Liliencron, Detlev von: Adjutantenritte und andere Gedichte. Leipzig, [1883].Verrauscht die heiße Zeit der Jugendtage, Verklungen Becherklang und wilde Geigen. Dich lehrte zeitig Hiobs tiefe Klage: Die Thoren schwatzen und die Klugen schweigen. Du legst das Wort vorsichtig auf die Wage, Und mußt der Welt die Heuchelmaske zeigen. Dein Frühling doch -- ach, eine Wundersage, Dir singt kein Vogel mehr in grünen Zweigen. (Sphinx in Rosen.) Aus weißem Stein geformt, im Junigarten, Liegt eine Sphinx, die greulichste der Katzen. Es küssen ihr die zierlichsten Standarten, Die Rosen, windgeschaukelt, leicht die Tatzen. Das Untier schweigt, die Lippen offenbarten Wie schon zu Ramses Zeiten -- leere Fratzen. Und schweigt, und schweigt, und läßt auf Antwort warten -- Im stillen Garten schwatzen nur die Spatzen. (Flüchtiger Gruß.) I. Frühling. Hoch oben fliegt ein Kranichheer nach Norden, Von ihren Flügeln tropft die Morgensonne. Tief unten liegt der Ursulinenorden, Im Klostergarten träumt die alte Nonne. Von oben braust es mächtig in Accorden Nach unten tief in hoher Frühlingswonne. Verflogen ... Oben ist es still geworden -- Die greise Nonne betet zur Madonne. Verrauſcht die heiße Zeit der Jugendtage, Verklungen Becherklang und wilde Geigen. Dich lehrte zeitig Hiobs tiefe Klage: Die Thoren ſchwatzen und die Klugen ſchweigen. Du legſt das Wort vorſichtig auf die Wage, Und mußt der Welt die Heuchelmaske zeigen. Dein Frühling doch — ach, eine Wunderſage, Dir ſingt kein Vogel mehr in grünen Zweigen. (Sphinx in Roſen.) Aus weißem Stein geformt, im Junigarten, Liegt eine Sphinx, die greulichſte der Katzen. Es küſſen ihr die zierlichſten Standarten, Die Roſen, windgeſchaukelt, leicht die Tatzen. Das Untier ſchweigt, die Lippen offenbarten Wie ſchon zu Ramſes Zeiten — leere Fratzen. Und ſchweigt, und ſchweigt, und läßt auf Antwort warten — Im ſtillen Garten ſchwatzen nur die Spatzen. (Flüchtiger Gruß.) I. Frühling. Hoch oben fliegt ein Kranichheer nach Norden, Von ihren Flügeln tropft die Morgenſonne. Tief unten liegt der Urſulinenorden, Im Kloſtergarten träumt die alte Nonne. Von oben brauſt es mächtig in Accorden Nach unten tief in hoher Frühlingswonne. Verflogen … Oben iſt es ſtill geworden — Die greiſe Nonne betet zur Madonne. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb n="8" facs="#f0016"/> <lg type="poem"> <l>Verrauſcht die heiße Zeit der Jugendtage,</l><lb/> <l>Verklungen Becherklang und wilde Geigen.</l><lb/> <l>Dich lehrte zeitig Hiobs tiefe Klage:</l><lb/> <l>Die Thoren ſchwatzen und die Klugen ſchweigen.</l><lb/> <l>Du legſt das Wort vorſichtig auf die Wage,</l><lb/> <l>Und mußt der Welt die Heuchelmaske zeigen.</l><lb/> <l>Dein Frühling doch — ach, eine Wunderſage,</l><lb/> <l>Dir ſingt kein Vogel mehr in grünen Zweigen.</l> </lg> </div><lb/> <milestone unit="section" rendition="#hr"/> <div n="2"> <head>(<hi rendition="#b">Sphinx in Roſen.</hi>)</head><lb/> <lg type="poem"> <l>Aus weißem Stein geformt, im Junigarten,</l><lb/> <l>Liegt eine Sphinx, die greulichſte der Katzen.</l><lb/> <l>Es küſſen ihr die zierlichſten Standarten,</l><lb/> <l>Die Roſen, windgeſchaukelt, leicht die Tatzen.</l><lb/> <l>Das Untier ſchweigt, die Lippen offenbarten</l><lb/> <l>Wie ſchon zu Ramſes Zeiten — leere Fratzen.</l><lb/> <l>Und ſchweigt, und ſchweigt, und läßt auf Antwort warten —</l><lb/> <l>Im ſtillen Garten ſchwatzen nur die Spatzen.</l> </lg> </div><lb/> <milestone unit="section" rendition="#hr"/> <div n="2"> <head>(<hi rendition="#b">Flüchtiger Gruß.</hi>)</head><lb/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#aq">I.</hi><lb/> <hi rendition="#b">Frühling.</hi> </head><lb/> <lg type="poem"> <l>Hoch oben fliegt ein Kranichheer nach Norden,</l><lb/> <l>Von ihren Flügeln tropft die Morgenſonne.</l><lb/> <l>Tief unten liegt der Urſulinenorden,</l><lb/> <l>Im Kloſtergarten träumt die alte Nonne.</l><lb/> <l>Von oben brauſt es mächtig in Accorden</l><lb/> <l>Nach unten tief in hoher Frühlingswonne.</l><lb/> <l>Verflogen … Oben iſt es ſtill geworden —</l><lb/> <l>Die greiſe Nonne betet zur Madonne.</l> </lg> </div><lb/> <milestone unit="section" rendition="#hr"/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [8/0016]
Verrauſcht die heiße Zeit der Jugendtage,
Verklungen Becherklang und wilde Geigen.
Dich lehrte zeitig Hiobs tiefe Klage:
Die Thoren ſchwatzen und die Klugen ſchweigen.
Du legſt das Wort vorſichtig auf die Wage,
Und mußt der Welt die Heuchelmaske zeigen.
Dein Frühling doch — ach, eine Wunderſage,
Dir ſingt kein Vogel mehr in grünen Zweigen.
(Sphinx in Roſen.)
Aus weißem Stein geformt, im Junigarten,
Liegt eine Sphinx, die greulichſte der Katzen.
Es küſſen ihr die zierlichſten Standarten,
Die Roſen, windgeſchaukelt, leicht die Tatzen.
Das Untier ſchweigt, die Lippen offenbarten
Wie ſchon zu Ramſes Zeiten — leere Fratzen.
Und ſchweigt, und ſchweigt, und läßt auf Antwort warten —
Im ſtillen Garten ſchwatzen nur die Spatzen.
(Flüchtiger Gruß.)
I.
Frühling.
Hoch oben fliegt ein Kranichheer nach Norden,
Von ihren Flügeln tropft die Morgenſonne.
Tief unten liegt der Urſulinenorden,
Im Kloſtergarten träumt die alte Nonne.
Von oben brauſt es mächtig in Accorden
Nach unten tief in hoher Frühlingswonne.
Verflogen … Oben iſt es ſtill geworden —
Die greiſe Nonne betet zur Madonne.
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Zitationshilfe: | Liliencron, Detlev von: Adjutantenritte und andere Gedichte. Leipzig, [1883], S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liliencron_adjutantenritte_1883/16>, abgerufen am 04.03.2025. |