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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Empfindung.
vollkommener Unverschrtheit in der medulla spinalis und oblongata,
durch ihre Erregung noch Reflexbewegungen einleiten können. Diese
letztere Thatsache, dass Reflex, also eine Verknüpfung der Erregung
von sensiblen und motorischen Nervenröhren, bestehen kann, ohne
dass eine Empfindung daraus wird, widerlegt auch zur Genüge den
Verdacht, als ob das physiologische Zusammenwirken der Nervenröh-
ren im Hirn und Rückenmark die Bedingung der Empfindung sei.
Die Widerlegung dieser letzteren Probabilität musste aber noch aus-
drücklich hervorgehoben werden, weil, wie wir bei den Sinnes-
werkzeugen gesehen haben, mannigfache Akte der Empfindung, z. B.
beim Tasten, dem Sehen in bestimmter Richtung, Entfernung und
Ausdehnung u. s. w. in der That nur unter dem Zusammengreifen
der Erregungszustände eines motorischen und eines sensiblen Nerven
geschehen. Somit muss jenseits der erwähnten Hirnstellen, sei es in
den Lappen oder Commissuren, noch etwas zu dem erregten Nerven
hinzutreten, damit sich die Empfindung bilde. Für die Richtigkeit die-
ser Annahme bürgt uns nun auch die Jedermann bekannte Thatsache,
dass wir den Erregungszustand eines sensiblen Nerven nur so lange
und in dem Grade empfinden, als wir ihm die Aufmerksamkeit zuwen-
den; tausende von Lichtstrahlen die sich zu Bildern auf der Retina ord-
nen, und tausende von Schallwellen die in das Labyrinth unseres Oh-
res dringen, werden von uns nicht gesehen oder gehört, wenn unsre
Aufmerksamkeit mit aller Macht einem ernsten Gedanken, einer schwie-
rigen Muskelbewegung, einer Geschmack- oder Hautempfindung und
dgl. zugewendet ist. --

Die nur um ein Weniges weitergehende Zergliederung der Empfin-
dungsakte gibt nun auch zu erkennen, dass sich jede Empfindung
noch mit etwas ganz besonderem verknüpft, nämlich mit der Vorstel-
lung. Denn niemals empfinden wir den erregten Nerven im Hirn, son-
dern ausserhalb desselben und zwar wie bei allen Sinnen erwähnt
wurde nach gewissen Richtungen und Ausdehnungen hin. Diese un-
ter allen Umständen der Empfindung beigefügten Zusätze können aber
wie es scheint ganz unmöglich begriffen werden aus der Nervener-
regung.

Hält man mit dieser zuletzt hervorgehobenen Thatsache zusam-
men, dass dieselben Erregungszustände der Nerven bei Menschen von
verschiedener Ausbildung Empfindungen von verschiedenen Eigen-
thümlichkeiten erwecken, und gar dass der Mensch im Traum, in der
Trunkenheit, in sogenannten Geisteskrankheiten und dgl. ohne die
entsprechenden Nervenerregungen zu den lebhaftesten Empfindungen
gelangt, die man gemeinhin mit dem Namen der Traumbilder, der Vi-
sionen, Halluzinationen und dgl. belegt, so könnte es fast scheinen
als sei die Empfindung etwas von dem Nerven insofern unabhängi-
ges, als zu ihrer Entstehung die Nervenerregung gar nicht nothwen-

Empfindung.
vollkommener Unverschrtheit in der medulla spinalis und oblongata,
durch ihre Erregung noch Reflexbewegungen einleiten können. Diese
letztere Thatsache, dass Reflex, also eine Verknüpfung der Erregung
von sensiblen und motorischen Nervenröhren, bestehen kann, ohne
dass eine Empfindung daraus wird, widerlegt auch zur Genüge den
Verdacht, als ob das physiologische Zusammenwirken der Nervenröh-
ren im Hirn und Rückenmark die Bedingung der Empfindung sei.
Die Widerlegung dieser letzteren Probabilität musste aber noch aus-
drücklich hervorgehoben werden, weil, wie wir bei den Sinnes-
werkzeugen gesehen haben, mannigfache Akte der Empfindung, z. B.
beim Tasten, dem Sehen in bestimmter Richtung, Entfernung und
Ausdehnung u. s. w. in der That nur unter dem Zusammengreifen
der Erregungszustände eines motorischen und eines sensiblen Nerven
geschehen. Somit muss jenseits der erwähnten Hirnstellen, sei es in
den Lappen oder Commissuren, noch etwas zu dem erregten Nerven
hinzutreten, damit sich die Empfindung bilde. Für die Richtigkeit die-
ser Annahme bürgt uns nun auch die Jedermann bekannte Thatsache,
dass wir den Erregungszustand eines sensiblen Nerven nur so lange
und in dem Grade empfinden, als wir ihm die Aufmerksamkeit zuwen-
den; tausende von Lichtstrahlen die sich zu Bildern auf der Retina ord-
nen, und tausende von Schallwellen die in das Labyrinth unseres Oh-
res dringen, werden von uns nicht gesehen oder gehört, wenn unsre
Aufmerksamkeit mit aller Macht einem ernsten Gedanken, einer schwie-
rigen Muskelbewegung, einer Geschmack- oder Hautempfindung und
dgl. zugewendet ist. —

Die nur um ein Weniges weitergehende Zergliederung der Empfin-
dungsakte gibt nun auch zu erkennen, dass sich jede Empfindung
noch mit etwas ganz besonderem verknüpft, nämlich mit der Vorstel-
lung. Denn niemals empfinden wir den erregten Nerven im Hirn, son-
dern ausserhalb desselben und zwar wie bei allen Sinnen erwähnt
wurde nach gewissen Richtungen und Ausdehnungen hin. Diese un-
ter allen Umständen der Empfindung beigefügten Zusätze können aber
wie es scheint ganz unmöglich begriffen werden aus der Nervener-
regung.

Hält man mit dieser zuletzt hervorgehobenen Thatsache zusam-
men, dass dieselben Erregungszustände der Nerven bei Menschen von
verschiedener Ausbildung Empfindungen von verschiedenen Eigen-
thümlichkeiten erwecken, und gar dass der Mensch im Traum, in der
Trunkenheit, in sogenannten Geisteskrankheiten und dgl. ohne die
entsprechenden Nervenerregungen zu den lebhaftesten Empfindungen
gelangt, die man gemeinhin mit dem Namen der Traumbilder, der Vi-
sionen, Halluzinationen und dgl. belegt, so könnte es fast scheinen
als sei die Empfindung etwas von dem Nerven insofern unabhängi-
ges, als zu ihrer Entstehung die Nervenerregung gar nicht nothwen-

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[441/0455] Empfindung. vollkommener Unverschrtheit in der medulla spinalis und oblongata, durch ihre Erregung noch Reflexbewegungen einleiten können. Diese letztere Thatsache, dass Reflex, also eine Verknüpfung der Erregung von sensiblen und motorischen Nervenröhren, bestehen kann, ohne dass eine Empfindung daraus wird, widerlegt auch zur Genüge den Verdacht, als ob das physiologische Zusammenwirken der Nervenröh- ren im Hirn und Rückenmark die Bedingung der Empfindung sei. Die Widerlegung dieser letzteren Probabilität musste aber noch aus- drücklich hervorgehoben werden, weil, wie wir bei den Sinnes- werkzeugen gesehen haben, mannigfache Akte der Empfindung, z. B. beim Tasten, dem Sehen in bestimmter Richtung, Entfernung und Ausdehnung u. s. w. in der That nur unter dem Zusammengreifen der Erregungszustände eines motorischen und eines sensiblen Nerven geschehen. Somit muss jenseits der erwähnten Hirnstellen, sei es in den Lappen oder Commissuren, noch etwas zu dem erregten Nerven hinzutreten, damit sich die Empfindung bilde. Für die Richtigkeit die- ser Annahme bürgt uns nun auch die Jedermann bekannte Thatsache, dass wir den Erregungszustand eines sensiblen Nerven nur so lange und in dem Grade empfinden, als wir ihm die Aufmerksamkeit zuwen- den; tausende von Lichtstrahlen die sich zu Bildern auf der Retina ord- nen, und tausende von Schallwellen die in das Labyrinth unseres Oh- res dringen, werden von uns nicht gesehen oder gehört, wenn unsre Aufmerksamkeit mit aller Macht einem ernsten Gedanken, einer schwie- rigen Muskelbewegung, einer Geschmack- oder Hautempfindung und dgl. zugewendet ist. — Die nur um ein Weniges weitergehende Zergliederung der Empfin- dungsakte gibt nun auch zu erkennen, dass sich jede Empfindung noch mit etwas ganz besonderem verknüpft, nämlich mit der Vorstel- lung. Denn niemals empfinden wir den erregten Nerven im Hirn, son- dern ausserhalb desselben und zwar wie bei allen Sinnen erwähnt wurde nach gewissen Richtungen und Ausdehnungen hin. Diese un- ter allen Umständen der Empfindung beigefügten Zusätze können aber wie es scheint ganz unmöglich begriffen werden aus der Nervener- regung. Hält man mit dieser zuletzt hervorgehobenen Thatsache zusam- men, dass dieselben Erregungszustände der Nerven bei Menschen von verschiedener Ausbildung Empfindungen von verschiedenen Eigen- thümlichkeiten erwecken, und gar dass der Mensch im Traum, in der Trunkenheit, in sogenannten Geisteskrankheiten und dgl. ohne die entsprechenden Nervenerregungen zu den lebhaftesten Empfindungen gelangt, die man gemeinhin mit dem Namen der Traumbilder, der Vi- sionen, Halluzinationen und dgl. belegt, so könnte es fast scheinen als sei die Empfindung etwas von dem Nerven insofern unabhängi- ges, als zu ihrer Entstehung die Nervenerregung gar nicht nothwen-

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/455>, abgerufen am 26.04.2024.