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Luxemburg, Rosa: Frauenwahlrecht und Klassenkampf. In: Frauenwahlrecht! Hrsg. zum Zweiten Sozialdemokratischen Frauentag von Clara Zetkin. 12. Mai 1912, S. 8–10.

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Frauenwahlrecht
der Roheit und dem Wahnwitz der heutigen kapitalistischen
Wirtschaftsverordnung, und diese rohe Wirklichkeit klar und scharf zu
erfassen, ist die erste Notwendigkeit für die proletarischen Frauen.

Denn gerade von diesem Standpunkte aus ist jetzt der An-
spruch der Proletarierinnen auf politische Gleichberechtigung in
fester wirtschaftlicher Grundlage verankert. Millionen von prole-
tarischen Frauen schaffen heute kapitalistischen Profit gleich
Männern - in Fabriken, Werkstätten, in der Landwirtschaft,
in der Hausindustrie, in Bureaus, in Läden. Sie sind also
produktiv im strengsten wissenschaftlichen Sinne der heutigen
Gesellschaft. Jeder Tag vergrößert die Scharen der kapitalistisch
ausgebeuteten Frauen, jeder neue Fortschritt in der Jndustrie,
in der Technik schafft neuen Platz für Frauen im Getriebe
der kapitalistischen Profitmacherei. Und damit fügt jeder Tag
und jeder industrielle Fortschritt einen neuen Stein zur festen
Grundlage der politischen Gleichberechtigung der Frauen. Für
den wirtschaftlichen Mechanismus selbst ist jetzt Schulbildung
und geistige Jntelligenz der Frauen notwendig geworden.
Die beschränkte weltfremde Frau des altväterlichen "häus-
lichen Herdes" taugt heute so wenig für die Ansprüche der
Großindustrie und des Handels wie für die Anforderungen
des politischen Lebens. Freilich auch in dieser Beziehung hat
der kapitalistische Staat seine Pflichten vernachlässigt. Bis jetzt
haben die gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Organi-
sationen das meiste und Beste für die geistige und moralische Er-
weckung und Schulung der Frauen getan. Wie schon vor Jahr-
zehnten in Deutschland die Sozialdemokraten als die tüchtig-
sten, intelligentesten Arbeiter bekannt waren, so sind heute die
Frauen des Proletariats durch Sozialdemokratie und Gewerk-
schaften aus der Stickluft ihres engen Daseins, aus der kümmer-
lichen Geistlosigkeit und Kleinlichkeit des häuslichen Waltens
emporgehoben worden. Der proletarische Klassenkampf hat
ihren Gesichtskreis erweitert, ihren Geist elastisch gemacht, ihr
Denkvermögen entwickelt, hat ihrem Streben große Ziele ge-
wiesen. Der Sozialismus hat die geistige Wiedergeburt der
Masse der proletarischen Frauen bewirkt und sie dadurch
zweifellos auch zu tüchtigen produktiven Arbeiterinnen für
das Kapital gemacht.

Nach alledem ist die politische Rechtlosigkeit der proletari-
schen Frauen eine um so niederträchtigere Ungerechtigkeit, als
sie bereits eine halbe Lüge geworden ist. Beteiligen sich doch
die Frauen in Massen und aktiv am politischen Leben. Je-
dennoch die Sozialdemokratie kämpft nicht mit dem Argument
der "Ungerechtigkeit". Der grundlegende Unterschied zwischen
uns und dem früheren sentimentalen utopischen Sozialismus
beruht gerade darauf, daß wir nicht auf die Gerechtigkeit der
herrschenden Klassen, sondern einzig und allein auf die revo-
lutionäre Macht der Arbeitermassen bauen und auf den Gang
der gesellschaftlichen Entwicklung, der jener Macht den Boden
schafft. So ist die Ungerechtigkeit an sich gewiß kein Argu-
ment, um reaktionäre Einrichtungen zu stürzen. Wenn sich
jedoch das Empfinden der Ungerechtigkeit weiter Kreise der
Gesellschaft bemächtigt - sagt Friedrich Engels, der Mitschöpfer
des wissenschaftlichen Sozialismus -, so ist das immer ein
sicheres Zeichen, daß in den wirtschaftlichen Grundlagen der
Gesellschaft weitgehende Verschiebungen Platz gegriffen haben,
daß bestehende Zustände bereits mit dem Fortschritt der Ent-
wicklung in Widerspruch geraten sind. Die jetzige kraftvolle
Bewegung der Millionen proletarischer Frauen, die ihre poli-
tische Rechtlosigkeit als ein schreiendes Unrecht empfinden, ist
ein solches untrügliches Zeichen, daß die gesellschaftlichen Grund-
lagen der bestehenden Staatsverordnung bereits morsch und ihre
Tage gezählt sind.

Einer der ersten großen Verkünder der sozialistischen Jdeale,
der Franzose Charles Fourier, hat vor hundert Jahren die
denkwürdigen Worte geschrieben: Jn jeder Gesellschaft ist der
Grad der weiblichen Emanzipation (Freiheit) das natürliche
Maß der allgemeinen Emanzipation. Das stimmt vollkommen
für die heutige Gesellschaft. Der jetzige Massenkampf um die
politische Gleichberechtigung der Frau ist nur eine Äußerung
und ein Teil des allgemeinen Befreiungskampfes des Prole-
tariats, und darin liegt gerade seine Kraft und seine Zukunft.[Spaltenumbruch] Das allgemeine gleiche, direkte Wahlrecht der Frauen würde
- dank dem weiblichen Proletariat - den proletarischen Klassen-
kampf ungeheuer vorwärts treiben und verschärfen. Deshalb
verabscheut und fürchtet die bürgerliche Gesellschaft das Frauen-
wahlrecht, und deshalb wollen und werden wir es erringen.
Auch durch den Kampf um das Frauenwahlrecht wollen wir
die Stunde beschleunigen, wo die heutige Gesellschaft unter den
Hammerschlägen des revolutionären Proletariats in Trümmer
stürzt.

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Frauenwahlrecht
der Roheit und dem Wahnwitz der heutigen kapitalistischen
Wirtschaftsverordnung, und diese rohe Wirklichkeit klar und scharf zu
erfassen, ist die erste Notwendigkeit für die proletarischen Frauen.

Denn gerade von diesem Standpunkte aus ist jetzt der An-
spruch der Proletarierinnen auf politische Gleichberechtigung in
fester wirtschaftlicher Grundlage verankert. Millionen von prole-
tarischen Frauen schaffen heute kapitalistischen Profit gleich
Männern – in Fabriken, Werkstätten, in der Landwirtschaft,
in der Hausindustrie, in Bureaus, in Läden. Sie sind also
produktiv im strengsten wissenschaftlichen Sinne der heutigen
Gesellschaft. Jeder Tag vergrößert die Scharen der kapitalistisch
ausgebeuteten Frauen, jeder neue Fortschritt in der Jndustrie,
in der Technik schafft neuen Platz für Frauen im Getriebe
der kapitalistischen Profitmacherei. Und damit fügt jeder Tag
und jeder industrielle Fortschritt einen neuen Stein zur festen
Grundlage der politischen Gleichberechtigung der Frauen. Für
den wirtschaftlichen Mechanismus selbst ist jetzt Schulbildung
und geistige Jntelligenz der Frauen notwendig geworden.
Die beschränkte weltfremde Frau des altväterlichen „häus-
lichen Herdes“ taugt heute so wenig für die Ansprüche der
Großindustrie und des Handels wie für die Anforderungen
des politischen Lebens. Freilich auch in dieser Beziehung hat
der kapitalistische Staat seine Pflichten vernachlässigt. Bis jetzt
haben die gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Organi-
sationen das meiste und Beste für die geistige und moralische Er-
weckung und Schulung der Frauen getan. Wie schon vor Jahr-
zehnten in Deutschland die Sozialdemokraten als die tüchtig-
sten, intelligentesten Arbeiter bekannt waren, so sind heute die
Frauen des Proletariats durch Sozialdemokratie und Gewerk-
schaften aus der Stickluft ihres engen Daseins, aus der kümmer-
lichen Geistlosigkeit und Kleinlichkeit des häuslichen Waltens
emporgehoben worden. Der proletarische Klassenkampf hat
ihren Gesichtskreis erweitert, ihren Geist elastisch gemacht, ihr
Denkvermögen entwickelt, hat ihrem Streben große Ziele ge-
wiesen. Der Sozialismus hat die geistige Wiedergeburt der
Masse der proletarischen Frauen bewirkt und sie dadurch
zweifellos auch zu tüchtigen produktiven Arbeiterinnen für
das Kapital gemacht.

Nach alledem ist die politische Rechtlosigkeit der proletari-
schen Frauen eine um so niederträchtigere Ungerechtigkeit, als
sie bereits eine halbe Lüge geworden ist. Beteiligen sich doch
die Frauen in Massen und aktiv am politischen Leben. Je-
dennoch die Sozialdemokratie kämpft nicht mit dem Argument
der „Ungerechtigkeit“. Der grundlegende Unterschied zwischen
uns und dem früheren sentimentalen utopischen Sozialismus
beruht gerade darauf, daß wir nicht auf die Gerechtigkeit der
herrschenden Klassen, sondern einzig und allein auf die revo-
lutionäre Macht der Arbeitermassen bauen und auf den Gang
der gesellschaftlichen Entwicklung, der jener Macht den Boden
schafft. So ist die Ungerechtigkeit an sich gewiß kein Argu-
ment, um reaktionäre Einrichtungen zu stürzen. Wenn sich
jedoch das Empfinden der Ungerechtigkeit weiter Kreise der
Gesellschaft bemächtigt – sagt Friedrich Engels, der Mitschöpfer
des wissenschaftlichen Sozialismus –, so ist das immer ein
sicheres Zeichen, daß in den wirtschaftlichen Grundlagen der
Gesellschaft weitgehende Verschiebungen Platz gegriffen haben,
daß bestehende Zustände bereits mit dem Fortschritt der Ent-
wicklung in Widerspruch geraten sind. Die jetzige kraftvolle
Bewegung der Millionen proletarischer Frauen, die ihre poli-
tische Rechtlosigkeit als ein schreiendes Unrecht empfinden, ist
ein solches untrügliches Zeichen, daß die gesellschaftlichen Grund-
lagen der bestehenden Staatsverordnung bereits morsch und ihre
Tage gezählt sind.

Einer der ersten großen Verkünder der sozialistischen Jdeale,
der Franzose Charles Fourier, hat vor hundert Jahren die
denkwürdigen Worte geschrieben: Jn jeder Gesellschaft ist der
Grad der weiblichen Emanzipation (Freiheit) das natürliche
Maß der allgemeinen Emanzipation. Das stimmt vollkommen
für die heutige Gesellschaft. Der jetzige Massenkampf um die
politische Gleichberechtigung der Frau ist nur eine Äußerung
und ein Teil des allgemeinen Befreiungskampfes des Prole-
tariats, und darin liegt gerade seine Kraft und seine Zukunft.[Spaltenumbruch] Das allgemeine gleiche, direkte Wahlrecht der Frauen würde
– dank dem weiblichen Proletariat – den proletarischen Klassen-
kampf ungeheuer vorwärts treiben und verschärfen. Deshalb
verabscheut und fürchtet die bürgerliche Gesellschaft das Frauen-
wahlrecht, und deshalb wollen und werden wir es erringen.
Auch durch den Kampf um das Frauenwahlrecht wollen wir
die Stunde beschleunigen, wo die heutige Gesellschaft unter den
Hammerschlägen des revolutionären Proletariats in Trümmer
stürzt.

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[10/0003] Frauenwahlrecht der Roheit und dem Wahnwitz der heutigen kapitalistischen Wirtschaftsverordnung, und diese rohe Wirklichkeit klar und scharf zu erfassen, ist die erste Notwendigkeit für die proletarischen Frauen. Denn gerade von diesem Standpunkte aus ist jetzt der An- spruch der Proletarierinnen auf politische Gleichberechtigung in fester wirtschaftlicher Grundlage verankert. Millionen von prole- tarischen Frauen schaffen heute kapitalistischen Profit gleich Männern – in Fabriken, Werkstätten, in der Landwirtschaft, in der Hausindustrie, in Bureaus, in Läden. Sie sind also produktiv im strengsten wissenschaftlichen Sinne der heutigen Gesellschaft. Jeder Tag vergrößert die Scharen der kapitalistisch ausgebeuteten Frauen, jeder neue Fortschritt in der Jndustrie, in der Technik schafft neuen Platz für Frauen im Getriebe der kapitalistischen Profitmacherei. Und damit fügt jeder Tag und jeder industrielle Fortschritt einen neuen Stein zur festen Grundlage der politischen Gleichberechtigung der Frauen. Für den wirtschaftlichen Mechanismus selbst ist jetzt Schulbildung und geistige Jntelligenz der Frauen notwendig geworden. Die beschränkte weltfremde Frau des altväterlichen „häus- lichen Herdes“ taugt heute so wenig für die Ansprüche der Großindustrie und des Handels wie für die Anforderungen des politischen Lebens. Freilich auch in dieser Beziehung hat der kapitalistische Staat seine Pflichten vernachlässigt. Bis jetzt haben die gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Organi- sationen das meiste und Beste für die geistige und moralische Er- weckung und Schulung der Frauen getan. Wie schon vor Jahr- zehnten in Deutschland die Sozialdemokraten als die tüchtig- sten, intelligentesten Arbeiter bekannt waren, so sind heute die Frauen des Proletariats durch Sozialdemokratie und Gewerk- schaften aus der Stickluft ihres engen Daseins, aus der kümmer- lichen Geistlosigkeit und Kleinlichkeit des häuslichen Waltens emporgehoben worden. Der proletarische Klassenkampf hat ihren Gesichtskreis erweitert, ihren Geist elastisch gemacht, ihr Denkvermögen entwickelt, hat ihrem Streben große Ziele ge- wiesen. Der Sozialismus hat die geistige Wiedergeburt der Masse der proletarischen Frauen bewirkt und sie dadurch zweifellos auch zu tüchtigen produktiven Arbeiterinnen für das Kapital gemacht. Nach alledem ist die politische Rechtlosigkeit der proletari- schen Frauen eine um so niederträchtigere Ungerechtigkeit, als sie bereits eine halbe Lüge geworden ist. Beteiligen sich doch die Frauen in Massen und aktiv am politischen Leben. Je- dennoch die Sozialdemokratie kämpft nicht mit dem Argument der „Ungerechtigkeit“. Der grundlegende Unterschied zwischen uns und dem früheren sentimentalen utopischen Sozialismus beruht gerade darauf, daß wir nicht auf die Gerechtigkeit der herrschenden Klassen, sondern einzig und allein auf die revo- lutionäre Macht der Arbeitermassen bauen und auf den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung, der jener Macht den Boden schafft. So ist die Ungerechtigkeit an sich gewiß kein Argu- ment, um reaktionäre Einrichtungen zu stürzen. Wenn sich jedoch das Empfinden der Ungerechtigkeit weiter Kreise der Gesellschaft bemächtigt – sagt Friedrich Engels, der Mitschöpfer des wissenschaftlichen Sozialismus –, so ist das immer ein sicheres Zeichen, daß in den wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft weitgehende Verschiebungen Platz gegriffen haben, daß bestehende Zustände bereits mit dem Fortschritt der Ent- wicklung in Widerspruch geraten sind. Die jetzige kraftvolle Bewegung der Millionen proletarischer Frauen, die ihre poli- tische Rechtlosigkeit als ein schreiendes Unrecht empfinden, ist ein solches untrügliches Zeichen, daß die gesellschaftlichen Grund- lagen der bestehenden Staatsverordnung bereits morsch und ihre Tage gezählt sind. Einer der ersten großen Verkünder der sozialistischen Jdeale, der Franzose Charles Fourier, hat vor hundert Jahren die denkwürdigen Worte geschrieben: Jn jeder Gesellschaft ist der Grad der weiblichen Emanzipation (Freiheit) das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation. Das stimmt vollkommen für die heutige Gesellschaft. Der jetzige Massenkampf um die politische Gleichberechtigung der Frau ist nur eine Äußerung und ein Teil des allgemeinen Befreiungskampfes des Prole- tariats, und darin liegt gerade seine Kraft und seine Zukunft. Das allgemeine gleiche, direkte Wahlrecht der Frauen würde – dank dem weiblichen Proletariat – den proletarischen Klassen- kampf ungeheuer vorwärts treiben und verschärfen. Deshalb verabscheut und fürchtet die bürgerliche Gesellschaft das Frauen- wahlrecht, und deshalb wollen und werden wir es erringen. Auch durch den Kampf um das Frauenwahlrecht wollen wir die Stunde beschleunigen, wo die heutige Gesellschaft unter den Hammerschlägen des revolutionären Proletariats in Trümmer stürzt. Rosa Luxemburg. ____________________________________________________________

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Zitationshilfe: Luxemburg, Rosa: Frauenwahlrecht und Klassenkampf. In: Frauenwahlrecht! Hrsg. zum Zweiten Sozialdemokratischen Frauentag von Clara Zetkin. 12. Mai 1912, S. 8–10, hier S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/luxemburg_frauenwahlrecht_1912/3>, abgerufen am 26.04.2024.