§. 60. Aeußere Gründe für die Dauer des Herkommens.
Alles dieses verhindert jedoch nicht, daß 1) das bloße Herkommen nur eine unvollkommene Verbindlichkeit mit sich führet, und daher 2) eine Nation zu dessen Beobachtung nicht rechtmäßig gezwungen werden kann, vielmehr 3) es jederzeit abzuschaffen befugt ist, wenn sie sich nur zeitig zum voraus darüber erklärt; daher dieser beträchtliche Theil des positiven Völkerrechts auf sehr schwache und wankende Stützen zu beruhen scheint; aber je weniger innere Kraft die Verbindlichkeit desselben hat, destomehr äußere Gründe sichern in gewissem Grade die Beobachtung desselben. Zu diesen Gründen gehört: 1) die natürliche Kraft der Ge- wohnheit, welche in minder wichtigen und oft wiederkom- menden Puncten ihre Gewalt so gut über Völker, als über Individuen äußert. 2) Der Vortheil den einzelne Puncte des Herkommens gewähren 3) der Wunsch für eine aufge- klärte, gesittete, wohlgesinnte Nation gehalten zu werden 4) die Furcht, daß wenn wir uns von dem Herkommen entfernen ein anderes Volk sich der Retorsion bedienen oder 5) andere uns wichtigere Gewohnheitsrechte uns verweigern werde, oder wohl gar 6) mehrere Völker gemeinschaftliche Sache in Verweigerung der Gewohnheitsrechte gegen uns machen möchten; insonderheit aber 7) die Besorgniß, daß die Ver- letzung einer zwischen freundschaftlich gesinnten Völkern übli- chen Gewohnheit, von andern als ein Vorbote wirklicher Ver- letzungen des Völkerrechts ausgelegt a), und unter diesem Gesichtspunct als ein Rechtsertigungsgrund wirklicher Ver- letzungen angesehn werden möchte.
a) So erklärte der König von Preußen den fremden Gesandten zu Berlin 1750 daß er die Abreise des russischen Gesandten ohne Abschied zu nehmen als einen Vorboten eines Bruches ansehe, und Rußland betrachtete seiner Seits es als einen Beweis der üblen Gesinnungen des preußischen Hofes, daß der russische Ge- sandte zu einem Fest in Charlottenburg nicht mitgebeten worden.
§. 61.
E 5
Herkommen und Analogie.
§. 60. Aeußere Gruͤnde fuͤr die Dauer des Herkommens.
Alles dieſes verhindert jedoch nicht, daß 1) das bloße Herkommen nur eine unvollkommene Verbindlichkeit mit ſich fuͤhret, und daher 2) eine Nation zu deſſen Beobachtung nicht rechtmaͤßig gezwungen werden kann, vielmehr 3) es jederzeit abzuſchaffen befugt iſt, wenn ſie ſich nur zeitig zum voraus daruͤber erklaͤrt; daher dieſer betraͤchtliche Theil des poſitiven Voͤlkerrechts auf ſehr ſchwache und wankende Stuͤtzen zu beruhen ſcheint; aber je weniger innere Kraft die Verbindlichkeit deſſelben hat, deſtomehr aͤußere Gruͤnde ſichern in gewiſſem Grade die Beobachtung deſſelben. Zu dieſen Gruͤnden gehoͤrt: 1) die natuͤrliche Kraft der Ge- wohnheit, welche in minder wichtigen und oft wiederkom- menden Puncten ihre Gewalt ſo gut uͤber Voͤlker, als uͤber Individuen aͤußert. 2) Der Vortheil den einzelne Puncte des Herkommens gewaͤhren 3) der Wunſch fuͤr eine aufge- klaͤrte, geſittete, wohlgeſinnte Nation gehalten zu werden 4) die Furcht, daß wenn wir uns von dem Herkommen entfernen ein anderes Volk ſich der Retorſion bedienen oder 5) andere uns wichtigere Gewohnheitsrechte uns verweigern werde, oder wohl gar 6) mehrere Voͤlker gemeinſchaftliche Sache in Verweigerung der Gewohnheitsrechte gegen uns machen moͤchten; inſonderheit aber 7) die Beſorgniß, daß die Ver- letzung einer zwiſchen freundſchaftlich geſinnten Voͤlkern uͤbli- chen Gewohnheit, von andern als ein Vorbote wirklicher Ver- letzungen des Voͤlkerrechts ausgelegt a), und unter dieſem Geſichtspunct als ein Rechtſertigungsgrund wirklicher Ver- letzungen angeſehn werden moͤchte.
a) So erklaͤrte der Koͤnig von Preußen den fremden Geſandten zu Berlin 1750 daß er die Abreiſe des ruſſiſchen Geſandten ohne Abſchied zu nehmen als einen Vorboten eines Bruches anſehe, und Rußland betrachtete ſeiner Seits es als einen Beweis der uͤblen Geſinnungen des preußiſchen Hofes, daß der ruſſiſche Ge- ſandte zu einem Feſt in Charlottenburg nicht mitgebeten worden.
§. 61.
E 5
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Herkommen und Analogie.
§. 60.
Aeußere Gruͤnde fuͤr die Dauer des Herkommens.
Alles dieſes verhindert jedoch nicht, daß 1) das bloße
Herkommen nur eine unvollkommene Verbindlichkeit mit
ſich fuͤhret, und daher 2) eine Nation zu deſſen Beobachtung
nicht rechtmaͤßig gezwungen werden kann, vielmehr 3) es
jederzeit abzuſchaffen befugt iſt, wenn ſie ſich nur zeitig zum
voraus daruͤber erklaͤrt; daher dieſer betraͤchtliche Theil des
poſitiven Voͤlkerrechts auf ſehr ſchwache und wankende
Stuͤtzen zu beruhen ſcheint; aber je weniger innere Kraft
die Verbindlichkeit deſſelben hat, deſtomehr aͤußere Gruͤnde
ſichern in gewiſſem Grade die Beobachtung deſſelben. Zu
dieſen Gruͤnden gehoͤrt: 1) die natuͤrliche Kraft der Ge-
wohnheit, welche in minder wichtigen und oft wiederkom-
menden Puncten ihre Gewalt ſo gut uͤber Voͤlker, als uͤber
Individuen aͤußert. 2) Der Vortheil den einzelne Puncte
des Herkommens gewaͤhren 3) der Wunſch fuͤr eine aufge-
klaͤrte, geſittete, wohlgeſinnte Nation gehalten zu werden 4)
die Furcht, daß wenn wir uns von dem Herkommen entfernen
ein anderes Volk ſich der Retorſion bedienen oder 5) andere
uns wichtigere Gewohnheitsrechte uns verweigern werde, oder
wohl gar 6) mehrere Voͤlker gemeinſchaftliche Sache in
Verweigerung der Gewohnheitsrechte gegen uns machen
moͤchten; inſonderheit aber 7) die Beſorgniß, daß die Ver-
letzung einer zwiſchen freundſchaftlich geſinnten Voͤlkern uͤbli-
chen Gewohnheit, von andern als ein Vorbote wirklicher Ver-
letzungen des Voͤlkerrechts ausgelegt a), und unter dieſem
Geſichtspunct als ein Rechtſertigungsgrund wirklicher Ver-
letzungen angeſehn werden moͤchte.
a⁾ So erklaͤrte der Koͤnig von Preußen den fremden Geſandten zu
Berlin 1750 daß er die Abreiſe des ruſſiſchen Geſandten ohne
Abſchied zu nehmen als einen Vorboten eines Bruches anſehe,
und Rußland betrachtete ſeiner Seits es als einen Beweis der
uͤblen Geſinnungen des preußiſchen Hofes, daß der ruſſiſche Ge-
ſandte zu einem Feſt in Charlottenburg nicht mitgebeten worden.
§. 61.
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Martens, Georg Friedrich von: Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet. Göttingen, 1796, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martens_voelkerrecht_1796/101>, abgerufen am 05.02.2025.
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