Liliencron, Detlev von: Adjutantenritte und andere Gedichte. Leipzig, [1883].II. Herbst. Hoch oben fliegt ein Kranichheer von Norden, Von ihren Flügeln tropft die Abendsonne. Tief unten liegt der Ursulinenorden, Im Klostergarten träumt die alte Nonne. Aus Kirchthürweiten braust es in Accorden Nach oben hoch in tiefer Friedenswonne. Verklungen ... Unten ist es still geworden -- Die greise Nonne betet zur Madonne. (Gnadenort.) Den Eichbaum traf der Blitz aus schwarzen Lüften, Und schlug in tausend Splitter ihn, der wilde. Fünfhundert Jahr zurück: In Waldesgrüften Umschloß Marien er im grünen Schilde. Die Dirne, lebensrot, mit derben Hüften, Kniet schluchzend vor dem Muttergottesbilde, Indess' der Junker lachend in den Klüften Jagt Seit' der blassen Herrin, Frau Wulffhilde. Großmutter wird nun täglich immer schlimmer, Doch zögert noch der Allesüberwinder. Dicht vor dem Spiegel stehn im Nebenzimmer Mamachen und drei hübsche blonde Kinder, Und proben emsig, wie der schwarze Flimmer So reizend putzt als Kleid, als Hut nicht minder. Großmutter stirbt -- es konnte nimmer grimmer Der Damen Trauer sein, das sieht ein Blinder. II. Herbſt. Hoch oben fliegt ein Kranichheer von Norden, Von ihren Flügeln tropft die Abendſonne. Tief unten liegt der Urſulinenorden, Im Kloſtergarten träumt die alte Nonne. Aus Kirchthürweiten brauſt es in Accorden Nach oben hoch in tiefer Friedenswonne. Verklungen … Unten iſt es ſtill geworden — Die greiſe Nonne betet zur Madonne. (Gnadenort.) Den Eichbaum traf der Blitz aus ſchwarzen Lüften, Und ſchlug in tauſend Splitter ihn, der wilde. Fünfhundert Jahr zurück: In Waldesgrüften Umſchloß Marien er im grünen Schilde. Die Dirne, lebensrot, mit derben Hüften, Kniet ſchluchzend vor dem Muttergottesbilde, Indeſſ’ der Junker lachend in den Klüften Jagt Seit’ der blaſſen Herrin, Frau Wulffhilde. Großmutter wird nun täglich immer ſchlimmer, Doch zögert noch der Allesüberwinder. Dicht vor dem Spiegel ſtehn im Nebenzimmer Mamachen und drei hübſche blonde Kinder, Und proben emſig, wie der ſchwarze Flimmer So reizend putzt als Kleid, als Hut nicht minder. Großmutter ſtirbt — es konnte nimmer grimmer Der Damen Trauer ſein, das ſieht ein Blinder. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb n="9" facs="#f0017"/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#aq">II.</hi><lb/> <hi rendition="#b">Herbſt.</hi> </head><lb/> <lg type="poem"> <l>Hoch oben fliegt ein Kranichheer von Norden,</l><lb/> <l>Von ihren Flügeln tropft die Abendſonne.</l><lb/> <l>Tief unten liegt der Urſulinenorden,</l><lb/> <l>Im Kloſtergarten träumt die alte Nonne.</l><lb/> <l>Aus Kirchthürweiten brauſt es in Accorden</l><lb/> <l>Nach oben hoch in tiefer Friedenswonne.</l><lb/> <l>Verklungen … Unten iſt es ſtill geworden —</l><lb/> <l>Die greiſe Nonne betet zur Madonne.</l> </lg> </div> </div><lb/> <milestone unit="section" rendition="#hr"/> <div n="2"> <head>(<hi rendition="#b">Gnadenort.</hi>)</head><lb/> <lg type="poem"> <l>Den Eichbaum traf der Blitz aus ſchwarzen Lüften,</l><lb/> <l>Und ſchlug in tauſend Splitter ihn, der wilde.</l><lb/> <l>Fünfhundert Jahr zurück: In Waldesgrüften</l><lb/> <l>Umſchloß Marien er im grünen Schilde.</l><lb/> <l>Die Dirne, lebensrot, mit derben Hüften,</l><lb/> <l>Kniet ſchluchzend vor dem Muttergottesbilde,</l><lb/> <l>Indeſſ’ der Junker lachend in den Klüften</l><lb/> <l>Jagt Seit’ der blaſſen Herrin, Frau Wulffhilde.</l> </lg><lb/> <milestone unit="section" rendition="#hr"/> <lg type="poem"> <l>Großmutter wird nun täglich immer ſchlimmer,</l><lb/> <l>Doch zögert noch der Allesüberwinder.</l><lb/> <l>Dicht vor dem Spiegel ſtehn im Nebenzimmer</l><lb/> <l>Mamachen und drei hübſche blonde Kinder,</l><lb/> <l>Und proben emſig, wie der ſchwarze Flimmer</l><lb/> <l>So reizend putzt als Kleid, als Hut nicht minder.</l><lb/> <l>Großmutter ſtirbt — es konnte nimmer grimmer</l><lb/> <l>Der Damen Trauer ſein, das ſieht ein Blinder.</l> </lg> </div><lb/> <milestone unit="section" rendition="#hr"/> </div> </body> </text> </TEI> [9/0017]
II.
Herbſt.
Hoch oben fliegt ein Kranichheer von Norden,
Von ihren Flügeln tropft die Abendſonne.
Tief unten liegt der Urſulinenorden,
Im Kloſtergarten träumt die alte Nonne.
Aus Kirchthürweiten brauſt es in Accorden
Nach oben hoch in tiefer Friedenswonne.
Verklungen … Unten iſt es ſtill geworden —
Die greiſe Nonne betet zur Madonne.
(Gnadenort.)
Den Eichbaum traf der Blitz aus ſchwarzen Lüften,
Und ſchlug in tauſend Splitter ihn, der wilde.
Fünfhundert Jahr zurück: In Waldesgrüften
Umſchloß Marien er im grünen Schilde.
Die Dirne, lebensrot, mit derben Hüften,
Kniet ſchluchzend vor dem Muttergottesbilde,
Indeſſ’ der Junker lachend in den Klüften
Jagt Seit’ der blaſſen Herrin, Frau Wulffhilde.
Großmutter wird nun täglich immer ſchlimmer,
Doch zögert noch der Allesüberwinder.
Dicht vor dem Spiegel ſtehn im Nebenzimmer
Mamachen und drei hübſche blonde Kinder,
Und proben emſig, wie der ſchwarze Flimmer
So reizend putzt als Kleid, als Hut nicht minder.
Großmutter ſtirbt — es konnte nimmer grimmer
Der Damen Trauer ſein, das ſieht ein Blinder.
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Zitationshilfe: | Liliencron, Detlev von: Adjutantenritte und andere Gedichte. Leipzig, [1883], S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liliencron_adjutantenritte_1883/17>, abgerufen am 04.03.2025. |