge dieſes Meer regierte,</l><lb/> <l>Drüben dort, wo duftverſchleiert Iſtriens ſchöne Berge blauen,</l><lb/> <l>Sank vor ungezählten Jahren eine Dämm'rung voller Grauen.</l><lb/> </lg> <lg n="4"> <l>Durch das Dunkel huſchen Larven, angſtgeſchreckte Hunde winſeln,</l><lb/> <l>Schreie gellen, Stimmen warnen: „Löſt die Böte! Nach den<lb/> Inſeln!“</l><lb/> <l>In den Lüften haucht ein Odem, wie es in den Gräbern<lb/> modert —</l><lb/> <l>Schaurig tagen Meer und Himmel! Aquileja brennt und lodert!</l><lb/> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [116/0130]
Auf dem Canal grande.
Eine glückgefüllte Gondel gleitet auf dem Canal grande,
An Giorgione lehnt die Blonde mit dem rothen Sammtgewande.
„Giorgio, deiner Laute Saiten hör' ich leiſe, leiſe klingen“ —
„Julia Vendramin, Erlauchte, was befiehlſt du mir zu ſingen?“
„Nichts von ſchönen Augen, Giorgio! Solches Thema ſollſt du
laſſen!
Singe, wie dem Meer entſtiegen dieſe wunderbaren Gaſſen!
Feſſle kränzend keine Locken, die ſich ringeln los und ledig!
Giorgio, ſinge mir von meinem unvergleichlichen Venedig!“
„Meine ſüße Muſe will es! Es geſchieht!“ Er präludierte.
„Weiland, eh' des heil'gen Marcus Flagge dieſes Meer regierte,
Drüben dort, wo duftverſchleiert Iſtriens ſchöne Berge blauen,
Sank vor ungezählten Jahren eine Dämm'rung voller Grauen.
Durch das Dunkel huſchen Larven, angſtgeſchreckte Hunde winſeln,
Schreie gellen, Stimmen warnen: „Löſt die Böte! Nach den
Inſeln!“
In den Lüften haucht ein Odem, wie es in den Gräbern
modert —
Schaurig tagen Meer und Himmel! Aquileja brennt und lodert!
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |