Hamburgische Dramaturgie. Zwey und vierzigstes Stück.
Den 22sten September, 1767.
Es ist nicht zu leugnen, daß ein guter Theil der Fehler, welche Voltaire als Eigen- thümlichkeiten des italienischen Geschmacks nur deswegen an seinem Vorgänger zu entschul- digen scheinet, um sie der italienischen Nation überhaupt zur Last zu legen, daß, sage ich, die- se, und noch mehrere, und noch größere, sich in der Merope des Maffei befinden. Maffei hatte in seiner Jugend viel Neigung zur Poesie; er machte mit vieler Leichtigkeit Verse, in allen verschiednen Stilen der berühmtesten Dichter seines Landes: doch diese Neigung und diese Leichtigkeit beweisen für das eigentliche Genie, welches zur Tragödie erfodert wird, wenig oder nichts. Hernach legte er sich auf die Geschichte, auf Kritik und Alterthümer; und ich zweifle, ob diese Studien die rechte Nahrung für das tragi- sche Genie sind. Er war unter Kirchenväter
und
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Hamburgiſche Dramaturgie. Zwey und vierzigſtes Stuͤck.
Den 22ſten September, 1767.
Es iſt nicht zu leugnen, daß ein guter Theil der Fehler, welche Voltaire als Eigen- thuͤmlichkeiten des italieniſchen Geſchmacks nur deswegen an ſeinem Vorgaͤnger zu entſchul- digen ſcheinet, um ſie der italieniſchen Nation uͤberhaupt zur Laſt zu legen, daß, ſage ich, die- ſe, und noch mehrere, und noch groͤßere, ſich in der Merope des Maffei befinden. Maffei hatte in ſeiner Jugend viel Neigung zur Poeſie; er machte mit vieler Leichtigkeit Verſe, in allen verſchiednen Stilen der beruͤhmteſten Dichter ſeines Landes: doch dieſe Neigung und dieſe Leichtigkeit beweiſen fuͤr das eigentliche Genie, welches zur Tragoͤdie erfodert wird, wenig oder nichts. Hernach legte er ſich auf die Geſchichte, auf Kritik und Alterthuͤmer; und ich zweifle, ob dieſe Studien die rechte Nahrung fuͤr das tragi- ſche Genie ſind. Er war unter Kirchenvaͤter
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Hamburgiſche
Dramaturgie.
Zwey und vierzigſtes Stuͤck.
Den 22ſten September, 1767.
Es iſt nicht zu leugnen, daß ein guter Theil
der Fehler, welche Voltaire als Eigen-
thuͤmlichkeiten des italieniſchen Geſchmacks
nur deswegen an ſeinem Vorgaͤnger zu entſchul-
digen ſcheinet, um ſie der italieniſchen Nation
uͤberhaupt zur Laſt zu legen, daß, ſage ich, die-
ſe, und noch mehrere, und noch groͤßere, ſich
in der Merope des Maffei befinden. Maffei
hatte in ſeiner Jugend viel Neigung zur Poeſie;
er machte mit vieler Leichtigkeit Verſe, in allen
verſchiednen Stilen der beruͤhmteſten Dichter
ſeines Landes: doch dieſe Neigung und dieſe
Leichtigkeit beweiſen fuͤr das eigentliche Genie,
welches zur Tragoͤdie erfodert wird, wenig oder
nichts. Hernach legte er ſich auf die Geſchichte,
auf Kritik und Alterthuͤmer; und ich zweifle, ob
dieſe Studien die rechte Nahrung fuͤr das tragi-
ſche Genie ſind. Er war unter Kirchenvaͤter
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. [329]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/343>, abgerufen am 21.11.2024.
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