Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite
II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
§ 16. Die Organe der Völkerrechtsgemeinschaft.
I.

Da es heute noch an einer ständigen und allgemeinen Organi-
sation der Völkerrechtsgemeinschaft fehlt, so giebt es auch keine stän-
digen und allgemeinen Vertreter dieser Gemeinschaft. Das Staatsober-
haupt, der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, der Gesandte,
der Konsul, der Kommissar -- sie alle vertreten nur den einzelnen
Staat in seinem völkerrechtlichen Verkehr mit den übrigen Staaten,
niemals die Gesamtheit dieser Staaten; sie sind im strengen Sinne
des Wortes durchaus nationale Organe für den internationalen Ver-
kehr, nicht aber internationale Organe.

Zur Beratung und Entscheidung über Angelegenheiten von ge-
meinsamem Interesse, mögen diese politischer oder technisch-admi-
nistrativer Natur sein, treten die Abgesandten der einzelnen Staaten
zu besonderen, nur zu diesem Zweck einberufenen Versammlungen zu-
sammen. Diese Versammlungen heissen Kongresse oder Konferenzen,
ohne dass zwischen diesen beiden Ausdrücken ein streng festgehaltener
Unterschied bestände, obwohl im allgemeinen die Verhandlungen über
die grossen politischen Fragen als Kongresse, die weniger feierlichen,
meist nur durch Kommissare beschickten Verhandlungen über tech-
nisch-administrative Fragen als Konferenzen bezeichnet zu werden
pflegen. Auf Kongressen wie auf Konferenzen können Beschlüsse nur
mit Stimmeneinhelligkeit gefasst werden; die Möglichkeit, überstimmt
zu werden, würde als unerträgliche Gefährdung der nationalen Selb-
ständigkeit erscheinen.

Bei Gründung der Heiligen Allianz (oben § 3 III) waren regel-
mässige, in bestimmten Zeiträumen abzuhaltende Kongresse der
beteiligten Staaten in Aussicht genommen worden. Diese hätten
wohl den Keim abgeben können zu einem Völkerareopag und da-
mit zu einer rechtlichen Organisation der Völkerrechtsgemeinschaft.
Aber schon nach wenig Jahren hatten die Kongresse der Heiligen
Allianz ein unrühmliches Ende gefunden. Seitdem hat der Ge-
danke einer ständigen oder doch von Zeit zu Zeit sich versammeln-
den Staatenvertretung nur in den Utopieen derjenigen Schriftsteller
eine Rolle gespielt, die von dem Staatenstaat (oben § 1 I) träumten.

II.

Dennoch hat die Entwicklung des Staatenverkehrs in diesem
Jahrhundert und zwar insbesondere in den letzten Jahrzehnten stän-
dige Staatenvertretungen ins Leben gerufen, die zur Verwaltung ab-

II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
§ 16. Die Organe der Völkerrechtsgemeinschaft.
I.

Da es heute noch an einer ständigen und allgemeinen Organi-
sation der Völkerrechtsgemeinschaft fehlt, so giebt es auch keine stän-
digen und allgemeinen Vertreter dieser Gemeinschaft. Das Staatsober-
haupt, der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, der Gesandte,
der Konsul, der Kommissar — sie alle vertreten nur den einzelnen
Staat in seinem völkerrechtlichen Verkehr mit den übrigen Staaten,
niemals die Gesamtheit dieser Staaten; sie sind im strengen Sinne
des Wortes durchaus nationale Organe für den internationalen Ver-
kehr, nicht aber internationale Organe.

Zur Beratung und Entscheidung über Angelegenheiten von ge-
meinsamem Interesse, mögen diese politischer oder technisch-admi-
nistrativer Natur sein, treten die Abgesandten der einzelnen Staaten
zu besonderen, nur zu diesem Zweck einberufenen Versammlungen zu-
sammen. Diese Versammlungen heiſsen Kongresse oder Konferenzen,
ohne daſs zwischen diesen beiden Ausdrücken ein streng festgehaltener
Unterschied bestände, obwohl im allgemeinen die Verhandlungen über
die groſsen politischen Fragen als Kongresse, die weniger feierlichen,
meist nur durch Kommissare beschickten Verhandlungen über tech-
nisch-administrative Fragen als Konferenzen bezeichnet zu werden
pflegen. Auf Kongressen wie auf Konferenzen können Beschlüsse nur
mit Stimmeneinhelligkeit gefaſst werden; die Möglichkeit, überstimmt
zu werden, würde als unerträgliche Gefährdung der nationalen Selb-
ständigkeit erscheinen.

Bei Gründung der Heiligen Allianz (oben § 3 III) waren regel-
mäſsige, in bestimmten Zeiträumen abzuhaltende Kongresse der
beteiligten Staaten in Aussicht genommen worden. Diese hätten
wohl den Keim abgeben können zu einem Völkerareopag und da-
mit zu einer rechtlichen Organisation der Völkerrechtsgemeinschaft.
Aber schon nach wenig Jahren hatten die Kongresse der Heiligen
Allianz ein unrühmliches Ende gefunden. Seitdem hat der Ge-
danke einer ständigen oder doch von Zeit zu Zeit sich versammeln-
den Staatenvertretung nur in den Utopieen derjenigen Schriftsteller
eine Rolle gespielt, die von dem Staatenstaat (oben § 1 I) träumten.

II.

Dennoch hat die Entwicklung des Staatenverkehrs in diesem
Jahrhundert und zwar insbesondere in den letzten Jahrzehnten stän-
dige Staatenvertretungen ins Leben gerufen, die zur Verwaltung ab-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0114" n="92"/>
          <fw place="top" type="header">II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.</fw><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">§ 16. Die Organe der Völkerrechtsgemeinschaft.</hi> </head><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b">I.</hi> </head>
              <p> <hi rendition="#b">Da es heute noch an einer ständigen und allgemeinen Organi-<lb/>
sation der Völkerrechtsgemeinschaft fehlt, so giebt es auch keine stän-<lb/>
digen und allgemeinen Vertreter dieser Gemeinschaft. Das Staatsober-<lb/>
haupt, der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, der Gesandte,<lb/>
der Konsul, der Kommissar &#x2014; sie alle vertreten nur den einzelnen<lb/>
Staat in seinem völkerrechtlichen Verkehr mit den übrigen Staaten,<lb/>
niemals die Gesamtheit dieser Staaten; sie sind im strengen Sinne<lb/>
des Wortes durchaus nationale Organe für den internationalen Ver-<lb/>
kehr, nicht aber internationale Organe.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#b">Zur Beratung und Entscheidung über Angelegenheiten von ge-<lb/>
meinsamem Interesse, mögen diese politischer oder technisch-admi-<lb/>
nistrativer Natur sein, treten die Abgesandten der einzelnen Staaten<lb/>
zu besonderen, nur zu diesem Zweck einberufenen Versammlungen zu-<lb/>
sammen. Diese Versammlungen hei&#x017F;sen Kongresse oder Konferenzen,<lb/>
ohne da&#x017F;s zwischen diesen beiden Ausdrücken ein streng festgehaltener<lb/>
Unterschied bestände, obwohl im allgemeinen die Verhandlungen über<lb/>
die gro&#x017F;sen politischen Fragen als Kongresse, die weniger feierlichen,<lb/>
meist nur durch Kommissare beschickten Verhandlungen über tech-<lb/>
nisch-administrative Fragen als Konferenzen bezeichnet zu werden<lb/>
pflegen. Auf Kongressen wie auf Konferenzen können Beschlüsse nur<lb/>
mit Stimmeneinhelligkeit gefa&#x017F;st werden; die Möglichkeit, überstimmt<lb/>
zu werden, würde als unerträgliche Gefährdung der nationalen Selb-<lb/>
ständigkeit erscheinen.</hi> </p><lb/>
              <p>Bei Gründung der Heiligen Allianz (oben § 3 III) waren regel-<lb/>&#x017F;sige, in bestimmten Zeiträumen abzuhaltende Kongresse der<lb/>
beteiligten Staaten in Aussicht genommen worden. Diese hätten<lb/>
wohl den Keim abgeben können zu einem Völkerareopag und da-<lb/>
mit zu einer rechtlichen Organisation der Völkerrechtsgemeinschaft.<lb/>
Aber schon nach wenig Jahren hatten die Kongresse der Heiligen<lb/>
Allianz ein unrühmliches Ende gefunden. Seitdem hat der Ge-<lb/>
danke einer ständigen oder doch von Zeit zu Zeit sich versammeln-<lb/>
den Staatenvertretung nur in den Utopieen derjenigen Schriftsteller<lb/>
eine Rolle gespielt, die von dem Staatenstaat (oben § 1 I) träumten.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b">II.</hi> </head>
              <p> <hi rendition="#b">Dennoch hat die Entwicklung des Staatenverkehrs in diesem<lb/>
Jahrhundert und zwar insbesondere in den letzten Jahrzehnten stän-<lb/>
dige Staatenvertretungen ins Leben gerufen, die zur Verwaltung ab-</hi><lb/>
              </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[92/0114] II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen. § 16. Die Organe der Völkerrechtsgemeinschaft. I. Da es heute noch an einer ständigen und allgemeinen Organi- sation der Völkerrechtsgemeinschaft fehlt, so giebt es auch keine stän- digen und allgemeinen Vertreter dieser Gemeinschaft. Das Staatsober- haupt, der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, der Gesandte, der Konsul, der Kommissar — sie alle vertreten nur den einzelnen Staat in seinem völkerrechtlichen Verkehr mit den übrigen Staaten, niemals die Gesamtheit dieser Staaten; sie sind im strengen Sinne des Wortes durchaus nationale Organe für den internationalen Ver- kehr, nicht aber internationale Organe. Zur Beratung und Entscheidung über Angelegenheiten von ge- meinsamem Interesse, mögen diese politischer oder technisch-admi- nistrativer Natur sein, treten die Abgesandten der einzelnen Staaten zu besonderen, nur zu diesem Zweck einberufenen Versammlungen zu- sammen. Diese Versammlungen heiſsen Kongresse oder Konferenzen, ohne daſs zwischen diesen beiden Ausdrücken ein streng festgehaltener Unterschied bestände, obwohl im allgemeinen die Verhandlungen über die groſsen politischen Fragen als Kongresse, die weniger feierlichen, meist nur durch Kommissare beschickten Verhandlungen über tech- nisch-administrative Fragen als Konferenzen bezeichnet zu werden pflegen. Auf Kongressen wie auf Konferenzen können Beschlüsse nur mit Stimmeneinhelligkeit gefaſst werden; die Möglichkeit, überstimmt zu werden, würde als unerträgliche Gefährdung der nationalen Selb- ständigkeit erscheinen. Bei Gründung der Heiligen Allianz (oben § 3 III) waren regel- mäſsige, in bestimmten Zeiträumen abzuhaltende Kongresse der beteiligten Staaten in Aussicht genommen worden. Diese hätten wohl den Keim abgeben können zu einem Völkerareopag und da- mit zu einer rechtlichen Organisation der Völkerrechtsgemeinschaft. Aber schon nach wenig Jahren hatten die Kongresse der Heiligen Allianz ein unrühmliches Ende gefunden. Seitdem hat der Ge- danke einer ständigen oder doch von Zeit zu Zeit sich versammeln- den Staatenvertretung nur in den Utopieen derjenigen Schriftsteller eine Rolle gespielt, die von dem Staatenstaat (oben § 1 I) träumten. II. Dennoch hat die Entwicklung des Staatenverkehrs in diesem Jahrhundert und zwar insbesondere in den letzten Jahrzehnten stän- dige Staatenvertretungen ins Leben gerufen, die zur Verwaltung ab-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/114
Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/114>, abgerufen am 03.12.2024.