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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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§ 6. Die souveräne Staatsgewalt.

1. Die Handlungsfähigkeit des unter der Oberherrlichkeit eines
andern Staates stehenden Staates (auch wohl unzutreffend "Vasallen-
staat" genannt) ist insoweit ausgeschlossen (und insoweit ist dieser
Staat nicht souverän), als das Recht des oberherrlichen Staates reicht,
ihn in völkerrechtlichen Beziehungen, insbesondere im diplomatischen
Verkehr, beim Abschluss von Verträgen, in der Kriegführung und
im Friedensschlusse zu vertreten. Soweit dagegen trotz der Ober-
herrlichkeit eines andern Staates für den Vasallenstaat die Möglich-
keit besteht, durch eigne Handlungen sich zu berechtigen und zu ver-
pflichten, soweit besitzt er völkerrechtliche Handlungsfähigkeit, und
ebensoweit auch ist er völkerrechtliches Rechtssubjekt, ist er souverän.
Man pflegt diese eigenartige Rechtsstellung, in welcher die Souveräni-
tät nach gewissen Richtungen hin ausgeschlossen, nach andern da-
gegen vorhanden ist, mit dem nicht sehr glücklichen Ausdruck "Halb-
souveränität" zu bezeichnen.

Es handelt sich hier um eine geschichtliche Übergangsstufe
in der Entwicklung, sei es von der völligen Abhängigkeit zur un-
eingeschränkten Selbständigkeit, sei es umgekehrt. Die Rechts-
stellung des halbsouveränen Staates ist daher von Fall zu Fall zu
prüfen und festzustellen. Meist ist die diplomatische Vertretung
dem oberherrlichen Staat vollständig übertragen (Tunis kann Ver-
treter empfangen, aber nicht schicken), das Recht der Kriegführung
auf Verteidigungskrieg beschränkt, das Vertragsrecht dagegen in
nicht rein politischen Beziehungen eingeräumt. So sind an Han-
delsverträgen, Litterarkonventionen, am Weltpostverein, an Eisenbahn-
und Telegraphen-Übereinkommen auch die halbsouveränen Staaten
regelmässig beteiligt. In diesem Fall kann der halbsouveräne Staat
innerhalb seiner Selbständigkeit selbst mit dem Oberstaat Verträge
schliessen (vgl. das türkisch-bulgarische Eisenbahnübereinkommen
von 1894). Für rechtswidrige Handlungen des halbsouveränen Staates
haftet der Oberstaat uneingeschränkt (unten § 24). Wie weit dagegen
der Einfluss des Oberstaates auf die innere Verwaltung des halbsouve-
ränen Staates reicht, hängt von den besondern Vereinbarungen
ab, wenn auch ein gewisser Einfluss schon durch die völkerrecht-
liche Vertretung unvermeidlich gemacht wird. Nicht erforderlich
ist die Verpflichtung des halbsouveränen Staates zur Waffenhilfe

§ 6. Die souveräne Staatsgewalt.

1. Die Handlungsfähigkeit des unter der Oberherrlichkeit eines
andern Staates stehenden Staates (auch wohl unzutreffend „Vasallen-
staat“ genannt) ist insoweit ausgeschlossen (und insoweit ist dieser
Staat nicht souverän), als das Recht des oberherrlichen Staates reicht,
ihn in völkerrechtlichen Beziehungen, insbesondere im diplomatischen
Verkehr, beim Abschluſs von Verträgen, in der Kriegführung und
im Friedensschlusse zu vertreten. Soweit dagegen trotz der Ober-
herrlichkeit eines andern Staates für den Vasallenstaat die Möglich-
keit besteht, durch eigne Handlungen sich zu berechtigen und zu ver-
pflichten, soweit besitzt er völkerrechtliche Handlungsfähigkeit, und
ebensoweit auch ist er völkerrechtliches Rechtssubjekt, ist er souverän.
Man pflegt diese eigenartige Rechtsstellung, in welcher die Souveräni-
tät nach gewissen Richtungen hin ausgeschlossen, nach andern da-
gegen vorhanden ist, mit dem nicht sehr glücklichen Ausdruck „Halb-
souveränität“ zu bezeichnen.

Es handelt sich hier um eine geschichtliche Übergangsstufe
in der Entwicklung, sei es von der völligen Abhängigkeit zur un-
eingeschränkten Selbständigkeit, sei es umgekehrt. Die Rechts-
stellung des halbsouveränen Staates ist daher von Fall zu Fall zu
prüfen und festzustellen. Meist ist die diplomatische Vertretung
dem oberherrlichen Staat vollständig übertragen (Tunis kann Ver-
treter empfangen, aber nicht schicken), das Recht der Kriegführung
auf Verteidigungskrieg beschränkt, das Vertragsrecht dagegen in
nicht rein politischen Beziehungen eingeräumt. So sind an Han-
delsverträgen, Litterarkonventionen, am Weltpostverein, an Eisenbahn-
und Telegraphen-Übereinkommen auch die halbsouveränen Staaten
regelmäſsig beteiligt. In diesem Fall kann der halbsouveräne Staat
innerhalb seiner Selbständigkeit selbst mit dem Oberstaat Verträge
schlieſsen (vgl. das türkisch-bulgarische Eisenbahnübereinkommen
von 1894). Für rechtswidrige Handlungen des halbsouveränen Staates
haftet der Oberstaat uneingeschränkt (unten § 24). Wie weit dagegen
der Einfluſs des Oberstaates auf die innere Verwaltung des halbsouve-
ränen Staates reicht, hängt von den besondern Vereinbarungen
ab, wenn auch ein gewisser Einfluſs schon durch die völkerrecht-
liche Vertretung unvermeidlich gemacht wird. Nicht erforderlich
ist die Verpflichtung des halbsouveränen Staates zur Waffenhilfe

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[31/0053] § 6. Die souveräne Staatsgewalt. 1. Die Handlungsfähigkeit des unter der Oberherrlichkeit eines andern Staates stehenden Staates (auch wohl unzutreffend „Vasallen- staat“ genannt) ist insoweit ausgeschlossen (und insoweit ist dieser Staat nicht souverän), als das Recht des oberherrlichen Staates reicht, ihn in völkerrechtlichen Beziehungen, insbesondere im diplomatischen Verkehr, beim Abschluſs von Verträgen, in der Kriegführung und im Friedensschlusse zu vertreten. Soweit dagegen trotz der Ober- herrlichkeit eines andern Staates für den Vasallenstaat die Möglich- keit besteht, durch eigne Handlungen sich zu berechtigen und zu ver- pflichten, soweit besitzt er völkerrechtliche Handlungsfähigkeit, und ebensoweit auch ist er völkerrechtliches Rechtssubjekt, ist er souverän. Man pflegt diese eigenartige Rechtsstellung, in welcher die Souveräni- tät nach gewissen Richtungen hin ausgeschlossen, nach andern da- gegen vorhanden ist, mit dem nicht sehr glücklichen Ausdruck „Halb- souveränität“ zu bezeichnen. Es handelt sich hier um eine geschichtliche Übergangsstufe in der Entwicklung, sei es von der völligen Abhängigkeit zur un- eingeschränkten Selbständigkeit, sei es umgekehrt. Die Rechts- stellung des halbsouveränen Staates ist daher von Fall zu Fall zu prüfen und festzustellen. Meist ist die diplomatische Vertretung dem oberherrlichen Staat vollständig übertragen (Tunis kann Ver- treter empfangen, aber nicht schicken), das Recht der Kriegführung auf Verteidigungskrieg beschränkt, das Vertragsrecht dagegen in nicht rein politischen Beziehungen eingeräumt. So sind an Han- delsverträgen, Litterarkonventionen, am Weltpostverein, an Eisenbahn- und Telegraphen-Übereinkommen auch die halbsouveränen Staaten regelmäſsig beteiligt. In diesem Fall kann der halbsouveräne Staat innerhalb seiner Selbständigkeit selbst mit dem Oberstaat Verträge schlieſsen (vgl. das türkisch-bulgarische Eisenbahnübereinkommen von 1894). Für rechtswidrige Handlungen des halbsouveränen Staates haftet der Oberstaat uneingeschränkt (unten § 24). Wie weit dagegen der Einfluſs des Oberstaates auf die innere Verwaltung des halbsouve- ränen Staates reicht, hängt von den besondern Vereinbarungen ab, wenn auch ein gewisser Einfluſs schon durch die völkerrecht- liche Vertretung unvermeidlich gemacht wird. Nicht erforderlich ist die Verpflichtung des halbsouveränen Staates zur Waffenhilfe

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/53>, abgerufen am 26.04.2024.