Hamburgische Dramaturgie. Vier und zwanzigstes Stück.
Den 21sten Julius, 1767.
Wenn der Charakter der Elisabeth des Cor- neille das poetische Ideal von dem wah- ren Charakter ist, den die Geschichte der Königinn dieses Namens beylegt; wenn wir in ihr die Unentschlüßigkeit, die Widersprüche, die Beängstigung, die Reue, die Verzweiflung, in die ein stolzes und zärtliches Herz, wie das Herz der Elisabeth, ich will nicht sagen, bey die- sen und jenen Umständen wirklich verfallen ist, sondern auch nur verfallen zu können vermuthen lassen, mit wahren Farben geschildert finden: so hat der Dichter alles gethan, was ihm als Dichter zu thun obliegt. Sein Werk, mit der Chronologie in der Hand, untersuchen; ihn vor den Richterstuhl der Geschichte führen, um ihn da jedes Datum, jede beyläufige Erwähnung, auch wohl solcher Personen, über welche die Ge- schichte selbst in Zweifel ist, mit Zeugnissen be-
legen
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Hamburgiſche Dramaturgie. Vier und zwanzigſtes Stuͤck.
Den 21ſten Julius, 1767.
Wenn der Charakter der Eliſabeth des Cor- neille das poetiſche Ideal von dem wah- ren Charakter iſt, den die Geſchichte der Koͤniginn dieſes Namens beylegt; wenn wir in ihr die Unentſchluͤßigkeit, die Widerſpruͤche, die Beaͤngſtigung, die Reue, die Verzweiflung, in die ein ſtolzes und zaͤrtliches Herz, wie das Herz der Eliſabeth, ich will nicht ſagen, bey die- ſen und jenen Umſtaͤnden wirklich verfallen iſt, ſondern auch nur verfallen zu koͤnnen vermuthen laſſen, mit wahren Farben geſchildert finden: ſo hat der Dichter alles gethan, was ihm als Dichter zu thun obliegt. Sein Werk, mit der Chronologie in der Hand, unterſuchen; ihn vor den Richterſtuhl der Geſchichte fuͤhren, um ihn da jedes Datum, jede beylaͤufige Erwaͤhnung, auch wohl ſolcher Perſonen, uͤber welche die Ge- ſchichte ſelbſt in Zweifel iſt, mit Zeugniſſen be-
legen
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Hamburgiſche
Dramaturgie.
Vier und zwanzigſtes Stuͤck.
Den 21ſten Julius, 1767.
Wenn der Charakter der Eliſabeth des Cor-
neille das poetiſche Ideal von dem wah-
ren Charakter iſt, den die Geſchichte der
Koͤniginn dieſes Namens beylegt; wenn wir in
ihr die Unentſchluͤßigkeit, die Widerſpruͤche, die
Beaͤngſtigung, die Reue, die Verzweiflung,
in die ein ſtolzes und zaͤrtliches Herz, wie das
Herz der Eliſabeth, ich will nicht ſagen, bey die-
ſen und jenen Umſtaͤnden wirklich verfallen iſt,
ſondern auch nur verfallen zu koͤnnen vermuthen
laſſen, mit wahren Farben geſchildert finden:
ſo hat der Dichter alles gethan, was ihm als
Dichter zu thun obliegt. Sein Werk, mit der
Chronologie in der Hand, unterſuchen; ihn vor
den Richterſtuhl der Geſchichte fuͤhren, um ihn
da jedes Datum, jede beylaͤufige Erwaͤhnung,
auch wohl ſolcher Perſonen, uͤber welche die Ge-
ſchichte ſelbſt in Zweifel iſt, mit Zeugniſſen be-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. [185]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/199>, abgerufen am 21.11.2024.
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